Früh übt sich ...
Der IT fehlen Fachkräfte, besonders weibliche, weil sich Mädchen trotz ihrer Talente gegen einen technischen Beruf entscheiden. Wie es gelingt, das Selbstbewusstsein der Jugendlichen zu fördern und sie von der IT zu überzeugen, zeigt das Projekt ICT-Campus.
Am ICT-Campus können Schülerinnen und Schüler positive Erfahrungen in der Informationstechnologie machen. (Foto: zVg)
«Ich bin schlecht in Mathe», antworten viele Jugendliche auf die Frage, weshalb sie sich nicht für einen technischen Beruf entscheiden, konstatiert der ehemalige Informatikleiter der Gewerblich-industriellen Berufsschule Muttenz sowie Initiant und Geschäftsleiter des ICT-Campus Rolf Schaub. «Ihre mathematischen Fähigkeiten sind jedoch meist besser als ihre Meinung von sich selbst. Sie unterschätzen sich. Das habe ich immer wieder im Unterricht erlebt.»
Doch wie bringt man Teenager und insbesondere Mädchen dazu, sich für technische Berufe zu interessieren? «Indem sie positive Erfahrungen in der Informationstechnologie machen», sagt Schaub. Erstmals beispielsweise an einem sogenannten Scouting Day in der siebten Klasse, bei dem Jugendliche anhand eines Tutorials mit der grafischen Programmiersprache «Scratch» in vier Stunden ein einfaches Videospiel erschaffen: Eine Art Tetris, bei dem Fische Futter fangen. «IT-Vorkenntnisse sind dafür nicht nötig», erklärt Schaub.
Während des vierstündigen Scouting-Unterrichts werden die Jugendlichen bei der Lösungsfindung von zwei ICT-Scouts unterstützt, die gleichzeitig ihre Einschätzung zum Verhalten der Jugendlichen festhalten. Dabei werden keine Noten verteilt. «Ob ein Schüler zum ICT-Campus eingeladen wird, ist weniger von der fehlerlosen Ausführung der Aufgabe abhängig als von der Begeisterung, mit der er sich dieser widmet», sagt Schaub. «Nicht selten sind das Menschen, denen man eine technische Begabung abspricht.» Etwa Jugendliche mit Migrationshintergrund und schlechten Deutschkenntnissen.
Handwerkliches Geschick gefragt
Damit sind noch nicht alle Einstiegshürden beseitigt, denn die Talente müssen sich vor der Aufnahme am Campus einer weiteren Herausforderung stellen: «Eine Kugelbahn im Zweierteam bauen» umreisst Schaub das Projekt in breitem Baseldeutsch. Dafür stehen den ICT-Aspiranten Schere, Karton, Klebeband, Aluminiumfolie sowie Kontaktsensoren zur Verfügung.
Die Programmier- und Basteltätigkeiten der Jugendlichen werden von den Scouts genau beobachtet, wobei sich deren Augenmerk vor allem auf die Teamfähigkeit der jungen Talente richtet, ihren Umgang mit Frust und Rückschlägen sowie die Ausprägung ihres Vorstellungsvermögens. Für Schaub gilt: «Wer sich engagiert, wird meist zum Campus eingeladen. Es kommt sehr selten vor, dass wir einem Kind an diesem Punkt absagen.» Der Spass an der Sache spricht die Geschlechter gleichermassen an. So sind Frauen am ICT-Campus mit knapp fünfzig Prozent fast paritätisch vertreten.
Vorselektion übernehmen
Schülerinnen und Schüler, die diese Aufgaben gelöst haben, verfolgen bis Ende des neunten Schuljahrs eigene Projekte oder entscheiden sich für eine vom ICT-Campus angebotene Aktivität. Beispielsweise für «Code Combat», ein Spiel, durch das die Teilnehmenden lernen, Spielzüge mit Javascript oder Python zu programmieren, eine Animationssoftware, mit der sich 3D-Figuren erstellen lassen, die Programmierung einer Website mit HTML, Java und CSS oder Lego Robotics, um einen Lego-Roboter zu bauen.
Der ICT-Campus bietet nicht nur Jugendlichen Vorteile, sondern auch HR-Fachleuten: Sie kommen am jährlich stattfindenden «Talentabend» und den nachfolgenden ICT-Campus-Tagen mit Jugendlichen ins Gespräch, lernen deren Projekte kennen, beobachten sie bei der Arbeit und identifizieren somit eher geeignete Nachwuchskräfte. «Schulnoten sind zu wenig aussagekräftig, weil die Beziehung zwischen Informatik und Mathematik immer schwächer wird», gibt Schaub zu bedenken. «Firmen müssen für potenzielle Lernende deshalb eigene Assessments machen. Das ist sehr aufwendig.»
Durch das mehrstufige ICT-Campus-Qualifikationsverfahren und die mehrjährige Begleitung der Jugendlichen werde dieses Verfahren abgekürzt. «Wir nehmen den Betrieben sozusagen die Vorselektion der IT-Nachwuchskräfte ab.» Hinzu käme, dass sich Betreuer und Jugendliche gut kennen. «Unsere Talente verbringen während der Schulzeit drei Jahre lang jeden zweiten Samstagmorgen am Campus. Wir wissen, welche Schülerinnen und Schüler zu welchen Firmen passen.» Somit starten Unternehmen bei einer Rekrutierung auf dem ICT-Campus nicht bei null.
Den Vorteil dieses Vorgehens haben die Betriebe längst erkannt und deshalb für die Talente des ICT-Campus Muttenz im vergangenen Jahr sogar drei Extra-Lehrstellen geschaffen. «Das zeigt, dass die Bereitschaft der Betriebe zunimmt, Lernende zu engagieren, wenn die Einarbeitungszeit kürzer und das Einstiegsniveau höher ist.»
Talente rekrutieren
Einer, der die Dienstleistungen des HR-Campus zu schätzen weiss, ist Markus Strittmatter, Bildungsverantwortlicher beim Baselbieter Durchflussunternehmen Endress+Hauser Process Solutions mit Sitz in Reinach. Seit zwei Jahren rekrutiert die 160-köpfige Division Digital Solutions ihre Informatik-Lernenden vornehmlich am HR-Campus. «An Berufsmessen trifft man oft Jugendliche, die nicht wissen, was sie wollen, und sich oft bloss informieren.» Zudem seien viele nicht freiwillig dort, weil sie von ihren Eltern oder ihrer Schule geschickt würden. «Beim ICT-Campus komme ich hingegen mit Jugendlichen ins Gespräch, die wissen, was es heisst, am PC zu sitzen und ein IT-Problem zu lösen.»
Das Talent eines Jugendlichen komme für ihn im Gespräch bald zum Vorschein: «Wenn ich mit ihnen über ihr Projekt rede, merke ich schnell, ob sie die Lösung selbst erarbeitet oder nur kopiert haben.»
Regjep Arifi, Lernender, Endress+Hauser Digital Solutions, Reinach
Wie sind Sie auf den ICT-Campus aufmerksam geworden?
Regjep Arifi: Der ICT-Campus hat am Fröschmatt Schulhaus in Pratteln ein Scouting durchgeführt, bei dem wir eine Programmieraufgabe lösen mussten. Drei von uns wurden dann in den ICT-Campus eingeladen.
An welchem Projekt haben Sie dort gearbeitet?
Am Anfang habe ich mit der grafischen Programmiersprache Scratch kleine Spiele mit Tastatursteuerungen programmiert. Danach habe ich an Lego-Mindstorm-Projekten gearbeitet. Am Ende meiner ICT-Campus-Zeit habe ich mir die Grundlagen der Programmiersprache Java angeeignet.
Was ist aus Ihren Projekten geworden?
Einige meiner Scratch-Projekte sind nun online verfügbar und können somit von anderen gespielt oder als Beispiel verwendet werden. Beim Lego-Mindstorm-Projekt hätte ich an der World Robot Olympiade 2018 teilnehmen können, was aus privaten Gründen leider nicht möglich war.
Was hat Ihnen die Zeit beim ICT-Campus persönlich gebracht?
Ich habe dort einen guten Einblick in die Informatik erhalten. Vor allem habe ich gemerkt, dass mir das Programmieren Spass macht. Das hat mir bei meiner Berufswahl erheblich geholfen. So war mir sehr schnell klar, dass ich Applikationsentwickler werden möchte.
Wie sind Sie zu Endress+Hauser Digital Solutions gekommen?
Der ICT-Campus hat einen Talentabend veranstaltet, an dem sich die Mitgliederfirmen den Eltern und Schülern vorgestellt haben. An diesem Abend habe ich mich mit dem Berufsbildner Markus Strittmatter unterhalten. Er hat mir erzählt, was die Firma Endress+Hauser Digital Solutions macht und wie eine Ausbildung abläuft. Daraufhin habe ich mich dort beworben. cp
ICT-Campus
Scouts des Informations- und Kommunikationstechnologie-Campus (ICT) identifizieren mit flächendeckenden Workshops Informatiktalente an den Volksschulen, die am ICT-Campus während drei Jahren individuell gefördert werden. In den kommenden Jahren soll der ICT-Campus kontinuierlich ausgebaut werden. Existieren derzeit Standorte in Muttenz, Bern und Zürich, folgen voraussichtlich 2020 die Standorte Lenzburg, Visp und St. Gallen. Weitere Standorte sind bereits geplant.