Herr Thom, haben Sie den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis in der Schweiz während Ihrer Jahre am IOP für ausreichend gehalten?
Norbert Thom: Ich habe stets den Kontakt gesucht und auch gefunden. Mein Schwerpunkt lag immer auf der empirischen Forschung und daher gab es regen Austausch mit der Praxis. Mit der Einschränkung allerdings, dass wir vor allem in Grossunternehmen geforscht haben. Dort sitzen viele unserer Absolventen in Führungspositionen und wir haben ein grosses Netzwerk. An die KMU heranrzukommen, ist schwieriger. Sie sind zum einen mit Arbeit überlastet und halten uns zum andern manchmal für realitätsfremd.
Welche Themen interessieren Praktiker denn am meisten?
Wir haben an unserem Institut auswerten lassen, was in den einschlägigen Fachzeitschriften steht. Das Topthema Nummer 1 ist die Personalentwicklung: Von 2251 ausgewerteten Artikeln waren 397 Fachbeiträge über dieses Thema. Und nach Ansicht vieler Praktiker bleibt das auch so. Das zweitwichtigste Thema ist das strategische Personalmanagement. Das ist natürlich von grosser Wichtigkeit, um von der Unternehmensleitung ernst genommen zu werden. Dort gibt es aber auch noch die grössten Defizite, und das wissen die von uns befragten HR-Verantwortlichen. Es ist aber nicht so schlimm, dass sie dort noch nicht so weit sind, wir können da von wissenschaftlicher Seite helfen ... (lacht).
Wie denn?
Indem wir unsere Ergebnisse so an den Mann oder die Frau bringen, dass jeder Lernwillige zu besseren Einsichten gelangen kann. Von meinem ehemaligen Chef in Köln habe ich gelernt: Wenn du es nicht schaffst, deine wissenschaftlichen Ergebnisse gut zu kommunizieren, wirst du von der Praxis nicht mehr ernst genommen. Darum habe ich auch in meiner Abteilung eine Kultur geschaffen, unsere Ergebnisse verständlich zu publizieren. Das ist natürlich anspruchsvoll, denn die wissenschaftliche Sprache ist meist eine andere.
Wie leicht fällt es Ihnen, als Wissenschaftler die Ergebnisse in einfacher Sprache aufzubereiten?
Ich glaube, es im Laufe der Jahre ganz gut gelernt zu haben. Wir hatten mal eine Studie zum Thema Chefs, die nicht delegieren können, und haben dazu den Titel «Wenn der Chef gefährlich wird» gefunden. So verkauft sich ein Thema hervorragend. Selbstverständlich muss man darauf achten, dass die Fachkollegen einem nicht vorwerfen können, zu populärwissenschaftlich zu sein.
Wie hoch ist die Bereitschaft des HR, mit Universitäten und Fachhochschulen zusammenzuarbeiten?
Wachsend. Die intelligenten HR-Leiter wissen schon lange, dass sie sich mit Universitäten und Fachhochschulen verbinden und Masterarbeiten anfertigen lassen sollten. Wenn sie Steuergelder, die sie ohnehin schon bezahlt haben, besser nutzen, können sie viel lernen und gute Fortschritte machen. Es ist einfach wichtig, sich im HR selbst zu hinterfragen. Wer das nicht macht, bleibt eine subalterne und damit nicht ernst zu nehmende Einheit.
Was ärgert Sie am meisten, wenn Sie die Praxis beobachten?
Lange ärgerte mich, dass das Thema Demographie nicht gebührend wahrgenommen wurde. Erst nach langen Kämpfen hat nun das Interesse zugenommen. Worüber ich mich auch oft ärgere, ist, wie dümmlich Mitarbeiterbefragungen ausgewertet werden.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Oft berauschen sich die Verantwortlichen daran, dass 80 Prozent der Mitarbeiter sagen, sie seien zufrieden. Aber das sagt wenig aus: Vielleicht sind sie resignativ zufrieden und äussern Zufriedenheit nur, weil es noch schlechter sein könnte. Und unter den 20 Prozent Unzufriedenen sind vielleicht viele konstruktiv Unzufriedene. Das sind die Wertvollsten, die wenigstens noch was verbessern wollen. In solchen Fragestellungen hat die intelligente Personalabteilung ein überlegenes Wissen über den Menschen, das keine andere Abteilung hat. Hier können sie sich profilieren. Und über geschickte Interpretationen der immergleichen Kennzahlen zu hilfreichen Ergebnissen für das Unternehmen gelangen. Eigentlich sollte jeder Personalleiter ein kleiner Personalforscher sein.
Was hindert sie daran?
Es herrscht ja gerade eine regelrechte Kennzahlenflut. Und die operative Hektik trägt auch dazu bei, dass die adäquaten Interpretationen zu kurz kommen. Ein weiteres Beispiel sind etwa Weiterbildungstage. Das ist auch eine mehr oder weniger sinnlose und möglicherweise sogar irreführende Kennzahl. Wichtig war für den Mitarbeiter vielleicht nicht ein dreitägiges Seminar in einem tollen Hotel, sondern ein On-the-job-Coaching vom Arbeitskollegen. Das erscheint aber unter den Kennzahlen gar nicht. Die Kennzahlengläubigkeit ist zum Teil schlimm.
Was gibt es Positives zu berichten?
Die enorme Karriere der Betriebswirtschaftslehre und damit auch des Fachs Personalmanagement. In Deutschland ist die BWL grösstes Studienfach. In Bern waren wir früher die kleine Schwester der VWL, heute haben wir mehr als doppelt so viele Studierende. Diese haben erkannt, dass die BWL nützlich für sie ist. Und innerhalb der BWL hat das Fach Personalmanagement einen enormen Aufstieg erlebt. Nach Marketing sind wir das beliebteste Fach und auch attraktiv bei den Frauen. Ich bin also extrem froh, dass ich hier gelandet bin. Das Personalmanagement ist meine späte Liebe. In dieser Hinsicht sehen sie einen zufriedenen Menschen vor sich. Andere Fächer kämpfen mit zurückgehenden Studentenzahlen und ich habe fast zu viele.
Wie erklären Sie sich die Beliebtheit?
Mit dem Charme des Faches. Die Studierenden wissen, dass sie sich mit Personalmanagement nicht so festlegen. Geld und Menschen braucht es immer und überall. Das passende Personal ist ein wesentlicher Beitrag zum Unternehmenserfolg. Auch diejenigen, die nicht selbst führen, werden geführt und kommen auf diese Weise mit dem Thema in Berührung. Und Personalmanagement ist keineswegs nur das, was die Personalabteilung macht. Es müsste jede Führungskraft eine massive Schulung im Personalmanagement haben. Ausserdem ist das Fach sehr interdisziplinär und das habe ich auch stets versucht zu berücksichtigen. Der Austausch mit anderen Disziplinen, wie der Psychologie und Soziologie, war mir immer sehr wichtig. Die Universität ist ein grandioses Haus des Wissens und wir sollten nicht in unseren Boxen nebeneinander sitzen, ohne miteinander zu reden. Wir haben alle Voraussetzungen, ein umfassendes Paket anzubieten.
Wünschen Sie sich etwas mehr von dieser Denkweise im HR?
Ja. Schon in der Aus- und Weiterbildung müsste mehr vermittelt werden als nur Personalmanagement im engsten Sinn. Wer nur das lernt, bleibt vermutlich ein untergeordneter Sachbearbeiter, der weitgehend die Entscheidungen anderer ausführt und Probleme beseitigt. Personalentwicklung für Personalleute ist für mich ein wichtiges Thema. Personaler müssen auch einmal in anderen Projekten mitwirken, denn Wissen lässt sich nicht nur in Kursen erwerben. Jeder sollte Gelegenheiten in der Praxis suchen und sich für Projekte ausserhalb der eigenen Abteilung melden. Wer natürlich nur in administrativer Arbeit ersäuft, hat wenig Zeit für solche Sonderaufgaben.
Welche Themen haben denn in den letzten Jahren «Karriere» gemacht, welche sind eher die Stiefkinder?
Aufsteiger sind sicher das Gesundheitsmanagement und das elektronische HRM. Das Stiefkind der Forschung ist der öffentliche Sektor. Er wird in der Literatur deutlich zu wenig behandelt (nur 47 der 2251 Artikel). Das gehören nicht nur die Verwaltungseinheiten, sondern auch Unternehmen wie die Post und die Bahn, die zunehmend unternehmerisch tätig sind. Alles in allem ein sehr vielseitiges und spannendes Gebiet mit allerlei Besonderheiten. Dort können sich die Kollegen im Forschungsgebiet Public Management noch einen Namen machen. Denn als Wissenschaftler ist es wichtig, nicht nur die beliebten Themen zu erforschen, sondern vor allem auch die bisherigen Lücken.
Sie sind in Ihrer Forschung sehr praxisorientiert. Wie stehen Sie zur Laborforschung?
Die Praxis ist mein soziales «Labor»! Für mich hatte diese Art der Forschung immer den höchsten Nutzen. Und es ist auch das, was ich am besten kann. Laborforschung und Forschung, die auf mathematischen Modellierungen beruht, haben sicher auch ihre Berechtigung. Aber die Frage bleibt, wie dieses Wissen Praktikern verdeutlicht werden kann. Ein Student, der im Labor auf einen Anreiz von 20 Franken reagiert hat, ist nun mal kaum mit einem Manager vergleichbar, dem 20 Prozent seines Bonus gestrichen werden, weil es um ganz andere Relationen geht.