Verkehrte Welt?
Dass sie dafür nicht nur Selbstdisziplin, sondern auch eine gehörige Portion Glück gebraucht hat, ist Heller bewusst. Die Welt, die sich die Hellers aufgebaut haben, ist noch immer eine seltene Welt. «In der Schweiz ist es für Mütter nicht einfach. Mein beruflicher Erfolg war für meinen Mann nie ein Problem, im Gegenteil. Er ist ein enorm engagierter Vater.» Auch die Kinder finden dieses Leben völlig normal. Es istimmer jemand da für sie und in den Ferien organisierte die Familie über mehrere Jahre Reitlager für andere Kinder, das Haus ist ständig voller Leben.
Die Schwierigkeiten kommen, falls überhaupt, eher von aussen. «Es gibt immer noch Menschen, die denken, ein Hausmann sei kein richtiger Mann und nur eine Mutter könne die Kinder grossziehen.» Besonders gut merke man das beispielsweise bei Elternabenden. Väter sind da zwar gern gesehen – als Begleiter der Mütter. Aber wenn die Mütter nicht kommen? Das passt noch immer so gar nicht ins Bild mancher Lehrkräfte. «Die Männer haben es auf dieser Seite des Lebens sehr schwer. Wenn die Kinder etwas ausgefressen haben, wollen alle immer die Mutter sprechen.» Und wenn die nicht da ist, heisst es auch schon mal: «Warum setzt du vier Kinder in die Welt, wenn du Vollzeit arbeiten willst?» «Da muss man leer schlucken. Manchmal war es ein ziemlicher Kraftakt, unseren Weg zu gehen.»
Gut, dass die Vorurteile ihren Mann nie gross gekümmert haben und er gelassen so weitermachte, wie er es für richtig befand. Heller wünscht sich, dass mehr Frauen sich trauen, früh Kinder zu haben und Erziehung und Haushalt gemeinsam mit ihren Männern zu organisieren. «Ich finde es schade, dass viele Frauen, die Karriere machen wollen, erst spät Kinder haben. Hätte ich das getan, hätte ich heute sicher nicht vier.»
Am Ziel – und es geht weiter
Bevor Marcelle Heller zur Krebsliga kam, war sie zwei Jahre im Gesundheitsdepar tement tätig. Sie organisierte Beschäftigungsprogramme für Asylbewerber. Dann erhielt sie das Angebot für eine leitende Stelle bei der kantonalen Krebsliga im Aargau. In dieser Funktion begleitete sie ihre Mitarbeiter manchmal zu Kranken in der letzten Lebensphase. «Diese Begegnungen haben mich geprägt. Ich habe grosse Hochachtung vor allen Menschen, die sich um andere in dieser Form kümmern.»
Nach neun Jahren in Aarau wechselte sie 2009 als CEO zur Krebsliga Schweiz, der Dachorganisation, die sich zu 80 Prozent durch Spenden finanziert, einem im Vergleich mit anderen gemeinnützigen Organisationen in der Schweiz sehr hohen Anteil. Der Rest kommt vom BAG oder über Sponsoringbeiträge, wie beispielsweise bei der Sonnenschutzkampagne. Am Herzen liegt ihr nebst vielem anderem auch das nationale Krebsregister, das leider im Moment noch sehr schlecht finanziert ist. «Dabei sind diese Daten sehr wichtig für die Forschung und den kantonalen Vergleich.» Grundsätzlich basiert die Arbeit der Krebsliga Schweiz auf drei Säulen: Prävention und Früherkennung, psychosoziale Unterstützung und Forschungsförderung. 87 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören zum Team der Krebsliga Schweiz, das Heller führt. Herzlichkeit und Humor sind ihr dabei sehr wichtig, zumal sich die tägliche Arbeit letztlich stets um Krankheit und Tod dreht.
Einen grossen Teil ihrer Arbeitszeit verbringt sie jedoch nicht am Schreibtisch in Bern, sondern draussen, in Politik und Wirtschaft. Repräsentieren ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Schliesslich geht es darum, Bewusstsein zu schaffen für die Anliegen der Krebsliga und die entsprechenden Mittel aufzutreiben. Denn Krebs geht längst alle etwas an. Gerne erinnert sie sich an den Solidaritätsmarsch vom 29. Mai 2010 anlässlich des Hundertjahrjubiläums der Krebsliga. «Es war ergreifend, wie viele Menschen aus allen Teilen des Landes zu dieser Solidaritätsbekundung zusammenkamen», sagt sie. «In so einem Moment wird auch der Erfolg unserer Arbeit etwas sichtbarer.»
Jeder Mensch soll wählen können, wo er sterben will
Marcelle Hellers Anspruch ist, allen Krebs patienten bestmögliche Betreuung und Behandlung zukommen zu lassen. Was sie dabei besonders beschäftigt: «Ich durfte wählen, wo ich meine Kinder zur Welt bringen wollte. Aber noch immer kann nicht jeder in der Schweiz wählen, wo er sterben will.» Sie hat erlebt, wie eine Bekannte im Spital unter intensiven Schmerzen starb und dachte damals: «Wir fliegen auf den Mond und können nicht schmerzfrei sterben.» Lebensqualität bis zum Ende muss das Ziel sein. An einigen Orten ist dies mittlerweile möglich, nicht zuletzt dank den grossen Anstrengungen der Krebsliga im Bereich Schmerzmanagement und Palliative Care. «Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis jede und jeder in der Schweiz auch wirklich gleichwertige Chancen hat auf eine gute Versorgung, unabhängig vom Wohnort.» Dafür will sich die Geschäftsführerin der Krebsliga Schweiz starkmachen.
Wenn Heller nach der Arbeit heimkommt, kann sie gut abschalten. In dem Moment, wo sie die Haustür öffnet, ist der Job weit weg. Eine Zeit lang hatte sie eine Wohnung in Bern, doch da konnte sie überhaupt nicht loslassen. «Aber zu Hause im Familienchaos geht das sofort und sehr gut.» Obwohl: Selbst in den Ferien vergisst sie nicht, was ihr schon als kleines Mädchen wichtig war: wo immer möglich einen kleinen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Und so hat sie vor zwei Jahren einen kleinen Reiseveranstalter gegründet, welcher ökologisch und sozial vertretbare Reisen anbietet. Getreu dem Motto, das sie und ihr Mann seit vielen Jahren teilen: Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.
Marcelle Heller
wurde am 15. Februar 1967 in Bülach geboren. Nach der Handelsschule absolvierte sie eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete in
verschiedenen Bereichen als Büroangestellte. 1997 holte sie auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach und studierte an der Fernuniversität Hagen Psychologie und Pädagogik. Nach dem Grundstudium wechselte sie in die breite Managementausbildung. Sie erwarb ein Diplom für Verbandsmanagement und im Jahr 2008 ein MBA an der Fachhochschule Ostschweiz für Technik und Wirtschaft in Chur. Neun Jahre war sie bei der kantonalen Krebsliga Aargau tätig, seit 2009 arbeitet sie für die Krebsliga Schweiz. Im gleichen Jahr gründete sie mit Swiss Ecotours einen Reiseveranstalter für faires Reisen.
Marcelle Heller lebt mit ihren vier Kindern und ihrem Mann in Erlinsbach.