Porträt

Das Familienchaos hilft der Chefin,
 nach dem Berufsalltag abzuschalten

Marcelle Heller wollte schon als Kind Gutes tun und Glück verbreiten – gemeinsam mit einer grossen Familie und vielen Tieren. Nachdem sie vier Kinder geboren hatte, holte sie die Matura nach und studierte. Heute arbeitet sie für die Krebsliga Schweiz und organisiert faire Reisen – alles nicht zuletzt dank ihres verständnisvollen Ehemannes.

Als sie ihren Mann kennenlernte, war ihr gleich klar: Das ist er, der Vater meiner Wunschkinder. Doch Marcelle Heller, Geschäftsführerin der Krebsliga Schweiz, hatte noch mehr vor, als nur eine grosse Familie zu gründen. Sie wollte Glück teilen, verbreiten. Konkret: Sie wollte einen Beruf, in dem sie Gutes bewirken konnte. Als kleines Mädchen plante sie, Tierärztin zu werden. Doch in einem Schnupperpraktikum merkte sie, dass sie Tiere lieber privat um sich hat, statt ihnen Spritzen zu verpassen oder sie zu sterilisieren.

Das war das Ende des Tierärztinnentraums. Was blieb, war der tiefe Wunsch,
Positives zu stiften: «Ich bin eine Idealistin. Ich glaube bis heute daran, dass man die Welt wirklich verbessern kann und dass jeder noch so kleine Beitrag zählt.» Und weil Marcelle Heller wusste, dass mehr erreichen kann, wer mehr zu sagen hat, gab es nur einen Weg: Sie musste eine gute Ausbildung machen. Die Frage war nur: Wie sollten all diese Lebenspläne unter einen Hut passen? Kinder, möglichst früh, ein Haus voller Tiere und eine einflussreiche Position in einer humanitären Organisation? Die Antwort lag auf der Hand: Sie brauchte Unterstützung. Und sie bekam sie. Ihr Mann war sehr gern bereit, sich dafür über alle Konventionen hinwegzusetzen und vom Zimmermann zum zimmernden Hausmann zu werden.

Doch bis dahin sollte es noch ein paar
 Geburten dauern. Mit 20 bekam Heller das erste Kind, dann alle zwei Jahre eins, immer abwechselnd ein Meitli, einen Bub, ein Meitli und wieder einen Bub. Als frisch gebackene Mama blieb sie erst einmal zu Hause bei ihren Kindern. Bis ihr Mann zu ihr sagte: «Du hast ja einen Traumjob als Frau, hier zu Hause.» Da nahm sie ihn beim Wort und entgegnete: «Super, dann kannst du ja Hausmann werden.» Er war einverstanden.

Als das jüngste Kind drei Jahre alt war, holte die gelernte kaufmännische Angestellte mit Handelsschulabschluss die Matura nach. Immer mittwochnachmittags und samstags drückte sie die Schulbank, ihre Mutter und ihr Mann teilten sich die Kinderbetreuung. «Das war stressiger als alles, was ich später noch tun sollte», kommentiert sie diese dreieinhalb Jahre. Niemals, erzählt sie, hätte sie dies durchgehalten, wenn ihr Mann sie nicht unterstützt hätte. «Ich bin so stolz auf dich, dass du dich das traust», sagte er und schenkte ihr zum Schulanfang einen Blumenstrauss. An den erinnerte sich Marcelle Heller stets, wenn sie wieder mal fast der Mut verliess, sie nah am Aufgeben war. Er sagte ihr: «Du kannst das.» Denn die Matura war erst das Fundament für das Studium, welches sie brauchte, um in einer humanitären Organisation mitzureden.

Damit sie trotz ihrer Ambitionen möglichst oft und nah bei ihrer Familie sein
konnte, wählte sie nach bestandener Matura ein Studium in Psychologie und Pädagogik an der deutschen Fernuniversität Hagen. In dieser Zeit blieb sie mit einem 70-Prozent-Pensum im Büro tätig, schliesslich will die grosse Familie auch ernährt sein. Nach dem Grundstudium folgte das Diplom in Verbandsmanagement und anschliessend erwarb sie einen MBA in General Management. Der lange Weg hat sich gelohnt: Heute hat die 43-Jährige eine Familie mit vier erwachsenen Kindern, vielen Tieren – zeitweise waren es neben Katze und Hund bis zu neun Ponys –  und ist Geschäftsführerin der Krebsliga Schweiz.

Verkehrte Welt?

Dass sie dafür nicht nur Selbstdisziplin,
sondern auch eine gehörige Portion Glück
gebraucht hat, ist Heller bewusst. Die Welt, die sich die Hellers aufgebaut haben, ist noch immer eine seltene Welt. «In der Schweiz ist es für Mütter nicht einfach. Mein beruflicher Erfolg war für meinen Mann nie ein Problem, im Gegenteil. Er ist ein enorm engagierter 
Vater.» Auch die Kinder finden dieses Leben völlig normal. Es istimmer jemand da für sie und in den Ferien organisierte die Familie über mehrere Jahre Reitlager für andere 
Kinder, das Haus ist ständig voller Leben.

Die Schwierigkeiten kommen, falls überhaupt, eher von aussen. «Es gibt immer noch Menschen, die denken, ein Hausmann sei kein richtiger Mann und nur eine Mutter könne die Kinder grossziehen.» Besonders gut merke man das beispielsweise bei Elternabenden. Väter sind da zwar gern gesehen – als Begleiter der Mütter. Aber wenn die Mütter nicht kommen? Das passt noch immer so gar nicht ins Bild mancher Lehrkräfte. «Die Männer haben es auf dieser Seite des Lebens sehr schwer. Wenn die Kinder etwas ausgefressen haben, wollen alle immer die Mutter sprechen.» Und wenn die nicht da ist, heisst es auch schon mal: «Warum setzt du vier Kinder in die Welt, wenn du Vollzeit arbeiten willst?» «Da muss man leer schlucken. Manchmal war es ein ziemlicher Kraftakt, unseren Weg zu gehen.»

Gut, dass die Vorurteile ihren Mann nie gross gekümmert haben und er gelassen so weitermachte, wie er es für richtig befand. Heller wünscht sich, dass mehr Frauen sich trauen, früh Kinder zu haben und Erziehung und Haushalt gemeinsam mit ihren Männern zu organisieren. «Ich finde es schade, dass viele Frauen, die Karriere machen wollen, erst spät Kinder haben. Hätte ich das getan, hätte ich heute sicher nicht vier.»

Am Ziel – und es geht weiter

Bevor Marcelle Heller zur Krebsliga kam,
war sie zwei Jahre im Gesundheitsdepar
tement tätig. Sie organisierte Beschäftigungsprogramme für Asylbewerber. Dann erhielt sie das Angebot für eine leitende Stelle bei der kantonalen Krebsliga im Aargau. In dieser Funktion begleitete sie ihre Mitarbeiter manchmal zu Kranken in der letzten Lebensphase. «Diese Begegnungen haben mich geprägt. Ich habe grosse Hochachtung vor allen Menschen, die sich um andere in dieser Form kümmern.»

Nach neun Jahren in Aarau wechselte sie 2009 als CEO zur Krebsliga Schweiz, der Dachorganisation, die sich zu 80 Prozent durch Spenden finanziert, einem im Vergleich mit anderen gemeinnützigen Organisationen in der Schweiz sehr hohen Anteil. Der Rest kommt vom BAG oder über Sponsoringbeiträge, wie beispielsweise bei der Sonnenschutzkampagne. Am Herzen liegt ihr nebst vielem anderem auch das nationale Krebsregister, das leider im Moment noch sehr schlecht finanziert ist. «Dabei sind diese Daten sehr wichtig für die Forschung und den kantonalen Vergleich.» Grundsätzlich basiert die Arbeit der Krebsliga Schweiz auf drei Säulen: Prävention und Früherkennung, psychosoziale Unterstützung und Forschungsförderung. 87 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehören zum Team der Krebsliga Schweiz, das Heller führt. Herzlichkeit und Humor sind ihr dabei sehr wichtig, zumal sich die tägliche Arbeit letztlich stets um Krankheit und Tod dreht.

Einen grossen Teil ihrer Arbeitszeit verbringt sie jedoch nicht am Schreibtisch in Bern, sondern draussen, in Politik und Wirtschaft. Repräsentieren ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Schliesslich geht es darum, Bewusstsein zu schaffen für die Anliegen der Krebsliga und die entsprechenden Mittel aufzutreiben. Denn Krebs geht längst alle etwas an. Gerne erinnert sie sich an den Solidaritätsmarsch vom 29. Mai 2010 anlässlich des 
Hundertjahrjubiläums der Krebsliga. «Es war ergreifend, wie viele Menschen aus allen 
Teilen des Landes zu dieser Solidaritätsbekundung zusammenkamen», sagt sie. «In so einem Moment wird auch der Erfolg unserer Arbeit etwas sichtbarer.»

Jeder Mensch soll wählen können, wo er sterben will

Marcelle Hellers Anspruch ist, allen Krebs
patienten bestmögliche Betreuung und Behandlung zukommen zu lassen. Was sie dabei besonders beschäftigt: «Ich durfte wählen, wo ich meine Kinder zur Welt bringen wollte. Aber noch immer kann nicht jeder in der Schweiz wählen, wo er sterben will.» Sie hat erlebt, wie eine Bekannte im Spital unter intensiven Schmerzen starb und dachte damals: «Wir fliegen auf den Mond und können nicht schmerzfrei sterben.» Lebensqualität bis zum Ende muss das Ziel sein. An einigen Orten ist dies mittlerweile möglich, nicht zuletzt dank den grossen Anstrengungen der Krebsliga im Bereich Schmerzmanagement und Palliative Care. «Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis jede und jeder in der Schweiz auch wirklich gleichwertige Chancen hat auf eine gute Versorgung, unabhängig vom Wohnort.» Dafür will sich die Geschäftsführerin der Krebsliga Schweiz starkmachen.

Wenn Heller nach der Arbeit heimkommt, kann sie gut abschalten. In dem Moment, wo sie die Haustür öffnet, ist der Job weit weg. Eine Zeit lang hatte sie eine Wohnung in Bern, doch da konnte sie überhaupt nicht loslassen. «Aber zu Hause im Familienchaos geht das sofort und sehr gut.» Obwohl: Selbst in den Ferien vergisst sie nicht, was ihr schon als kleines Mädchen wichtig war: wo immer möglich einen kleinen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Und so hat sie vor zwei Jahren einen kleinen Reiseveranstalter gegründet, welcher ökologisch und sozial vertretbare Reisen anbietet. Getreu dem Motto, das sie und ihr Mann seit vielen Jahren teilen: Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.

Marcelle Heller

wurde am 15. Februar 1967 in Bülach geboren. Nach der Handelsschule absolvierte sie eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete in
verschiedenen Bereichen als Büroangestellte. 1997 holte sie auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nach und studierte an der Fernuniversität Hagen Psychologie und Pädagogik. Nach dem Grundstudium wechselte sie in die breite Managementausbildung. Sie erwarb ein Diplom für Verbandsmanagement und im Jahr 2008 ein MBA an der Fachhochschule Ostschweiz für Technik und Wirtschaft in Chur. Neun Jahre war sie bei der kantonalen Krebsliga Aargau tätig, seit 2009 arbeitet sie für die Krebsliga Schweiz. Im gleichen Jahr gründete sie mit Swiss Ecotours einen Reiseveranstalter für faires Reisen.
Marcelle Heller lebt mit ihren vier Kindern und ihrem Mann in Erlinsbach.

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