HR Today Nr. 4/2019: Diversity

Auch Mädchen klettern 
gerne auf Bäume!

Immer noch wählen junge Männer und Frauen mehrheitlich geschlechtsspezifische Berufe. Das macht sich später in den Unternehmen bemerkbar und verstärkt den Fachkräftemangel. Überlieferte Rollenbilder erschweren es jedoch, junge Menschen für atypische Berufswege zu begeistern.

Trotz vielfältiger Möglichkeiten entscheiden sich viele junge Frauen und Männer immer noch für typische Frauen- und Männerberufe. So werden in der Schweiz ganze Berufssparten von einem Geschlecht dominiert: etwa im Ingenieurwesen und in der Technik. Dort betrug der Frauenanteil im ersten Ausbildungsjahr laut Bundesamt für Statistik lediglich 6,9 Prozent. Im Gesundheitswesen dominierten die Frauen dagegen mit 91,2 Prozent und im Sozialwesen mit 85,2 Prozent.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch an den Hochschulen: Frauen wählen bevorzugt Fachbereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Medizin oder der Pharmazie. In Fachrichtungen wie Sonderpädagogik, Veterinärmedizin, Ethnologie, Erziehungswissenschaften und Psychologie stellen sie gemäss dem «Indikatorenbericht zur Chancengleichheit von Frauen und Männern an den Schweizer Hochschulen 2017» mit vier von fünf Bachelorstudierenden die überwiegende Mehrheit. In den Fachbereichen Gesundheit und Soziale Arbeit lag der Frauenanteil bei 85 Prozent beziehungsweise 75 Prozent, während sich nur elf Prozent der weiblichen Bachelorstudierenden für den Fachbereich Technik und IT entschieden.

Entsprechende deutliche Unterschiede zeigten sich schon in der Fachpräferenz bei der Gymnasialen Matur: Waren die geisteswissenschaftlichen oder musischen Schwerpunktfächer mit 75 Prozent weiblich geprägt, waren Mädchen in den Fächern Physik und Mathematik mit 20 Prozent stark unterrepräsentiert.

Modell Ernährer und Zuverdienerin

Mit dem Nationalen Forschungsprogramms zur Gleichstellung der Geschlechter (NFP 60) versuchte eine Forschungsgruppe Erklärungen dafür zu finden. Die Expertinnen führen die deutliche Segregation unter anderem auf die frühe Berufswahl zurück. Dann, wenn die Weichen für die Berufswahl gestellt werden, orientieren sich die Jugendlichen im Alter von 15 oder 16 Jahren stark an Geschlechterstereotypen.

Das bestätigt auch Prof. Dr. Gudrun Sander, Direktorin des Competence Centre for Diversity and Inclusion (CCDI-FIM) der Universität St. Gallen. «Jugendliche stellen sich in der Schweiz schon mit zwölf oder dreizehn Jahren auf ihre Rolle als Ernährer und Zuverdienerin ein.» Junge Frauen wählen daher bevorzugt Berufe, die später mit einer Familie vereinbar und in einem Teilzeitpensum möglich sind. «Das hat Konsequenzen, denn in typischen Frauenberufen sind die Löhne tief und die Aufstiegschancen sehr begrenzt», gibt Sander zu bedenken. Das wiederum verfestige später die traditionelle Rollenteilung in der Familie.

«Die gesellschaftlichen Rollenvorstellungen sind überholt und verbauen Jugendlichen viele Chancen», meint Helena Trachsel, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung des Kantons Zürich. Einen unkonventionellen Berufsweg einzuschlagen, sei nicht einfach. «Junge Menschen, die den Mut haben, einen atypischen Berufsweg einzuschlagen, brauchen viel Selbstvertrauen und Unterstützung durch das Umfeld.» In diesem Sinne setzen sich seit einigen Jahren die Akteure des Nationalen Zukunftstags ein (siehe Box). Ohne gezielte bildungs- und sozialpolitische Offensiven sei es jedoch nicht möglich, tradierte Rollenbilder aufzubrechen und Vorurteile zu überwinden. «Sobald Kinder anfangen zu spielen, sollte die Sensibilisierung für geschlechteruntypische Tätigkeiten beginnen», sagt Trachsel. Eine wichtige Prägung finde daher schon in der Kita statt. «Auch Mädchen klettern auf Bäume und machen sich schmutzig.»

Welche Impulse Kinder in Bezug auf Rollenerwartungen bekommen, hänge massgeblich davon ab, was in der Familie vorgelebt werde. Kinder, die erleben, dass Mama Teilzeit arbeitet und sich zu Hause um alles kümmert, während Papa Karriere macht, verinnerlichen diese Rollenbilder schnell und richten ihre Berufswünsche danach aus. «Je mehr und je früher Kinder mit atypischen Rollenbildern vertraut gemacht werden, desto grösser ist später ihr Horizont bei der Berufswahl und ihr Mut, sich für geschlechtsuntypische Wege zu entscheiden», ergänzt Gender-Expertin Sander.

Viele Jugendliche trauten sich atypische Berufswege nicht zu, weil sich Klischees wie jene hartnäckig halten, dass Jungs besser in Mathematik seien und Mädchen in Sprachen. «Das konnte jedoch in den Pisa-Studien nicht grundsätzlich bestätigt werden», sagt Sander. Sie hält eine Korrelation mit der Stellung der Frauen in der Gesellschaft für wahrscheinlicher. Dass geschlechterspezifische Erwartungen und mangelndes Selbstvertrauen Leistungen beeinflussen können, belegt die Pisa-Studie. Haben Jungen und Mädchen ein gleich starkes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, verringern sich die geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede in Mathematik, heisst es im Bericht.

Geschlechtertypische Berufswahl beeinflusst Belegschaften

Die ungleiche Geschlechterverteilung in den Führungspositionen und der Fachkräftemangel seien auch ein Ergebnis der geschlechterstereotypen Berufswahl, sagt Trachsel. «Ist dieser Gap in den Unternehmen sichtbar, ist es schon zu spät.» Trachsel berät Unternehmen in Gleichstellungsfragen und will das Übel an der Wurzel packen. Sie setzt sich deshalb mit ihrer Fachstelle dafür ein, dass Mädchen und Jungen ihre Berufswahl nach eigenen Talenten und Interessen wählen und nicht den geschlechterspezifischen Rollenerwartungen folgen. Diese sorgen laut Trachsel in hohem Masse dafür, dass sich immer noch viel zu wenig Mädchen für naturwissenschaftliche oder technische Berufe entscheiden. Wenn die Jugendlichen zur Berufsberatung in ihre Fachstelle kämen, sei die geschlechtertypische Berufswahl in der Regel bereits gefallen.

Ein typisches Merkmal der Berufsbiografie von Frauen ist die Teilzeitarbeit. Wie jüngst veröffentlichte Zahlen zeigen, liegt der Anteil teilzeitarbeitender Männer unter 20 Prozent, während 60 Prozent der Frauen einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Die ungleiche Verteilung von Teilzeitarbeit und stereotype Rollenerwartungen beeinflussen letztlich auch Beförderungsentscheide. Der kürzlich erschienene «Gender Intelligence Report», den Sander mit ihrem Team im Auftrag von Advance erstellt hat, bescheinigt Unternehmen zwar Erfolge bei der Rekrutierung von Frauen. Doch werden Frauen bereits bei der Beförderung in die unterste Kaderstufe signifikant weniger berücksichtigt.

Sander sieht HR in einer Schlüsselrolle, wenn es darum geht, alte Muster in den Unternehmen zu durchbrechen und Linienverantwortliche zu motivieren, Frauen vermehrt in männerbesetzten Domänen zu fördern. Personalplanung und -entwicklung müssen hierzu untypische Karrierewege und Arbeitsmodelle vorsehen. Und «Führungskraft» dürfe nicht länger ein «Männerberuf» sein. Oft seien es aber unternehmenspolitische Mechanismen, weshalb Frauen in Bereichen wie Marketing oder HR landen oder bestimmte Positionen nur mit Männern besetzt würden.

Frauen lernen oft nicht, was gebraucht wird

«Frauen bringen oft nicht die Qualifikationen mit, die in den Unternehmen gerade gebraucht werden», weiss Gleichstellungsbeauftragte Helena Trachsel. «Unternehmen können die Belegschaft nur so divers gestalten, wie sie diese Positionen besetzen können, und Frauen nur fördern, wenn sie die passenden Qualifikationen mitbringen.» Trachsel appelliert an Unternehmen, einer Frau bei gleichwertiger Qualifikation im Sinne der Vielfalt den Vorrang zu geben.

Unbewusste Vorurteile würden das noch allzu oft verhindern. «Letztlich», resümiert Trachsel, «muss es politisch gewollt sein, wenn nicht alle Einzelinitiativen und Förderprogramme verpuffen sollen.» Es brauche ein breites Umdenken auf politischer, gesellschaftlicher und familiärer Ebene, damit sich künftig mehr junge Menschen für atypische Berufe entscheiden. «Hierzu gehört eine monetäre und gesellschaftliche Aufwertung der Frauenberufe genauso wie Anreize für Männer, ihr Arbeitspensum zugunsten der Familie zu reduzieren.» Ein Modell mit einem Arbeitspensum von je 70 Prozent für Mutter und Vater könnte laut Trachsel für mehr berufliche und familiäre Gerechtigkeit sorgen. «Dies würde nicht nur der Gesellschaft guttun, sondern die Gender Diversity in den Unternehmen beflügeln.»

Trotz der frühen Berufswahl, die meistens die Richtung für den weiteren Weg vorgibt, ist ein späteres Umdenken und Umlernen nicht ausgeschlossen. So sieht man in Zürich immer häufiger Frauen, die in ihrer Berufsuniform stolz Stadtbusse oder Trams steuern. Mit einer gross angelegten und medienwirksamen Kampagne hatten sich die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) vor rund drei Jahren vorgenommen, mehr Frauen für den typischen Männerberuf zu begeistern und dafür Quereinsteigerinnen aus den typischen Frauenberufen angeworben. Dafür sprachen sie plakativ «flinke Kellnerinnen, ambitionierte Coiffeusen und aufgeweckte Bäckerinnen» an.

Mittlerweile sind 20 Prozent der Mitarbeitenden im Fahrdienst Frauen. «Die Quote ist zwar noch nicht ausgeschöpft, aber eine gute Ausgangslage», findet Florian Schrodt vom Personalmarketing der VBZ. «Der Fahrdienst war bisher eine Männerdomäne, aber ein Bereich, der sich gut für Frauen öffnen lässt.» Jetzt geht es für ihn darum, die Kampagne in den Alltag zu überführen und Kontinuität zu schaffen. «Frauen sind bei uns nicht nur willkommen, sondern Frauenförderung ist ausdrücklich erwünscht.» Zudem sollen die Frauen im Unternehmen sichtbarer werden. Um die Perspektivenvielfalt zu stärken, hat man sich bei der VBZ für die neue Karrierewebseite eine redaktionelle Frauenquote von 40 Prozent vorgenommen. Schrodt will sich auch in Zukunft dafür engagieren, Rollenbilder zu verändern. «Der Aufbruch beginnt im Kopf.»

Interkantonale Initiative will Seitenwechsel erleichtern

Mit dem Nationalen Zukunftstag bieten die Gleichstellungsfachstellen und -kommissionen der Kantone Aargau, Appenzell Ausserrhoden, Bern, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Freiburg, Genf, Glarus, Graubünden, Luzern, Neuenburg, Schwyz, St. Gallen, Tessin, Uri, Wallis, Zug und Zürich sowie der Stadt Bern, der Stadt Zürich und des Fürstentums Liechtenstein in Kooperation mit Betrieben, Schulen und Eltern den Jugendlichen eine Möglichkeit, sich rechtzeitig und ausführlich über atypische Arbeitsfelder zu informieren. Die Initiative hat das Ziel, die Gleichstellung von Frau und Mann bei der Berufswahl und bei der Lebensplanung zu unterstützen und jungen Menschen die Perspektiven eines beruflichen Seitenwechsels aufzuzeigen. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI unterstützt den Zukunftstag finanziell. Der nächste Nationale Zukunftstag findet am 14. November 2019 statt. www.nationalerzukunftstag.ch

 

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