HR Today Nr. 5/2020: Berufsbildung – Im Gefängnis

Mit Bildung Perspektiven schaffen

Aus- und Weiterbildungsnachweise sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Das gilt auch für Strafgefangene, die nach ihrer Entlassung in der Gesellschaft integriert werden müssen. HR Today hat mit den Ausbildungs­verantwortlichen der Justizvollzugsanstalten Pöschwies und Hindelbank gesprochen.

Die Jüngste ist 18 Jahre alt, die Älteste 72-jährig. 40 Prozent verfügen über einen Berufsabschluss oder mehrere, 40 Prozent über keinen, während 20 Prozent die Ausbildung abgebrochen haben. Einige der eingewiesenen Frauen bleiben ein paar Monate in der Justizvollzugsanstalt Hindelbank, andere lebenslang. Auch in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies unterscheiden sich die Einweisungsgründe, die Herkunft und der Bildungsstand der Gefangenen. «Einen typischen Insassen gibt es nicht», sagen Diana Häfliger, Leiterin des Lernwerks in der JVA Hindelbank, und Bruno Altorfer, Leiter Schule/Freizeit und Öffentlichkeitskontakte in der JVA Pöschwies.

Zur Arbeit verpflichtet

Eines verbindet die eingewiesenen Gefangenen jedoch. Sie sind während ihres Aufenthalts gesetzlich zur Arbeit verpflichtet. «Auch jene im Pensionsalter», erläutert Diana Häfliger. «Teilpensen gibt es nur aus medizinischen Gründen und diese werden regelmässig überprüft.» Dass eine Arbeitspflicht besteht, hat gute Gründe. «Vier bis sechs Wochen nichts zu tun, mag lustig sein. Aber irgendwann holt diese Ziellosigkeit den Menschen ein», sagt Bruno Altorfer. Die Arbeit verschaffe eine Tagesstruktur und sei ein wichtiger Pfeiler des Normalisierungsprinzips. «Das heisst, der Alltag im Gefängnis soll den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich entsprechen und den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenwirken», erklärt ­Häfliger. Im Hinblick auf die Reintegration seien Kompetenzen zu erhalten und zu fördern, damit die Strafgefangenen nach der Entlassung ihren Lebensunterhalt verdienen oder zumindest eine stabile Tagesstruktur einhalten können.

Die Arbeiten, welche die Gefangenen in den beiden Justizvollzugsanstalten verrichten, sind mannigfaltig. In der JVA Hindelbank arbeiten die eingewiesenen Frauen beispielsweise in der Hauswirtschaft, im Liegenschaftsunterhalt oder in der Wäscherei. In der JVA Pöschwies sind die Männer unter anderem in der eigenen Bäckerei, Gärtnerei oder Schreinerei beschäftigt. «Insgesamt werden bei uns 25 Berufe ausgeübt. Die meisten sind handwerklicher Natur oder Montagearbeiten», erzählt Bruno Altorfer. Die Arbeitsbedingungen entsprechen den Anforderungen im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt. Der Ertrag gehe in Form eines Taschengeldes an die Gefangenen und diene der Defizitdeckung. «Das sind rund 6 Millionen Franken, die wir selber erwirtschaften.»

Neben der gesetzlich verordneten Arbeit können die Eingewiesenen zahlreiche Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten nutzen, die ihnen später einen einfacheren Einstieg in die Arbeitswelt ermöglichen sollen. «Ausbildungsnachweise auf dem Arbeitsmarkt sind sehr gefragt», erklärt ­Diana Häfliger. Die im Gefängnis erworbenen Bildungsnachweise sind für die Strafgefangenen nach der Haft deshalb wichtig: «Ohne diese haben sie auf dem Markt einen Wettbewerbsnachteil, weil sie in Haft waren. Das kommt einer doppelten Bestrafung gleich.» Daneben bringen Aus- und Weiterbildungen Abwechslung in den Alltag. «Kognitive Herausforderungen, die das Gedächtnis trainieren, sind nicht nur für Junge wichtig, sondern auch für ältere Menschen», betont Corinne Brokos, die in Kürze die Nachfolge von Bruno Altorfer in Pöschwies antritt. «Aus- und Weiterbildungen sind zudem auch Führungsmittel», ergänzt Altorfer. «Menschen, die lebenslänglich einsitzen, können sie einen Lebenssinn vermitteln.»

Fehlende digitale Lernangebote

Die Palette an Aus- und Weiterbildungen der JVA Pöschwies reichen von zweijährigen Grundbildungen mit Attest über drei- bis vierjährige Grundbildungen mit Fähigkeitszeugnis bis hin zu Sprach-, Informatik- und Fernkursen. In der JVA Hindelbank können die eingewiesenen Frauen zudem Bewerbungstrainings absolvieren und sich einmal pro Monat kontrolliert für eine Stunde im Internet bewegen. Gemäss Diana Häfliger ist das kein Bildungsangebot. Es dient jedoch der Vorbereitung auf die Entlassung. «Der sichere Umgang mit dem Internet gehört heute zu den Fertigkeiten, die selbstverständlich sind.»

Beide JVAs nehmen zudem am BiSt-Programm (Bildung im Strafvollzug) teil. Fast alle Anstalten vermitteln Eingewiesenen die Landessprache, Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Informations- und Kommunikationstechnik sowie Allgemeinbildung mit einem eigenen Lehrplan. «Mit dem Bildungsplan und der Verankerung im Strafgesetzbuch hat die Bildung im Strafvollzug an Ansehen gewonnen», erzählt Häfliger. Viele Eingewiesene hätten schlechte Schulerfahrungen gemacht. «Durch die kleinen, eng begleiteten Gruppen gewinnen sie Vertrauen in ihr Können und schaffen es, ihre negative Lernbiografie zu durchbrechen.»

Unterschiedliche Aufnahmekriterien

Die Aus- oder Weiterbildung steht in der JVA Hindelbank allen offen – auch jenen, die lebenslänglich inhaftiert sind. «Für mich stellt sich die Sinnfrage nicht, ob jemand die Aus- oder Weiterbildung je draussen anwenden kann. Jede positive Lernerfahrung lohnt sich», sagt Diana Häfliger. Wobei sie aus organisatorischen Gründen keine Eingewiesenen in Bildungsangebote aufnimmt, die in drei bis vier Monaten aus der JVA entlassen werden. «Bei Fernkursen spielt es indes keine Rolle, da die Entlassenen ihre Kurse zu Hause fortführen können.»

Ein Kriterium für die Aufnahme in eine Aus- und Weiterbildung in der JVA Pöschwies liegt ebenfalls in der Aufenthaltsdauer. «Wenn jemand eine vierjährige Berufsausbildung intern abschliessen möchte, muss er mindestens acht bis neun Jahre bei uns bleiben», erklärt Bruno ­Altorfer. Die Ausbildung im offenen Vollzug, Arbeitsexternat oder sogar nach Entlassung weiterzuführen, sei immer noch eine grosse Herausforderung. Zurzeit seien zwischen zwölf und 15 Leute in diesem Ausbildungs-Turnus. «Das Spezielle bei diesen Aus- und Weiterbildungen ist, dass wir irgendwann damit starten können und nicht an die offiziellen Termine der Lehranstalten gebunden sind», erklärt Altdorfers Nachfolgerin ­Corinne Brokos.

Ausbildungsniveau wie «draussen»

«Die Berufsschule und die überbetrieblichen Kurse organisieren wir mit externen Partnern in der JVA Hindelbank», erzählt Häfliger. Da der Kanton Bern keine Betriebsprüfungen wie andere Kantone durchführt, durchlaufen die Lernenden ihr Qualifikationsverfahren, wie jene in der Wirtschaft. «Die Lernenden im offenen Vollzug reisen selbständig zu den Prüfungen, während die Gefangenen im geschlossenen vom JVA-Personal begleitet werden.» Die schriftlichen Prüfungen sowie die Präsentation der Vertiefungsarbeit finden für alle Insassen intern in der JVA statt.

In der JVA Pöschwies hingegen läuft die Aus- und Weiterbildungsabklärung bis zum Berufsabschluss intern ab. «Für die Prüfungen kommen die Experten vorbei», erklärt Corinne Brokos. Das seien dieselben wie draussen. «Somit ist gewährleistet, dass die Lernenden in der JVA Pöschwies das gleiche Bildungsniveau haben wie alle anderen Berufstätigen.» Egal ob drinnen oder draussen: Die Gefangenen schätzen die Aus- und Weiterbildungsangebote in den JVAs. «Ein Lehrabschluss ist für viele ein absolutes Highlight. Endlich haben sie im Leben etwas erreicht. Das hat einen grossen Stellenwert für sie», sagt ­Altorfer.

Geringe Vergleichsmöglichkeiten

Dass Straftäter ihre Aus- und Weiterbildung erfolgreich meistern, ist keine Selbstverständlichkeit. «Sie haben mit zahlreichen Herausforderungen zu kämpfen», erläutert Bruno Altorfer. «Einem Lernenden fehlen beispielsweise die Vergleichsmöglichkeiten mit anderen, da wir nur einen Lehrplatz pro Beruf anbieten.» Sie können somit nur auf die Einschätzung und das Feedback des Fachlehrers zurückgreifen. Weitere Stolpersteine seien die fehlenden digitalen Mittel. «Dabei müssten wir die Eingewiesenen gerade im digitalen Bereich fit machen», betont Diana Häfliger, Leiterin des Lernwerks in der JVA Hindelbank. Es sei essenziell zu wissen, wie man sich sicher und legal im Netz bewegt, welche Gefahren im Umgang mit sozialen Netzwerken lauern und wie man sich digital bei der (Büro-)Arbeit vernetzen kann. «Das sind Bereiche, die aus Sicherheitsgründen bei uns bisher nur marginal abgedeckt sind», erzählt Häfliger und hofft, dass die JVAs MOOCs (Massive Open Online Courses) künftig zulassen werden.

Berufslehre erleichtert Integration

Trotz aussergewöhnlicher Bedingungen können beide Anstalten von zahlreichen Erfolgsgeschichten berichten: «In den letzten 50 Jahren ist bei uns keiner durch eine Lehrabschlussprüfung gefallen, was wir auch den engagierten Werkmeistern und Berufsbildnern zu verdanken haben», sagt Pöschwies-Schulleiter Bruno Altorfer. Und in der JVA Hindelbank wurden seit 2014 sechs Lernende erfolgreich ausgebildet, zwei weitere stehen kurz vor dem Qualifikationsverfahren. Beim ersten Durchgang hätten alle drei Lernenden eine gute Einstiegsstelle gefunden und sich mit entsprechenden Weiterbildungen erfolgreich auf verantwortungsvolle Positionen beworben. «Diese Frauen besuchen uns seit Jahren am weihnachtlichen Schlossmärit, weshalb wir an ihrer Erfolgsgeschichte teilhaben dürfen. Das bestärkt uns darin, weiterhin in die Berufsbildung zu investieren», betont Häfliger.

Am Ende brauche es für eine Reintegration von Straftätern vor allem eines: «Toleranz auf gesellschaftlicher Seite. Das heisst, Verständnis dafür aufbringen, dass diese Person ihre Strafe verbüsst und ein Recht auf eine neue Chance in der Gesellschaft hat.»

Justizvollzugsanstalt Pöschwies

Die 1995 eröffnete Justizvollzugsanstalt Pöschwies (JVA Pöschwies) im zürcherischen Regensdorf ist mit 400 Plätzen für straffällige volljährige Männer und über 260 Mitarbeitenden die grösste geschlossene Justizvollzugsanstalt der Schweiz. Die Männer wurden zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr Dauer, zu einer stationären Massnahme oder zu einer Verwahrungsmassnahme verurteilt.

Die Gefangenen sind während ihres Aufenthalts zur Arbeit verpflichtet. Die JVA Pöschwies verfügt deshalb über Produktionsbetriebe aus unterschiedlichsten Branchen. Die Maschinen und Werkzeuge in den Werkstätten sind auf dem neusten Stand und die Werkmeister führen ihre Betriebe nach wirtschaftlichen Grundsätzen, sodass den Beschäftigten eine realitätsbezogene Arbeitswelt vermittelt wird.

Interessierte Gefangene haben je nach Eignung zudem die Möglichkeit, in den Gewerbebetrieben eine berufliche Grundbildung mit Attest oder eine Grundbildung mit Fähigkeitszeugnis zu absolvieren. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der JVA Pöschwies beträgt rund drei Jahre.

Justizvollzugsanstalt Hindelbank

Die Justizvollzugsanstalt Hindelbank (JVA Hindelbank) im Kanton Bern verfügt über 107 Haftplätze, beschäftigt 110 Mitarbeitende und ist die einzige Anstalt für straffällige Frauen in der deutschsprachigen Schweiz. Die Straftäterinnen sollen sich während ihrer Zeit in der JVA Hindelbank auf ein deliktfreies und verantwortungsvolles Leben nach der Freilassung vorbereiten.

Ein wichtiger Teil hierfür ist die Arbeit. Werktags arbeiten die Frauen im Normalfall während sieben Stunden in den verschiedenen Werken – beispielsweise Koch-, Pack- oder Waschwerk. Die Arbeitsbedingungen entsprechen den Anforderungen im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt. Weitere Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten sind verschiedene Aus- und Weiterbildungen. Die Bildungsmassnahmen, die das «Lernwerk» koordiniert, sollen ebenfalls die Chancen für eine Reintegration in der Gesellschaft erhöhen.

Das Strafmass und die Aufenthaltsdauer im Vollzug in der JVA Hindelbank differieren stark. Sie reichen von drei Monaten bis über zehn Jahre oder lebenslänglich.

 

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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