Der neue Gesamtarbeitsvertrag für temporär Arbeitende
Standpunkte und Erklärungen von swissstaffing, dem Interessenvertreter der Personalverleihfirmen.
Seit fast einem Jahr haben swissstaffing, der Verband der Personaldienstleister der Schweiz, und die Gewerkschaft Unia, die in den Verhandlungen auch weitere Arbeitnehmerorganisationen vertrat, intensiv und hart über einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für temporär Arbeitende verhandelt. Ende Mai 2008 haben sie sich auf die Eckwerte eines GAV geeinigt.
Über 60 Verträge mit sehr unterschiedlichen Inhalten
Die Ausgangslage präsentierte sich den Verhandlungspartnern folgendermassen: Der Personalverleih wird durch ein eigenes Gesetz geregelt, das Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG), das seit 1991 in Kraft ist. Es verpflichtet die Personalverleihfirmen auf die Einhaltung (bestimmter Bestimmungen) aller GAV, die allgemeinverbindlich erklärt sind, das heisst für alle Mitglieder einer Branche (beispielsweise alle Baufirmen und deren Angestellte) gelten. Das Besondere dabei ist, dass temporär Arbeitende in verschiedenste Branchen verliehen werden. Je nachdem, wo nun eine temporär arbeitende Person eingesetzt wird, ist ein anderer GAV relevant. Bis heute waren von allen temporär Arbeitenden ca. 30 Prozent einem solchen allgemeinverbindlich erklärten GAV unterstellt. Für die anderen ca. 70 Prozent galt bis anhin nur das AVG, da sie in Branchen verliehen wurden, in denen es keinen allgemeinverbindlich erklärten GAV gibt.
Die Verpflichtung auf die Einhaltung der allgemeinverbindlich erklärten GAV stellt für die Personalverleiher eine aus zwei Gründen suboptimale Situation dar: Erstens umfasst die Palette an allgemeinverbindlich erklärten GAV heute über 60 Verträge mit jeweils sehr unterschiedlichen Inhalten. Diese Vielfalt einzuhalten, stellt für die Personalverleiher eine beachtliche administrative Belastung dar. Zweitens waren diese allgemeinverbindlichen Branchen-GAV ohne jede Mitsprache der Personalverleiher ausgehandelt worden. Das den Personalverleihern verfassungsmässig zustehende Recht der Koalitionsfreiheit zum Schutz der eigenen Interessen wurde damit verletzt.
Eine neuartige GAV-Lösung
Die Herausforderung bestand somit darin, einen für alle temporär Arbeitenden geltenden, einheitlichen GAV auszuhandeln, der die Eigenheit dieser Arbeitsform und die Interessen der Personalverleiher berücksichtigt und gleichzeitig die Errungenschaften der verschiedenen bisher geltenden (allgemeinverbindlich erklärten) GAV aufrechterhält.
Rund 180000 temporär Arbeitende erhalten mit dem Vertragswerk neu einen GAV, der Mindestlöhne, Arbeitszeiten, Ferien- und Feiertagsentschädigungen, Weiterbildung, berufliche Vorsorge, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsfristen und Probezeit regelt. Für jene temporär Arbeitenden, die in Branchen eingesetzt werden, wo bisher ein allgemeinverbindlich erklärter GAV zur Anwendung kam, behält Letzterer in den Kernpunkten (Mindestlöhne und Arbeitszeiten) Vorrang. In allen weiteren Punkten kommen subsidiär die neu ausgehandelten Bestimmungen des Temporär-GAV zur Anwendung.
Die Beweggründe von swissstaffing
Verschiedene Gründe haben die bei swissstaffing organisierten Personalverleiher dazu bewegt, die Sozialpartnerschaft zu suchen. Erstens hat die Temporärarbeit einen massiven Boom erfahren. Der Branchenumsatz ist im letzten Jahrzehnt jährlich durchschnittlich um über 12 Prozent gewachsen. Mehr als 260000 Personen arbeiteten im Jahr 2007 temporär. Grund für den Boom sind u.a. Globalisierung und verschärfter internationaler Wettbewerb, die die Firmen zur Flexibilisierung von Produktion und Arbeit veranlassen. Damit ist die Nachfrage nach flexiblen Arbeitsformen wie etwa der Temporärarbeit stark angewachsen. Hinzu kommt ein auch auf Arbeitnehmerseite vorhandenes Bedürfnis nach flexiblen Arbeitsformen, die es erlauben, alternative Lebenspläne zu verwirklichen. Um sich als Arbeitsform der Zukunft zu etablieren, muss die Personalverleihtätigkeit auf gesunde Beine gestellt und im Arbeitsmarkt verankert werden. Die Sozialpartnerschaft bildet eine gute Basis dafür. Branchenregeln sollen verhindern, dass Einsatzbetriebe aus ihrem Flexibilitätsbedürfnis heraus über den Kanal des Personalverleihs Lohndumping betreiben. Unlauterer Wettbewerb mittels Preis- bzw. Lohndumping durch «schwarze Schafe» unter den Personalverleihern soll mit dem branchenweiten GAV ebenfalls verhindert werden. Das ausgehandelte Vertragswerk soll deshalb nur in Kraft treten, wenn es allgemeinverbindlich erklärt wird, d.h. für alle temporären Arbeitsverhältnisse zur Anwendung kommt.
Das den Personalverleihern verfassungsmässig zustehende Koalitionsrecht konnte swissstaffing mit der Aufnahme von GAV-Verhandlungen durchsetzen. Die Personalverleiher hatten bis heute kein demokratisches Mitspracherecht bei der Erarbeitung sie betreffender Regelwerke. Wurde ein von anderen Branchensozialpartnern ausgehandelter Gesamtarbeitsvertrag allgemeinverbindlich erklärt (beispielsweise der GAV fürs Bauhauptgewerbe), galt er umgehend auch für die Personalverleiher, obwohl sie nie Gelegenheit hatten, sich in die Aushandlung des Vertragswerkes einzubringen. Andere Branchensozialpartner hatten zudem die Möglichkeit, sich für die administrative Umsetzung ihres GAV mittels Vollzugsbeiträge zu entschädigen. Diese Möglichkeit stand den Personalverleihern bis dato nicht offen, da sie nicht Vertragspartner waren. So erwuchs ihnen administrativer Mehraufwand in Millionenhöhe, der nicht abgegolten werden konnte.
Die Inhalte des neuen GAV
Im Rahmen des GAV für temporär Arbeitende wurde eine nach Einsatzdauer differenzierte Regelung formuliert. Bei kurzen und einmaligen Temporäreinsätzen (von maximal dreimonatiger Dauer) steht die Flexibilität im Vordergrund. Es gelten kürzere Kündigungs- und Lohnfortzahlungsfristen im Krankheitsfall; die Pflicht zum Entrichten von BVG-Beiträgen entfällt. Bei längeren oder mehrmaligen Temporäreinsätzen (von insgesamt über dreimonatiger Dauer) wird hingegen ein höheres Mass an sozialer Sicherheit gewährleistet und gilt das auch auf EU-Ebene postulierte Gebot des equal treatment (Gleichbehandlung von temporär und fest Angestellten).
Hinzu kommt ein auf die Bedürfnisse der temporär Beschäftigten zugeschnittenes System von Weiterbildungsförderung. Ab der ersten Einsatzstunde erwerben sich temporär Arbeitende mit dem neuen GAV Namenpapiere, die sie für Weiterbildungskurse einlösen können.
Als Mindestlöhne gelten, wie erläutert, die in den branchenspezifischen, allgemeinverbindlich erklärten GAV festgelegten Löhne. Für jene rund 180000 temporär Arbeitende, die bisher keinem GAV unterstellt waren, wurden regionalisierte und nach Qualifikation differenzierte Mindestlöhne eingeführt. Die Berufsbeiträge für die Weiterbildung der temporär Arbeitenden und den Vollzug des GAV wurden hingegen über die gesamte Personalverleihbranche vereinheitlicht. Den Verleihern bringt dies eine administrative Entlastung. Und rund zwei Drittel der temporär Arbeitenden erhalten dadurch neu Ansprüche auf Weiterbildungsgutscheine und eine breitere soziale Absicherung durch den neuen GAV. Auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde neu einheitlich geregelt. Alle temporär Arbeitenden mit Einsätzen, die über eine dreimonatige Dauer hinausgehen, haben Anspruch auf 720 Krankentaggelder. Für kürzer eingesetzte temporär Arbeitende gilt eine nach Branche differenzierte Lösung.
Nutzen des GAV aus volkswirtschaftlicher Sicht
Aus makroökonomischer Sicht ist die (Teil-) Übertragung der Arbeitsmarktregulierung vom Gesetzgeber an die Sozialpartner zu begrüssen. Der Staat regelt damit insgesamt weniger; die Flexibilität des Arbeitsmarktes – ein wesentlicher Standortvorteil für die Schweiz – bleibt erhalten, was sich, wie viele volkswirtschaftliche Analysen zeigen, insgesamt positiv auf die Beschäftigung auswirkt und zu einer tieferen Arbeitslosigkeit führt. Die von den Sozialpartnern ausgehandelten Zusatzregeln können auf Branchen- oder gar Firmenniveau definiert werden. Es resultieren differenziertere, die Besonderheiten der jeweiligen Branche besser berücksichtigende Lösungen, als wenn der Staat schweizweit geltende Regeln festgesetzt hätte.
Der mit einem GAV erzielte soziale Frieden schützt vor volkwirtschaftlichen Effizienzverlusten durch Streiks. Denn für Arbeitnehmergruppen, die sich vertraglich mit ihren Arbeitgebern geeinigt haben, entfällt die Notwendigkeit des Streikmittels zur Durchsetzung ihrer Interessen.
Ein branchenweit geltender (also allgemeinverbindlich erklärter) GAV hat den Vorteil, einen allfälligen race to the bottom durch die Branchenunternehmen mittels Preis- bzw. Lohndumping oder sonstiger Form unlauteren Wettbewerbs zu verhindern. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass mit Branchenregeln auch die Gewerbefreiheit und damit gewisse positiven Effekte des Wettbewerbs – z.B. eine dämpfende Wirkung auf die Preise – eingeschränkt werden. Hinzu kommt, dass Mindestlöhne nach der volkswirtschaftlichen Lehre zu mehr Arbeitslosigkeit führen (können). Eine festgelegte Lohnuntergrenze birgt die Gefahr, dass Unternehmen auf andere und billigere Produktionsfaktoren – beispielsweise Maschinen statt Arbeitskräfte – oder auf günstigere Standorte ausweichen, sprich: Produktionsteile ins Ausland auslagern, wo tiefere Löhne bezahlt werden können. Damit gehen Arbeitsplätze in der Schweiz verloren und steigt die Arbeitslosigkeit. Umso wichtiger ist es, falls dennoch zum Mittel von Mindestlöhnen gegriffen wird, diese – wie im Falle des Temporär-GAV geschehen – nach Region und/oder Qualifikation zu differenzieren.
Es ist also wichtig, im Rahmen von gesamtarbeitsvertraglichen Lösungen ein Gleichgewicht zu finden, das die Marktkräfte lenkt, ihnen aber nicht entgegenwirkt. Die Idee der Flexicurity funktioniert ganz nach diesem Muster. Dass Globalisierung und Technologisierung die Funktionsweise der Wirtschaft umgestaltet haben, ist eine unumkehrbare Realität. Sie führt unter anderem zu Flexibilisierungsstrategien, ohne die die Unternehmen im verschärften Wettbewerb nicht überleben können. Die Flexibilisierung kann und darf also nicht unterbunden werden. Sie soll aber in einer Art und Weise kanalisiert werden, die das Überleben der Unternehmen weiterhin ermöglicht und gleichzeitig den Arbeitnehmenden die notwendige Beschäftigungs- bzw. Einkommenssicherheit gewährleistet. Erreicht wird dies einerseits mittels arbeitsmarktlicher Massnahmen durch den Staat (und möglicherweise die Sozialpartner), die die Arbeitsmarktfähigkeit der Stellensuchenden fördern, und andererseits mittels staatlicher Einkommenszuschüsse für allfällig entstehende Beschäftigungszwischenphasen.
Dass das Modell der Flexicurity und die an die Sozialpartner (teil-)delegierte arbeitsmarktliche Regelungskompetenz im Falle der Schweiz gut funktionieren, zeigt eine kürzlich erschienene Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen. Flexibilität des Arbeitsmarktes und soziale Sicherheit schlössen sich in der Schweiz nicht aus. Personen in sogenannt atypischen Arbeitsverhältnissen (befristete Arbeitsverhältnisse, Temporärarbeit, Arbeit auf Abruf etc.) seien gut gegen prekäre Lebensbedingungen abgesichert. Diese Arbeitsverhältnisse bedeuten laut der erwähnten Studie für die meisten Erwerbstätigen keine «Sackgasse», sondern seien oft die Vorstufe für ein reguläres Arbeitsverhältnis. Dies hat sich im Falle der Temporärarbeit bestätigt. Die während des Temporäreinsatzes gesammelten Erfahrungen und Kontakte helfen manchen temporär Arbeitenden, längerfristig einen festen Platz im Arbeitsmarkt zu finden. So erlangen knapp 50 Prozent der temporär Arbeitenden laut einer Umfrage von swissstaffing die gesuchte Festanstellung innerhalb eines Jahres.