Auch Lern-Management-Systeme haben nur begrenzte Zauberkraft
Dienen Lern-Management-Systeme bloss zur Verwaltung des Wissens oder fördern sie darüber hinaus auch den Wissenserwerb? Nachdem die Technik bereits weit fortgeschritten ist, sind heute Didaktik und Inhalt stärker gefragt. Ein guter Zeitpunkt für HR-Verantwortliche, ihre Anliegen ins Spiel zu bringen und in Kooperation mit der IT-Abteilung umzusetzen.
Bild: Tanja da Silva
Seit es Schüler und Lehrer gibt, gibt es auch den Traum vom mühelosen Lernen – beredtes Zeugnis dieser Sehnsucht ist das Märchen vom Nürnberger Trichter, der alles Wissenswerte bekömmlich zubereitet und es den Lernenden eben «eintrichtert». Wie die hohen Erwartungen an neue Lernmedien jeweils zeigen, ist dieser Traum auch im Hightech-Zeitalter noch nicht ausgeträumt: «Im Bereich des E-Learnings gibt es viele Mythen», konstatiert etwa Matthias Langenbacher, Schweizer Vertriebsleiter bei IMC, einem der weltgrössten Anbieter von Lern-Management-Systemen (LMS), und stellt klar: «Spricht man heute von E-Learning, sind meistens Werkzeuge gemeint.» Bei den LMS handelt es sich um Werkzeuge, an deren Funktionsweise in den letzten Jahren merklich gearbeitet wurde. Genauso wie viele andere Softwareanwendungen haben die LMS ihre Kinderkrankheiten mehrheitlich überwunden. Und: Sie sind zugleich erschwinglich geworden. Die komplexen Systeme sind nicht mehr ausschliesslich Gross-unternehmen vorbehalten, sondern kommen auch für KMU in Griffnähe. Für die HR-Verantwortlichen eine gute Chance, ihre Bedürfnisse in Sachen «Lernende Organisation» gegenüber Geschäftsleitung, Finanz- und IT-Abteilung einzubringen.
Was bieten LMS – und was sollten sie bieten?
Welchen konkreten Nutzen ein LMS bringen kann, schildert Matthias Langenbacher am Beispiel der UBS, eines der wichtigsten Kunden von IMC: «Wenn 55000 Mitarbeitende in den neuen Compliance-Rules geschult werden sollen, müssen die Abläufe und die Workflows auf der Toolebene richtig ablaufen. Wer meldet sich wie zum Kurs an? Wie wird die Zustimmung des Vorgesetzten eingeholt? Wo und wie wird das Kurszertifikat archiviert?» Überall dort, wo innert kurzer Zeit ganze Arbeitsteams auf einen neuen Wissensstand gebracht werden müssen, leisten LMS bei der Planung, Steuerung, Analyse und Bewertung der Bildungs- und Trainingsmassnahmen gute Dienste. Meist sogar verbunden mit Kosteneinsparungen.
Lernplattform bei Swiss Life
«Wer hat welches Zertifikat schon gemacht, bei wem steht es noch an? Bei mehreren Tausend Mitarbeitenden sind solche Aufgaben mit herkömmlichen Mitteln wie etwa einer Excel-Tabelle gar nicht mehr zu bewältigen», bestätigt Christian Pfund, Leiter E-Learning bei Swiss Life. Auch bei diesem Versicherungskonzern ist die Anpassung an die neuen Compliance-Regelungen mit erheblichem Schulungsaufwand verbunden: Sämtliche Mitarbeitende – inklusive Aussendienst – der Schweiz und von Liechtenstein, also rund 4000 Personen, gilt es diesbezüglich auf dem neusten Stand zu halten. Die Zentralisierung der Weiterbildung war deshalb eines der erklärten Ziele bei der Einführung der neuen Konzern-Lernplattform «Life Learn»: «Die Mitarbeitenden sollten eine einzige Anlaufstelle haben.» «Life Learn» deckt alle klassischen und modernen Lehr- und Lernformen wie etwa Blended-Learning-Massnahmen, Präsenzveranstaltungen, Online-Massnahmen, Selbststudium und informelles Lernen ab.
Kulturwandel: Voraussetzung und Folge
«Das LMS ist da, die Fachleute sind da – wie ist es aber mit den Rahmenbedingungen, damit Lernen im Unternehmen überhaupt stattfinden kann?» Matthias Vatter, Mitglied der Geschäftsleitung von LerNetz AG, einem Netzwerk von Fachleuten, die didaktische Konzepte und Lösungen für das Lernen mit (elektronischen) Medien anbieten, hält den Finger auf den wunden Punkt aller Lern-Systeme: «Aus unserer Sicht wird trotz aller Lippenbekenntnisse immer noch viel zu wenig auf Inhalt und Didaktik geachtet.» Insbesondere wenn – wie im Bildungsbereich so oft – die Unternehmen zwar investieren, gleichzeitig aber doch auch sparen möchten. Eine Folge dieser Halbherzigkeit sei, dass LMS lediglich als Informationsverteilungs- oder Ablagesysteme benutzt werden.
«Wie verwalten wir?» statt «Wie lernen wir?»
Vatters Ansicht nach beschäftigen sich Unternehmen zu ausführlich mit der Frage der richtigen Organisationssysteme und zu wenig mit der Frage, wie und unter welchen Umständen die Inhalte didaktisch vermittelt werden sollten. Was soll gelernt werden? Welche Rahmenbedingungen braucht es dazu? Wo findet das Lernen statt, zu Hause oder im Grossraumbüro? Wer betreut die Lernenden? Gilt Lernen im Unternehmen als Arbeitszeit oder hat es in der Freizeit stattzufinden? «Das Hauptproblem beim LMS ist», kritisiert Vatter darüber hinaus, «dass mittels Trackingfunktionen vorgegaukelt werden kann, der Lernprozess der Mitarbeitenden sei verfolg- und nachprüfbar.»
Ein Trugschluss, meint er: «Die Systemmeldung alleine, dass Mitarbeiter X oder Lehrling Y den Online-Kurs mit 56 Punkten abgeschlossen hat, lässt nicht darauf schliessen, dass er die Inhalte auch gelernt hat und umsetzen wird. Durchgeklickt ist eben nicht gelernt.» Womit Vatter allerdings weniger ein Dilemma der LMS als vielmehr eines aller Lehrveranstaltungen anspricht, lässt sich doch auch ein Präsenzworkshop problemlos mittels rein physischer Anwesenheit «durchschlafen». «Es gibt Methoden», widerspricht Vatter, «mit denen sich der Lernfortschritt messen lässt. Bloss werden sie so gut wie nie angewendet. Hier gäbe es auch noch einiges zu erforschen – allerdings investieren auch die Hochschulen ihre Ressourcen lieber in die Entwicklung von LMS.»
E-Learning-Leiter Christian Pfund stimmt der Kritik aus der Didaktik-Ecke grundsätzlich zu: «Machen wir uns nichts vor, ein LMS ist und bleibt ein Hilfsmittel.» Die Voraussetzung dafür, dass es ein Lerninstrument werden könne, sei ein umfassender Kulturwandel im Unternehmen, eine neue Haltung gegenüber dem Lernen «und somit natürlich nicht von einem Tag auf den anderen zu bewerkstelligen». So brächten etwa nicht alle Mitarbeitenden die hohe Eigenkompetenz beim Lernen mit, die ein LMS fordere. «Bei vielen geht das problemlos, andere brauchen Unterstützung, etwa in Form detaillierter Schritt-für-Schritt-Anleitungen oder geführter Online-Touren», weiss Pfund aus Erfahrung. Für die Trainer sei die Arbeit in methodisch-didaktischer Hinsicht anspruchsvoller geworden. So müssten sie heute etwa genau prüfen, welcher Teilnehmer einer Präsenzveranstaltung welche Inhalte eines Kurses bereits im Vorfeld selbständig erarbeitet habe. «Schliesslich kann nicht noch einmal präsentiert werden, was bereits im Webbased-Training abgehandelt wurde.»
Ressourcen müssen vorhanden sein
Im Gespräch mit dem Praktiker wird klar: Selbst das komfortabelste LMS setzt unternehmensinterne Ressourcen voraus. Dennoch habe sich die Investition in «Life Learn» auf jeden Fall gelohnt, betont Christian Pfund. Auch seien die bisherigen Erfahrungen mit der Lernplattform durchaus erfreulich. Vielleicht deshalb, weil man sich im Versicherungskonzern genügend Zeit für die Evaluation der richtigen Lösung genommen hat – und sich heute noch nimmt, schliesslich ist das unternehmensweite Lernen auch mit der Ins-tallation einer Lernplattform nie ein für allemal umgesetzt. «Life Learn» biete bisher etwa kaum Kollaborationsfunktionen oder Social- Networking-Möglichkeiten– einfach deshalb, weil die internen Communities und Foren bisher zu wenig Aufmerksamkeit erhalten hätten, sowohl von Seiten des Betriebs als auch der Nutzer. Experten betonen denn auch: Die Betreuung solcher Funktionen erfordert beträchtliche Mittel an Zeit und Arbeitskraft.
Unüberwindliche Gräben zwischen IT und HR?
Ebenfalls kritisch kommentiert wird von Fachleuten die Zusammenarbeit zwischen der HR- und der IT-Abteilung. Bei der Einführung eines so komplexen Werkzeugs wie eines LMS sind Kenntnisse aus beiden Fachrichtungen nötig, damit dessen Funktionen und Möglichkeiten überhaupt optimal eingesetzt werden können. Wer hat das letzte Wort in Budgetfragen? Was wird geopfert, wenn klar wird, dass gewisse Testformen mit der angestrebten Lösung gar nicht umsetzbar sind? Bei Swiss Life begegne man dieser Problematik, indem man der Tatsache Rechnung trage, dass E-Learning tatsächlich zwei Seiten, nämlich eine technische und eine didaktische, habe. Für das LMS verantwortlich sind deshalb zwei Fachpersonen gemeinsam, eine aus dem HR- und die andere aus dem IT-Bereich.
Wie dies konkret aussieht, erklärt Pfund, einer dieser beiden Fachleute, so: «Wir sind in sehr engem Kontakt und bei den meisten Sitzungen gemeinsam präsent.» Zwar versuche sich die IT-Abteilung grundsätzlich nach den Bedürfnissen des Business zu richten, habe jedoch bei Entscheidungen, die die Technik betreffen, ein Vetorecht. Ausschlaggebend für den Erfolg ist für Pfund aber die Art und Weise, wie miteinander umgegangen und diskutiert wird: «Man muss sich wirklich anstrengen und einander einbeziehen. Der Wille zur Kooperation muss auf beiden Seiten vorhanden sein.»
Die technische Seite: Inhouse oder Produkt ab der Stange? Lizenz oder Open Source
Selber machen oder kaufen? Ein Produkt ab der Stange oder eines, bei dem eine Open-Source-Quelle benutzt wird? In Bezug auf die ideale Herkunft des Systems sind sich die Experten uneins. Open-Source-Systeme wie beispielsweise Moodle oder Olat seien so weit entwickelt, dass der Kauf oder die Lizenz eines proprietären Systems eigentlich obsolet sei, behaupten die einen. Für «etwas voreilig» hält Matthias Langenbacher, Vertriebsleiter Schweiz von IMC, diese Ansicht. «Selbst wer sich ein Moodle aus dem Internet herunterlädt, muss es doch an die eigenen Bedürfnisse anpassen und in die eigene Architektur einbinden», erklärt er, «was ebenfalls Kosten verursacht und interne Ressourcen voraussetzt.» Ohnehin gehe die Tendenz weg von den Lizenzen zu Mietlösungen, die sich heute sogar für kleine und mittlere Unternehmen rechneten. «Ab etwa fünf Franken pro User und Monat ist man dabei.» Der IMC-Kunde Swiss Life hat sich gemäss E-Learning-Leiter Christian Pfund im Zusammenhang mit der Konzernplattform «Life Learn» bewusst für das Standardprodukt Clix entschieden: «Aus Kostengründen und nach unbefriedigenden Erfahrungen mit einer Inhouse-Lösung.» Das gesuchte System habe in die eigene Architektur passen und auch erweiterungsfähig sein müssen. Pfund rechnet für «Life Learn» mit einem Lebenszyklus von fünf Jahren und mit einem Update rund alle achtzehn Monate: «Oft kommen mit dem Betrieb neue Wünsche und Bedürfnisse hinzu, wie etwa die Kursverwaltung oder die Reservation von Schulungsräumen.» Auch wenn in der Branche mit einer Verlangsamung dieses Rhythmus gerechnet wird – dieser Aufwand sollte ebenfalls bedacht werden.