Pretending

Boxen statt lügen

Wenn sich Menschen anders verhalten, als sie wirklich sind, spricht man von Pretending. Dem Phänomen wird noch wenig Beachtung geschenkt, obwohl die Auswirkungen für Unternehmen verheerend sein können.

Herr Meier gibt sich ruhig und defensiv, ist er aber gestresst, reagiert er angriffig. Frau Müller spielt die Rolle der guten Zuhörerin, in Stresssituationen ist sie jedoch gegenüber jeglichem Input taub. Pretending nennt sich das noch wenig bekannte Phänomen: Menschen geben sich anders, als sie tatsächlich sind - ihr wahres Gesicht zeigt sich jedoch erst in Stresssituationen.

Wie sich Pretender in Stresssituationen verhalten, kann stark variieren. «Am häufigsten tritt Arroganz auf», sagt Roman Knöpfel, Geschäftsleiter der Dictus AG. Die Firma ist auf Personalberatung und -entwicklung spezialisiert. Ein zweites typisches Verhaltensmuster ist das Verschieben von Verantwortlichkeiten. «Das führt dazu, dass keine Entscheidungen getroffen werden.» Eine weitere Möglichkeit ist passiver Widerstand: «Der Chef sagt, dass er sich um das Problem kümmert. Tut er aber nicht», erläutert Knöpfel weiter.

Auch positive Eigenschaften können in Stresssituationen negative Auswirkungen haben, etwa wenn Durchsetzungsstärke in Arroganz umschlägt. Häufig sind Personen mit einem schlechten oder übersteigerten Selbstbewusstsein Pretender.

Mitarbeiter wie Führungskräfte können vom «So-tun-als-ob»-Syndrom betroffen sein. Je höher in der Hierarchie der Pretender aber steht, umso stärker sind die Auswirkungen. Das grösste Problem: Die Mitarbeiter merken, dass ihr Chef anders ist, als er vorgibt zu sein. Die mangelnde Authentizität des Vorgesetzten kann dazu führen, dass sich Mitarbeiter schlecht mit der Firma, ihren Zielen oder dem Vorgesetzten identifizieren. Damit sinkt die Motivation ebenso wie die Leistung, die Fluktuation steigt.

Umstrukturierungen können Pretending begünstigen

Die Ursachen des Pretendings sind verschieden. Eine Möglichkeit ist das Peter-Prinzip: Ein Mitarbeiter steigt so lange in der Hierarchie auf, bis es zu weit ist und der Posten seine Fähigkeiten überschreitet. Auch Umstrukturierungen sind häufig Ursache von Pretending: Führungskräfte müssen Aufgaben übernehmen, für die sie sich nicht eignen oder ungenügend interessieren.

Für das Problem gibt es zwei Lösungen. «Zum einen muss die Organisation im Unternehmen angeschaut werden: Sind die richtigen Leute in den richtigen Positionen», erklärt Knöpfel. Dafür müsse definiert werden, welche Kriterien und Anforderungen für die entsprechende Stelle relevant sind und die Stelle entsprechend besetzt werden. Zum anderen müssten Unternehmen die Persönlichkeit des Mitarbeiters unter die Lupe nehmen. «Firmen müssen ein System entwickeln, das die Stärken und Schwächen der Mitarbeiter aufzeigt.» Das könne in Assessments, 360-Grad-Feedback oder durch Führungspersönlichkeits-Training geschehen, sagt Knöpfel.

Reine Führungstrainings bringen nach Ansicht von Knöpfel nichts, da dort keine Stresssituationen erzeugt werden. Doch erst im Stress würden sich wahre Stärken und Schwächen zeigen. Mit gezielten Coachings und Trainings dagegen können Stärken und Schwächen ausfindig gemacht und deren Auswirkungen in Stresssituationen aufgezeigt werden. Je nach Ergebnis müsse eine Umplatzierung der Führungskraft ins Auge gefasst werden. «Pretender gestehen sich selbst ein, dass sie sich nicht authentisch verhalten, nicht aber anderen. Meist sind sie auch unglücklich deshalb und froh um eine Umplatzierung», sagt Knöpfel.

In der Schweiz entstehen gemäss einer Studie schätzungsweise neun bis zehn Milliarden Euro Schaden durch mangelnde Motivation und Identifikation der Mitarbeiter. Da Vorgesetzte mit dem «So-tun-als-ob»-Syndrom die Ursache dafür sein können, müssen diese frühzeitig erkannt werden. «Das ist bereits im Bewerbungsprozess erkennbar, wenn man die richtigen Fragen stellt», sagt Knöpfel.

Boxen zur Enttarnung

Auch die Dictus bietet Seminare an, um Führungskräften aufzuzeigen, wie sie in Stresssituationen reagieren. Und zwar werden die Führungskräfte in den Boxring gestellt: «Beim Boxen stehen die Leute unter mentalem und physischem Stress. Im Sparring sind die Führungskräfte alleine, wie im Unternehmen auch. Sie müssen Entscheidungen treffen, und zwar schnell», sagt Knöpfel. Er nennt ein Beispiel: Eine Führungskraft habe sich selbst als eher zurückhaltend beschrieben. Kaum stand sie jedoch im Boxring und wurde durch den Trainer provoziert, griff sie diesen frontal an.

Anhand des Verhaltens beim Boxen können die Experten dann Rückschlüsse ziehen, wie sich eine Führungskraft im Geschäft unter Stress verhält. Ziel ist, ihnen die Augen zu öffnen, damit sie ihr Verhalten korrigieren können.

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