Belästigung am Arbeitsplatz

«Grenzüberschreitungen bauen sich oft langsam auf»

Belästigung am Arbeitsplatz ist eine oft tabuisierte Realität. Ab Anfang Juli gibt es mit belästigt.ch ein neues, professionelles und von der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich mitinitiiertes Online-Beratungsangebot für Arbeitgeber und Angestellte. Anja Derungs, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich, spricht im Interview über die Rolle von HR bei Belästigung am Arbeitsplatz, über die gesetzlichen Verpflichtungen von Arbeitgebern und darüber, was belästigt.ch leisten soll und wo seine Grenzen sind.

Frau Derungs, Sie haben belästigt.ch Anfang Juli ins Netz gestellt und Mitte August die Kampagne gestartet. Wie ist Ihre erste Bilanz?

Anja Derungs: Das Angebot stösst bei der breiten Öffentlichkeit auf Interesse. Und bei Ratsuchenden auf ein Bedürfnis. Es scheint, dass wir damit einen Nerv der Zeit getroffen haben.

Was heisst das konkret? Wie viele Anfragen haben Sie bisher erhalten?

Seit dem Start erreichen uns durchschnittlich zwei Anfragen pro Woche. Dass das Angebot auch Männer anspricht, finden wir erfreulich – auch wenn die Mehrheit der Anfragen (noch) von Frauen kommt. Neben dem Link «Ich wünsche Beratung» werden auch die «Tipps fürs Umfeld» häufig angeklickt.

Arbeitgebende erkundigen sich hauptsächlich über Weiterbildungsmöglichkeiten für ihre Führungskräfte – oder sie lassen sich hinsichtlich ihrer Handlungs- und Sorgfaltspflichten beraten.

Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet Arbeitgeber, präventive Massnahmen gegen sexuelle und sexistische Belästigung zu ergreifen und bei konkreten Vorfällen zu intervenieren. Welche Rolle spielt dabei HR?

Zur Prävention gehört eine klare Haltung gegenüber dem Thema, die Arbeitgeber auch unbedingt kommunizieren müssen. Hier spielt das HR neben den Führungskräften eine Schlüsselrolle.

Wissen neue Mitarbeitende, wohin sie sich in einem konkreten Fall vertraulich im Betrieb wenden können? Gibt es neutrale Vertrauenspersonen für Betroffene? Diese dürfen allerdings weder HR- noch Führungsaufgaben haben. Ansonsten wären sie zum Handeln verpflichtet.

HR kann dazu beitragen, das Thema im Betrieb präsent zu halten. Etwa mit Weiterbildungen, welche die verschiedenen Aufgaben, Rechte und Pflichten thematisieren und die Handlungskompetenzen von Vorgesetzten in einem konkreten Fall stärken. HR-Leute können auch Handlungs- und Kommunikationsempfehlungen formulieren und Vorgesetzte so konkret unterstützen. HR-ler haben zudem meist ein gutes Gespür dafür, was hinter häufigen Absenzen stecken könnte. Diese können ein Hinweis auf sexuelle oder sexistische Belästigung sein. Früh reagieren ist essentiell. Wenn sich Belästigte an Beratungsstellen wenden, ist die Situation oft schon stark eskaliert und verfahren.

Belästigung am Arbeitsplatz: FAQ für Führungskräfte und HR-Verantwortliche

«Wir sind mit einer Beschwerde wegen sexueller Belästigung konfrontiert. Was müssen wir als Erstes tun?» – «Wir haben uns nach einem Vorfall von erwiesener sexueller Belästigung von einem Mitarbeiter getrennt. Müssen wir dies in seinem Arbeitszeugnis erwähnen?» Unsere Checkliste gibt Antworten auf die zehn häufigsten Fragen von Arbeitgebern. Zur Checkliste

Wie sollen HR und Vorgesetzte konkret vorgehen, wenn sich jemand mit einem Fall von Belästigung an sie wendet?

Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet Vorgesetzte und HR nach Kenntnisnahme eines konkreten Falles – aber auch bei einem Verdacht –, eine Abklärung in die Wege zu leiten. Dazu gehört zwingend mindestens je ein Gespräch mit der betroffenen beziehungsweise mit der beschuldigten Person. Gelangt ein Fall ans HR, muss dieses die Information an die Führungskraft weiterleiten – es sei denn, diese ist selber die betroffene oder die beschuldigte Person. In diesem Fall müsste man die nächsthöhere Person beiziehen.

Gefragt ist ein konsequentes Handeln. Das ist eine anspruchsvolle Führungsaufgabe. Sich dabei beraten zu lassen, kann hilfreich sein. Unter Umständen können auch Einzelgespräche mit den Beteiligten oder eine direkte Aussprache sinnvoll sein. Von einer direkten Konfrontation mit der beschuldigten Person raten wir in der Regel ab. Diese darf zudem nur im Einverständnis der belästigten Person erfolgen.

Man hört immer wieder von Fällen von Belästigung, in denen Arbeitgeber am Ende das Opfer freistellen oder versetzen. Was geht hier schief?

Bei Belästigungen am Arbeitsplatz geht es auch um Macht- und Hierarchiefragen. Belästigungen richten sich in vielen Fällen gegen tiefer Positionierte oder Minderheiten im Betrieb. Das können Frauen, Lesben oder Schwule, Transmenschen, neue Mitarbeitende oder Lernende sein. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch Männer belästigt werden.

Für viele Arbeitgeber scheint der vermeintlich «einfachere» Weg, die belästigte Person zu versetzen oder freizustellen. Rechtlich, gemäss Gleichstellungsgesetz, ist das ganz klar der falsche Weg. Trotzdem scheint für viele Arbeitgeber das Problem damit «gelöst».

Das ist natürlich ein Trugschluss, denn oft sind auch noch weitere Personen von der Belästigung betroffen. Arbeitgeber müssen immer den Schutz der belästigten Person vor weiteren Belästigungen und anderen Nachteilen als Ziel verfolgen. Das heisst zum Beispiel auch, dass die belästigte Person ihren Arbeitsplatz behalten soll. Freistellen oder versetzen dürfen Arbeitgeber diese nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch.

Zur Person

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Anja Derungs (41) ist seit 2012 Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Sie ist anerkannte Mediatorin SDM und hat einen Master of Advanced Studies in Ausbildungsmanagement. Ursprünglich ist sie eidgenössisch diplomierte Übersetzerin. Anja Derungs lebt mit ihren zwei kleinen Töchtern in Zürich und teilt sich mit ihrem Partner die Haus- und Familienarbeit. Sie ist in Zürich geboren und aufgewachsen.

Warum zögern viele Betroffene, Unterstützung zu holen?

Für viele ist es schwierig, sich darüber klar zu werden, das Erlebte als sexuelle oder sexistische Belästigung zu erkennen. Vor allem verbale sexistische Äusserungen werden als «Witze, die ja gar nicht ernst gemeint sind» abgetan. Oder Betroffene werden damit konfrontiert, sie seien humorlos oder selber schuld.

Sexuelle Belästigung bedeutet immer auch eine Machtdemonstration. Wer möchte sich denn schon als Opfer sehen? Oder der Ehefrau daheim erzählen, er werde am Arbeitsplatz mit sexistischen Witzen belästigt?

Wie können Betroffene Belästigung trotzdem als solche erkennen?

Situationen, in denen es zu Grenzüberschreitungen kommt, bauen sich oft langsam auf, insbesondere wenn diese mündlich und auf den ersten Blick harmlos daherkommen. Wichtig ist, auf die persönlichen Grenzen zu achten, auf eigene Empfindungen zu hören, es sich selber einzugestehen und allfällige Schamgefühle abzulegen.

Im Zweifelsfall sollen sich Betroffene einer nahestehenden Person innerhalb oder ausserhalb des Betriebs anvertrauen. Belästigungen können das Betriebsklima regelrecht vergiften – und den Gang zur Arbeit für die Betroffenen zur Qual machen.

Was, wenn der Täter oder die Täterin die Belästigung gekonnt zu verschleiern weiss?

Natürlich kennen wir aus unserer Beratungs- und Vermittlungstätigkeit auch solche Fälle. Es ist in der Tat oft schwierig, vermeintlich zufällige Körperberührungen oder das Nachstellen nach der Arbeit zu beweisen.

Es ist deshalb besonders wichtig, dass Betroffene die Vorkommnisse tagebuchartig festhalten und auch «Beweismaterial» wie etwa SMS oder Mails behalten. Oft gibt es auch Mitarbeitende im Betrieb, die die Belästigungen mitbekommen und sich nicht trauen, etwas zu sagen – aus Furcht vor Nachteilen.

Wie gross ist die Gefahr von falschen Anschuldigungen aus eigennützigen Motiven?

Wir hatten in unserer langjährigen Beratungs- und Vermittlungstätigkeit bis anhin nur ein oder zwei Fälle, wo falsche Anschuldigen im Raum standen. Wer bei einem Verdacht oder einer Meldung rasch und konsequent reagiert und die notwendigen Abklärungen trifft, kann sich ein gutes Bild von der Situation machen.

Wichtig ist immer, die Belästigung ernst zu nehmen und sie auf keinen Fall ins Lächerliche zu ziehen. Zudem gilt während der Abklärung für alle Seiten die Unschuldsvermutung sowie die Fürsorge- und Sorgfaltspflicht. Massgebend ist immer, wie das Verhalten bei der betroffenen Person ankommt, also ihr subjektives Empfinden. Dieses ist zu respektieren.

Wie geht es weiter mit dem Beratungsangebot? Haben Sie vor, es noch weiterzuentwickeln?

Im Vordergrund steht derzeit, belästigt.ch noch breiter bekannt zu machen – sowohl bei Arbeitnehmenden als auch Arbeitgebenden. Die Videoclips auf der Website können beispielsweise auch gut für die Präventionsarbeit im Unternehmen genutzt werden. Am 1. Dezember werden wir ein erstes Zwischenfazit ziehen. Dann werden wir auch entscheiden, ob wir die Website auf Englisch übersetzen. Englisch ist als Firmensprache gerade in Zürich weit verbreitet. Und dann geht es auch darum, die Website auch für die Zukunft finanziell gut abzusichern.

Planen Sie weitere Projekte im Zusammenhang mit Belästigung am Arbeitsplatz?

Die Prävention von sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz ist seit vielen Jahren ein Schwerpunktthema der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Unseren Einsatz in diesem Bereich werden wir fortsetzen und, je nach Bedarf, verstärken – sei es mit Beratungen, interaktiven Weiterbildungen oder mit Handlungs- und Kommunikationsempfehlungen.

Über belästigt.ch

28,3 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer sind mindestens einmal sexuell belästigt worden – dies zeigt eine repräsentative Erhebung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG)¹.

Die Website belästigt.ch bietet seit dem 1. Juli 2017 eine Beratungsplattform für Angestellte und Arbeitgeber. Ein Beratungsteam beantwortet Fragen der Ratsuchenden per E-Mail innerhalb von drei Arbeitstagen in neun verschiedenen Sprachen, zeigt Handlungsoptionen auf und vermittelt Adressen. Im Beratungsteam arbeiten Frauen und Männer mit psychosozialem und juristischem Fachwissen zu sexueller und sexistischer Belästigung am Arbeitsplatz. Alle Anfragen werden vertraulich behandelt.

Das Angebot hat die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich initiiert. Sie ist zusammen mit dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, der Frauenberatung sexuelle Gewalt Zürich und der Gewerkschaft Unia eine der vier Trägerorganisationen. Die Umsetzung erfolgt von 2016 bis 2019 mit Finanzhilfen des Bundes nach Gleichstellungsgesetz.

Quellen:

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