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Belästigung am Arbeitsplatz: FAQ für Führungskräfte und HR-Verantwortliche

Sexuelle und sexistische Belästigung sind eine Realität: 28,3 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer sind schon mindestens einmal sexuell belästigt worden¹. Aner Voloder, Jurist und Projektleiter bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, gibt Antworten auf die zehn häufigsten Fragen von Arbeitgeberseite.

1. Wir wissen, dass wir gemäss Obligationenrecht die Persönlichkeit der Angestellten schützen müssen, insbesondere dann, wenn sie sexuell belästigt werden. Welche rechtlichen Bestimmungen bezüglich sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind sonst noch massgebend?

Neben Art. 328 Abs. 1 OR finden Sie die einschlägigen Bestimmungen zur erwähnten Sorgfalts- und Schutzpflicht sonst im Arbeitsgesetz (Art. 6 Abs. 1 ArG) sowie in der dazugehörigen Verordnung 3 (Art. 2 Abs. 1 ArGV 3). Das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) definiert sexuelle Belästigung ausserdem ausdrücklich als diskriminierendes Verhalten. Es erlegt allen Arbeitgebenden in der Schweiz die Pflicht auf, einerseits präventive Massnahmen zu ergreifen und anderseits bei konkreten Vorfällen zu intervenieren und Belästigungen ein Ende zu setzen. Ein Verstoss gegen diese Verpflichtungen löst Entschädigungspflichten aus (vgl. Art. 4 und 5 GlG).

2. Bei uns im Betrieb herrscht angenehmes, respektvolles Arbeitsklima und es gab noch nie eine Beschwerde wegen sexueller oder sexistischer Belästigung. Warum sollen wir dann handeln?

Dass Sie noch nie mit einer Beschwerde wegen sexueller Belästigung konfrontiert wurden und in Ihrem Betrieb Mitarbeitende grundsätzlich respektvoll miteinander umgehen, muss nicht unbedingt bedeuten, dass es bisher keine Vorfälle gab oder geben wird. Sexuelle Belästigung passiert oft im Verborgenen und ohne Zeuginnen und Zeugen, weshalb ein Aussenblick häufig verwehrt bleibt. Ein Ernstfall kommt fast immer unerwartet. Arbeitgebende haben ausserdem die gesetzliche Pflicht, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorbeugend zu wirken. Klare und verbindliche Leitlinien für alle Mitarbeitenden schaffen Orientierung und helfen ihnen auch, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren.

3. Wir haben das Gefühl, wir würden mit viel zu strikten Verhaltensregeln in unserem Betrieb in Prüderie verfallen und ein herzliches Arbeitsklima verunmöglichen.

Sexuelle Belästigung hat mit einer angenehmen oder herzlichen Arbeitsatmosphäre nichts zu tun. Von einem Flirt oder lockerem Umgang am Arbeitsplatz unterscheidet sie sich darin, dass sie von einer Seite stets unerwünscht ist und auf die betroffene Person entwürdigend und verletzend wirkt. Diese Grenzziehung ist in jedem Betrieb durchaus möglich, ohne gleichzeitig in die Prüderie zu verfallen.

4. Wir sind mit einer Beschwerde wegen sexueller Belästigung konfrontiert. Was müssen wir als Erstes tun?

Personalverantwortliche sind zur Weiterleitung der Information an die Führungskraft verpflichtet. Aufgrund des Gleichstellungsgesetzes müssen Führungskräfte intervenieren, indem sie zunächst eine Abklärung in die Wege leiten und Belästigungen sofort ein Ende setzen. Dieses interne Abklärungsverfahren beinhaltet mindestens je ein getrenntes Gespräch mit der betroffenen und der beschuldigten Person. Jede Intervention muss auf den Schutz der belästigten Person vor weiteren Belästigungen und anderen Nachteilen ausgerichtet sein. Diese Schutzpflicht beinhaltet auch den Erhalt ihres Arbeitsplatzes unter Wahrung eines belästigungs- und schikanefreien Arbeitsklimas. Eine Freistellung oder Versetzung der belästigten Person darf nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin erfolgen. Weitere Abklärungen und Gespräche, etwa mit Zeuginnen und Zeugen, werden dann geführt, wenn nach einem ersten Gespräch mit der beschuldigten Person unklar bleibt, ob ein Fall sexueller Belästigung vorliegt oder nicht. Zu beachten ist, dass jeder Fall ein anderer ist, weshalb insbesondere bei komplexen Fällen mit mehreren Beteiligten die Inanspruchnahme einer fachlichen Beratung in Erwägung gezogen werden sollte.

5. Ist es bei einem konkreten Vorfall nicht sinnvoller, zunächst abzuwarten, bis sich die Wogen etwas geglättet haben und erst dann einzugreifen, wenn sich ein weiterer Vorfall ereignet?

Nein. Führungskräfte sind zur sofortigen Intervention verpflichtet. Belästigendes Verhalten ist schon im frühen Stadium zu unterbinden, denn Erfahrungen zeigen, dass auf zunächst Harmloses oft viel Deftigeres folgt.

6. In einem Gespräch beschwert sich unser Lernender, er werde von seinen älteren Kolleginnen und Kollegen oft mit obszönen Sprüchen und zweideutigen Bemerkungen über sein Sexualverhalten konfrontiert. Diese haben aber offensichtlich nicht vor, ein Entgegenkommen sexueller Art von ihm zu erlangen. Müssen wir trotzdem etwas unternehmen?

Unbedingt. Die Motivation der belästigenden Person(en) ist irrelevant. Hinter belästigendem Verhalten muss auch keine diskriminierende Absicht stecken. Ausschlaggebend ist allein, wie ein bestimmtes Verhalten bei der betroffenen Person ankommt, beziehungsweise wie sie es subjektiv empfindet. Zu beachten ist zudem, dass Lehrbetriebe gegenüber Lernenden im arbeitsrechtlichen Sinne erhöhte Schutz- und Fürsorgepflichten haben.

7. Eine von Belästigungen betroffene Mitarbeiterin wollte uns über mehrere Vorfälle von sexueller Belästigung in Vergangenheit informieren. Sie möchte allerdings nicht, dass wir etwas in der Sache unternehmen. Können wir ihr dies garantieren?

Die Anonymität ist nur solange garantiert, wie die betroffene Person die Angelegenheit ausschliesslich mit einer internen Anlaufstelle (z.B. einer innerbetrieblichen Vertrauensperson) bespricht. Sobald jedoch Vorgesetzte oder Personalverantwortliche involviert werden und davon erfahren, sind sie verpflichtet, zu handeln, selbst wenn die betroffene Person ausdrücklich das Gegenteil verlangt. Die Führungskraft muss die Vorfälle abklären und intervenieren, denn es sind möglicherweise weitere Personen involviert, die ebenfalls schutzbedürftig sind. Die Anonymität kann ab diesem Zeitpunkt also nicht mehr garantiert werden. Ausserdem hat die belästigende Person das Recht zu erfahren, dass gegen sie Vorwürfe erhoben wurden. Sie muss die Gelegenheit erhalten, sich zu den Anschuldigungen zu äussern. Bis zum Abschluss des Abklärungsverfahrens gilt die Unschuldsvermutung.

«Grenzüberschreitungen bauen sich oft langsam auf»

Belästigung am Arbeitsplatz ist eine oft tabuisierte Realität. Anja Derungs, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich spricht im Interview über die Rolle von HR bei Belästigung am Arbeitsplatz, über die gesetzlichen Verpflichtungen von Arbeitgebern und darüber, was das Online-Beratungsangebot belästigt.ch leisten soll und wo seine Grenzen sind. Zum Artikel

8. Kann ich als Vorgesetzte eine von Belästigungen betroffene Mitarbeiterin darauf hinweisen, dass sie ein externes Beratungsangebot in Anspruch nehmen soll?

Es kann durchaus sinnvoll sein, dass die betroffene Person weitere Beratungsangebote in Anspruch nimmt, beispielsweise solche im psychosozialen Bereich. Darauf können Führungskräfte selbstverständlich aufmerksam machen, jedoch nur als Ergänzung zu den von ihnen bereits ergriffenen innerbetrieblichen Interventions- und Schutzmassnahmen. Diese können Sie als Führungskraft nicht an Dritte delegieren.

9. Nach einem Vorfall ist das ganze Team beunruhigt. Wir sind unschlüssig, ob wir die Belegschaft darüber offiziell in Kenntnis setzen sollten – wenn ja: Wie geschieht das am besten?

Insbesondere in solchen Fällen empfiehlt es sich, auch die Mitarbeitenden der betreffenden Abteilung oder Betriebseinheit über den Vorfall und allenfalls ergriffene Massnahmen aufzuklären, um kursierenden Gerüchten zuvorzukommen. Diese Information sollte in kurzer und sachlicher Form, wenn möglich mündlich und beispielsweise im Rahmen einer Teamsitzung oder -versammlung, erfolgen. Zum Zeitpunkt der mündlichen Information der Mitarbeitenden werden die Namen der von den Abklärungen betroffenen Personen genannt, jedoch nie diejenigen der weiteren involvierten Personen (wie der Zeuginnen und Zeugen von Vorfällen). Die Mitarbeitenden werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sämtliche Informationen, die den Vorfall betreffen, vertraulich sind und nicht weitergegeben werden dürfen.

10. Wir haben uns nach einem Vorfall von erwiesener sexueller Belästigung von einem Mitarbeiter getrennt. Müssen wir dies in seinem Arbeitszeugnis erwähnen?

Ein Arbeitszeugnis muss klar, vollständig, wahr und wohlwollend sein. Eine am Arbeitsplatz begangene sexuelle Belästigung sollte dann Erwähnung im Arbeitszeugnis finden, wenn sie den Entlassungsgrund darstellt, insbesondere wenn Wiederholungsgefahr besteht und durch die Nichterwähnung eine Schadensersatzpflicht für Ihr Unternehmen entstehen könnte. Allerdings empfiehlt es sich, den Entlassungsgrund beispielsweise als «schwerwiegende Pflichtverletzung» zu formulieren und nicht konkret auf die Einzelheiten einzugehen.

Dieser Artikel gibt eine Übersicht über die häufigsten Fragen zum Thema sexuelle und sexistische Belästigung am Arbeitsplatz. Die Antworten dienen als Orientierungshilfe und gehen von einem idealtypischen Ablauf aus. Da jeder Fall in sich spezifisch ist, müssen Arbeitgeber auch über die verschiedenen Handlungs- und Kommunikationsschritte im Einzelfall entscheiden.

Weitere Fragen?

Mit belästigt.ch gibt es ab dem 1. Juli 2017 für die Deutschschweiz ein neues, professionelles und von der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich mitinitiiertes Online-Erstberatungsangebot für Arbeitgeber und Angestellte. Initiiert wurde das Portal von den vier Trägerorganisationen Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, der Beratungsstelle «Frauenberatung: Sexuelle Gewalt Zürich» und Gewerkschaft Unia.

Quellen:

  • ¹Silvia Strub, S., Schär Moser, M. (2008): Risiko und Verbreitung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Eine repräsentative Erhebung in der Deutschschweiz und in der Romandie. Bern:  Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, Staatssekretariat für die Wirtschaft SECO.

 

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Aner Voloder ist Jurist und Projektleiter bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Er berät Einzelpersonen und Unternehmen bei Fragen zu Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und/oder sexueller Orientierung und initiiert entsprechende Projekte. Schwerpunktmässig befasst er sich auch mit dem Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Er ist Co-Autor der kürzlich veröffentlichten Studie über die Analyse der kantonalen Rechtsprechung nach dem Gleichstellungsgesetz (2004-2015).

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