Methoden

«Der Rekrutierungsprozess wird zu stark den HR-Leuten überlassen»

Für Divisionär Marco Cantieni, Kommandant der Höheren Kaderausbildung der Armee (HKA), ist Kaderrekrutierung ein Alltagsgeschäft. Auch wenn sich die 
militärische von der zivilen Kaderrekrutierung unterscheidet, ist für ihn klar: Die Wirtschaft könnte von der Armee viel 
lernen und profitieren.

Herr Cantieni, wodurch unterscheidet sich die militärische Kaderrekrutierung von der zivilen?

Marco Cantieni: Wenn ein Soldat seine obligatorische Wehrpflicht erfüllt und 
von seinen Vorgesetzten als geeignet für die Kaderausbildung qualifiziert wird, besucht er zwangsläufig einen Lehrgang der Armee. Deshalb handelt es sich nicht um Bewerbungsverfahren mit üblicher Ausschreibung, sondern um ein Selektionsverfahren aus der gesamten Zahl der Rekruten. Alle unsere zukünftigen «Kaderangehörigen» beginnen auf der gleichen Stufe.

Alle Ihre Führungskräfte mussten also zuunterst beginnen. Das ist in der zivilen Welt nicht so. Ist das ein Vorteil?

Ja. Einerseits kennen die zukünftigen Kader die Arbeitsweise und den Betrieb, andererseits sehen wir dadurch die gesamte mögliche Anzahl von Kandidaten. Bei Stelleninseraten von Unternehmen meldet sich ja wahrscheinlich nur ein Bruchteil von geeigneten Kandidaten.

Und welche Wettbewerbsnachteile haben Sie gegenüber der Wirtschaft?

Wir bezahlen Sold, die Wirtschaft Lohn, und da besteht doch eine erhebliche Differenz. Nichtsdestotrotz sind die Konditionen nicht schlecht: Wenn ich denke, dass ein angehender Leutnant während seiner Grundausbildung bei voller Verpflegung, Unterkunft und Ausbildung rund 50 000 Franken verdient, die er mehr oder weniger auf die hohe Kante legen kann, lässt sich das sehen.

Die Trumpfkarte Geld ist ja eher fragwürdig. Haben Sie tatsächlich das Gefühl, Geld könne die Leute dazu motivieren, in der Armee Karriere zu machen?

Nein, wohl kaum. Der primäre Motivationsgrund ist die zusätzliche praktische Führungserfahrung – in der Armee ist es möglich, schon in ganz jungen Jahren Verantwortung über zwanzig bis vierzig Leute zu übernehmen.
Zudem lernen unsere Leute früh, auch aktiv an ihrer Persönlichkeit zu arbeiten. Diese Aufgabe ist eine grosse Herausforderung für die jungen Kader, wenn man 
bedenkt, dass ihre Unterstellten ja nicht immer unbedingt freiwillig mit dabei sind.

Und wie lernen die angehenden Führungskräfte das?

Aufgrund der Führungsverantwortung, die eben nicht nur theoretisch ist, sondern praktisch. Eins zu eins mit den Gleichaltrigen etwas zu erreichen, das ist besser als jeder Managementkurs. Denn diese sind meistens sehr theoretisch. Bei uns kann eine junge Führungskraft an der praktischen Aufgabe wachsen und darf 
dabei zuweilen auch Fehler machen.

In Friedenszeiten mag das ja stimmen, doch im Krieg sind Fehler fatal …

Die Schweizer Armee ist primär eine Ausbildungsarmee und keine Einsatzarmee – und basiert auf Übungen und 
Trainings. In einem Debriefing werden die Leistungen besprochen und daraus allfällige Lehren gezogen. Daran kann nicht nur die Truppe, sondern auch jeder Einzelne – besonders aber der Kaderangehörige – wachsen.

Was nützt das nun den Unternehmen?

Viel. Ich rate jedem Arbeitgeber: Stellen Sie einen jungen Zugführer an. Das Risiko ist gering und Sie werden jemanden erhalten, der gelernt hat, analytisch an Probleme heranzugehen, Varianten zu präsentieren und Vor- und Nachteile herauszuschälen. Zudem hat er gelernt, vor 40 Leute zu stehen und zu sagen, was er will, und das Gesagte dann auch durchzusetzen.

Sie erwähnten, Ihre Kurse seien ideale Managementkurse. Nun ist aber das Image der Armee in der Wirtschaft seit Jahren auf dem absteigenden Ast. Wie schaffen Sie es, junge Menschen und Unternehmen von der «Arbeitgebermarke» Armee dennoch zu überzeugen?

Vor 20 bis 30 Jahren waren die Chefetagen voll von Managern, die auch in der Armee Karriere gemacht hatten. Veränderungen in der Wirtschaft, Abbau und Sparrunden haben natürlich auch dort ihre Spuren hinterlassen. Daher ist es Knochenarbeit, sowohl die Arbeitgeber als auch die Dienstleistenden zu überzeugen, dass es ein Mehrwert ist, Kaderlehrgänge in der Armee  zu besuchen. Darum bieten wir an der HKA (siehe Kasten) Arbeitgebertage 
sowie Schnuppertage für Kollegen von unseren Kursteilnehmenden an. Hinzu kommen Veranstaltungen, beispielsweise in Zusammenarbeit mit KMUnext oder mit dem Schweizerischen Versicherungsverband. Daran nehmen jeweils von zehn bis 150 Personen teil. Diese Veranstaltungen helfen uns, einen Schneeballeffekt auszulösen; damit können wir auch die kritischen Arbeitgeber erreichen.

Die HKA Luzern

Die HKA Luzern
Die Höhere Kaderausbildung (HKA) ist Hauptanbieter für die Führungs- und 
Stabsausbildung der Milizkader ab Stufe Einheit sowie für die Ausbildung der Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere der Schweizer Armee. Als Kompetenzzentrum für militärische Führungsausbildung und militärwissenschaftliche Forschung erbringt die HKA ihre Leistung schwergewichtig für die Armee, in Partnerschaft mit den anderen Trägern der Nationalen Sicherheitskooperation und zivilen 
Bildungsorganisationen. www.hka.ch

Tatsache ist aber, dass viele Männer und Frauen in der Armee nicht weitermachen, weil die Arbeitgeber klar signalisieren, dass sie die vielen militärischen Absenzen nicht goutieren.

Eine Herausforderung für uns ist es, dass es in der Schweiz immer mehr ausländische Chefs gibt, und die kennen eben den Mehrwert einer Kaderausbildung in unserer Milizarmee nicht. Zudem ist der HR-Bereich heute vielerorts vorwiegend in Frauenhand. Auch sie haben wenig Bezug zur Armee. Deshalb  versuchen wir  auch, diese beiden Zielgruppen in unsere Veranstaltungen zu holen.

Zeigen sich schon erste Resultate?

Ja. So hat der Schweizerische Versicherungsverband erst kürzlich eine Broschüre mit dem Titel «Der Mehrwert militärischer Kaderausbildung für die Privatassekuranz» herausgegeben.

Positiv aufgenommen wird auch unser Angebot der Fallstudien. So können die Teilnehmenden der Führungslehrgänge 2, das sind die Lehrgänge für angehende Bataillonskommandanten, zu ihrem Arbeitgeber gehen und nach konkreten Problemen fragen, die der Lehrgang im Sinne eines Think-Tanks für ihn löst. Dies selbstverständlich anonymisiert. Danach wird der Arbeitgeber eingeladen, und eine Fünfercrew stellt ihm die erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten vor. Klar gibt es gewisse Hemmungen, doch grundsätzlich sind die Reaktionen darauf positiv. Ich möchte dabei betonen, dass wir uns mit diesem Angebot primär auf KMU konzentrieren und nicht auf die globalen Konzerne.

Warum konzentrieren Sie sich auf KMU?

Weil Kleinfirmen ihren Kaderleuten meistens keine teuren Kaderkurse bezahlen können. Aber sie können es sich leisten, ihre Leute in einen drei- bis vierwöchigen Kurs zu uns zu schicken.

Zurück zur Rekrutierung. Worauf schauen Sie, wenn Sie Leute einstellen?

Primär auf die Persönlichkeit; Offenheit und Ehrlichkeit sind mir überaus wichtig. Und dann natürlich auch auf den bisherigen Werdegang.

Letzteren können Sie via Zeugnisse prüfen. Wie spüren Sie aber, ob die Kandidaten über die gewünschten Persönlichkeitsmerkmale verfügen?

Ich versuche, dies mit strukturierten Interviews herauszufinden. Der erste Eindruck und die Art und Weise, wie sich jemand im Gespräch verhält, sind nach meiner Erfahrung entscheidend. Fachwissen kann sich ein Kandidat nämlich aneignen. Viel wichtiger ist, dass die Persönlichkeit in das Umfeld passt, in dem der Bewerber eingesetzt werden soll.

Und ganz entscheidend: Die Interviews finden in der Regel nicht nur unter vier, sondern unter sechs Augen statt. Die zweite Person hat von mir den Auftrag, zu beschreiben, was er oder sie erlebt. Und nicht zu werten.

Beobachten, beschreiben, bewerten – diese drei B sind seine oder ihre Hauptaufgabe. Bei der Rekrutierung für Berufsmilitär oder Generalstabsoffiziere werden die Kandidatinnen und Kandidaten innerhalb von drei Tagen sogar von bis zu 36 Personen beobachtet, beschrieben und bewertet.

Einer der grossen Vorteile bei der militärischen Rekrutierung ist also die Tatsache, dass bei Ihnen viel mehr Augen und Ohren involviert sind?

Ja, das ist ganz entscheidend. Und ich rate auch Firmen an, das zu machen. Aber ich möchte auch betonen, dass dies  meine Art und Weise des Rekrutierens ist und nicht die der gesamten Armee.

So wie ich aus Ihren Antworten heraushöre, schauen Sie also mehr auf den Menschen als auf Zeugnisse?

Ja. Darin unterscheidet sich der militärische Betrieb wohl von der Wirtschaft. Der Grund, warum in der Wirtschaft stärker auf Zeugnisse und Diplome geschaut wird, liegt meines Erachtens darin, dass der Rekrutierungsprozess zu stark den 
HR-Leuten überlassen wird.

Rekrutierung ist aber in jedem Fall Chefsache. Daher sollte sich ein Vorgesetzter alle 20 Kandidaten und nicht nur vier Dossiers anschauen. Die HR-Person kann und soll dabei sein, aber der Personaldienst darf auf keinen Fall die Vorselektion bereits gemacht haben. Dasselbe gilt übrigens auch für Personalberater oder Headhunter.

Das heisst also, Sie und andere Vorgesetzte schauen sich jede Bewerbung an?

Jawohl. Wichtig ist mir zudem, dass jeder Test, jedes Assessment, jedes Dossier, jedes Zeugnis und jedes Gespräch immer nur als einzelner Baustein angeschaut wird. Es darf nie ein Teilbereich zum Killerkriterium werden.

Sind Social Media ein Thema für die militärische Rekrutierung?

(Studiert.) Als Marketinginstrument könnten Social Media helfen, aber ob es uns auch für die Rekrutierung hilft, das müssten wir mal schauen. Auf hka.ch erscheinen Echos aus den Lehrgängen und Testimonials. Mund-zu-Mund-Propaganda ist nach wie vor sehr wichtig. Die Führungskräfte der Armee stehen in der 
Verantwortung und setzen sich für eine aktive Kaderrekrutierung ein.

Gibt es etwas, das Sie den Unternehmen mit auf den Weg geben möchten?

Oh, ja! Wir bieten die beste praktische Führungsausbildung der Schweiz an.

Marco Cantieni

ist Divisionär und Kommandant der Höheren Kaderausbildung der Armee in Luzern. Ihm unterstehen neben der Zentralschule (Luzern und Bern) und der Generalstabsschule (Kriens) auch die Militärakademie an der ETH Zürich (Birmensdorf) und die Berufsunteroffiziersschule der Armee (Herisau). Bevor er Berufsmilitär wurde, studierte er an der Universität Zürich Jurisprudenz und schloss mit dem lic. iur. ab.

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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