Coaching hilft ADSlern, Strukturen zu finden und ihre Qualitäten zu entdecken
Unbehandelt kann ADS viele Lebensbereiche beeinträchtigen. Mangelnde Organsiations- und Strukturierungsfähigkeiten führen oft zu Schwierigkeiten im Familien- und Berufsleben. Die Folge sind Beziehungsprobleme oder häufige Wechsel der Arbeitsstelle. Ein Coaching hilft, individuelle Lösungen zu finden, um den Alltag besser in den Griff zubekommen.
«Oftmals hatte ich das Gefühl, alles wächst mir über den Kopf, ich schaffe das nicht», sagt Klaus Müller*. Schon als Kind hatte er es in der Schule schwer, dies zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausbildung. «Das Abitur habe ich mit Ach und Krach geschafft», das Studium der Betriebswirtschaftslehre brach er dann aber ab. Viele Erwachsene mit ADS berichten, dass ihre Aufmerksamkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter stark aufgefallen ist. Bis vor kurzem ging man davon aus, dass ADS beziehungsweise ADHS nur im Kindes- beziehungsweise Jugendalter vorkommt. «Heute weiss man, dass ADS sich nicht auswächst», sagt ADS-Coach Petra Halbig aus Nürnberg. Betroffene würden jedoch oft zunächst auf Depressionen diagnostiziert und behandelt, ohne dass die Störung ADS berücksichtigt werde.
Abhängigkeit vom Coach wird vermieden
Eine eindeutige Diagnose ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Aufgrund der komplexen Problematik von ADS sollte diese immer verschiedene Komponenten umfassen und auf jeden Fall individuell ausgerichtet sein. Neben psychoanalytischen oder verhaltenstherapeutischen Massnahmen, sind Bio- oder Neurofeedback weitere Möglichkeiten, mit denen sich soziale Fertigkeiten, Selbstreflexion, Organisation, Aufmerksamkeit oder Konzentration trainieren lassen. «Während für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre spezielle Medikamente verschrieben werden können, ist in Deutschland derzeit noch kein Stimulans zur Behandlung speziell für ADS bei Erwachsenen zugelassen», so Halbig. Mit ihrem speziellen Coachingkonzept will sie betroffenen Erwachsenen helfen, mit ADS erfolgreich im Leben zu stehen und ihre eigenen Stärken zu entfalten. Ihr wichtigster Grundsatz: «Die Lösung liegt beim Coachee selbst, wir helfen dabei, den Blick für Lösungswege zu schärfen.» Für sie gehört dazu auch der provokante und humorvolle Ansatz.
Während des Coachings reflektiert Halbig mit dem Coachee dessen Alltag und begleitet ihn Stück für Stück bei der Suche nach einer individuellen Lösung. «Beim weiteren Bau seines Lebensplans lassen wir ihn dann allein, um bewusst eine Abhängigkeit zum Coach zu vermeiden.» Ziel des Coachings ist, dass die Betroffenen lernen, lösungsorientiert zu denken und bewusst aus Teufelskreisen auszusteigen. «Wenn sie ihre Grenzen und Besonderheiten akzeptieren, sehen sie ADS oft nicht mehr als Krankheit, sondern als eine Gabe, mit der es möglich ist, zu Höchstleistungen zu gelangen», so Halbig.
Auf den letzten Drücker oder alles gleichzeitig
Nachdem Müller sein Studium abgebrochen hatte, fiel er in ein tiefes Loch. «Ich habe mir Hilfe bei einem Neurologen gesucht», erinnert er sich. Geholfen haben erst einmal Medikamente. Müller bekam ein Antidepressivum. «Doch nach Absetzen der Medikamente wurde ich sofort wieder in alte Verhaltensweisen zurückgeworfen.» Per Zufall hörte er von der ADS-Lernwerkstatt Halbigs. Bereits nach einem ersten Gespräch habe er sich für ein Coaching entschieden. Dadurch habe er erkannt, dass Strukturlosigkeit, Stimmungsschwankungen und falsche Lerntechniken ihn oftmals blockieren und welche Ressourcen er eigentlich zur Verfügung hat. «Bereits im Coaching habe ich begonnen, bewusst meine Qualitäten kennen zu lernen und erste Schritte zur Erlangung der Ziele zu gehen.» Es stellte sich heraus, dass seine Stärken im Umgang mit Menschen liegen. Auch sei ihm endlich bewusst geworden, dass ihm das auditive Lernen leichter fällt, als stundenlang über Büchern zu sitzen.
Dass ADSler immer wieder Probleme im Alltag bekommen, liegt vor allem an mangelnder Selbstorganisation und fehlendem Zeitmanagement. Bei Halbig lernen Betroffene daher auch, ihren Tagesablauf besser zu strukturieren. Dazu gehört, grosse Aufgaben in mehrere kleine aufzuteilen und diese wirklich Schritt für Schritt abzuarbeiten. Auch gilt es herauszufinden, welche Aufgaben am besten selbst und welche von anderen Personen besser organisiert werden können. «Das Nutzen von Ressourcen und die Suche nach Ressourcen sind ein wichtiger Baustein», so Halbig. «Wir machen den Klienten mit ADS jeden kleinsten Erfolgsschritt durch positive Verstärkung bewusst.»
ADSler neigen oft dazu, Dinge entweder auf den letzten Drücker zu erledigen oder mehrere Dinge gleichzeitig anzugehen. Nach einem sehr geballten Zeitplan fühlen Sie sich oft völlig kraft- und energielos. Manche sind auch Meister darin, ihre Aufgaben immer weiter aufzuschieben, bis sie vor einem grossen Berg Arbeit stehen. Strategien zum planvolleren Arbeiten und zur effizienten Zeiteinteilung sind daher ein weiterer Teil des Coachings. «Wichtig dabei ist es, anfänglich jeden einzelnen Schritt zur Zielerreichung zu kontrollieren. Wenn der ADSler erst das planvollere Vorgehen automatisiert hat, wird er mit dieser Struktur auch künftig lösungsorientiert an Aufgaben herangehen können», erklärt Halbig. Die Voraussetzung dafür, dass sie verlässliche Hilfsmittel einsetzen kann, ist, die innere Struktur des Klienten zu erkennen: Was treibt ihn an, was bremst ihn aus, wie arbeitet sein «inneres Team»? Die Antworten helfen dem Coachee zu verstehen, warum ihm bis heute viel misslang und was ihm morgen helfen kann.
Müller hat seine Ausbildung inzwischen erfolgreich abschliessen können und gibt heute Seminare für Konfliktmanagement und Kommunikation in verschiedenen Unternehmen. «Antidepressiva brauche ich heute nicht mehr. Ich habe erkannt, dass man mit ADS Höhen und Tiefen in Extremen lebt.»
* Name von der Redaktion geändert
Ausgezeichnetes Konzept
Für ihr Konzept erhielt Petra Halbig auf der Coaching Convention im April in Köln den Coaching Award. Die unabhängige Jury würdigte die «Erste Hilfe für ADSler und den lösungsorientierten Ansatz, welcher die systemische Einbindung aller Beteiligten zum Wohle des Betroffenen berücksichtigt». Halbig bildet an ihrem spezialisierten Institut für ADS zum systemischen ADS-Coach aus und bietet anschliessend eine selbstständige Kooperation an. Die Nachfrage nach dieser Ausbildung hat sich bei Halbig im vergangenen Jahr verdoppelt.