Der Tod macht nicht Halt vor der Firmentüre
Stirbt ein Mitarbeiter – oder ein Angehöriger eines Mitarbeiters –, so ist es mit Floskeln nicht getan. Um mit Krankheit, Tod und Trauer umgehen zu können, müssen diese Themen enttabuisiert werden: Firmen sollten die Gefühlslage konkret benennen. Zudem helfen auch kleine Rituale, einen Abschied leichter zu bewältigen.
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Einen Grossteil ihrer Zeit verbringen Menschen am Arbeitsplatz. Hier gehen sie Bindungen ein, die von kollegial bis hin zu sehr privat reichen können. Stirbt ein Mitarbeiter, müssen nicht nur dessen Familie, sondern auch die Arbeitskollegen mit dem Verlust fertig werden. Darauf sind jedoch die meisten Unternehmen nicht eingestellt.
Ein seltener Grenzfall? Nein, denn circa 80 000 Menschen sterben jährlich in der Schweiz, davon rund 15 000 im aktiven Berufsleben. So oft also sind eine Arbeitsorganisation, ein Projekt, eine Filiale oder ein Büro von einem Todesfall betroffen. Rechnet man noch Betroffene anderer Verlustsituationen wie Tod von Familienangehörigen und die Dauer von Trauerprozessen hinzu, ergibt sich: Durchschnittlich über zehn Prozent aller Mitarbeiter machen gerade einen akuten Trauerprozess durch. Jeder zehnte Arbeitnehmer also steht in einer emotional und psychosozial wichtigen Entwicklung, die entscheidende Veränderungen mit sich bringen wird.
Wer seine Trauer ausleben darf, ist langfristig produktiver
Wenn ein Todesfall ein Team erschüttert, geht die Arbeit trotzdem weiter. Trauer ist, als hoher Stressfaktor, ein «Störfall». Am Arbeitsplatz stehen ja meist die Leistungserbringung und das Funktionieren im Vordergrund. Für Trauer ist da wenig Platz. Dabei sind Mitarbeitende, die auch am Arbeitsplatz ihre Trauer leben dürfen, langfristig zufriedener und produktiver – und sind anschliessend oft loyaler und identifizieren sich mehr mit dem Unternehmen. In der Auseinandersetzung mit trauernden Mitarbeitern spiegelt sich entsprechend auch das Leitbild eines Unternehmens wider. Oder umgekehrt formuliert: Nicht gelebte oder zugelassene Trauer macht krank, mindert Leistungsfähigkeit und den Zusammenhalt im Team und führt zu nicht einkalkulierbaren Folgekosten wie fehlender Identifikation, Dienst nach Vorschrift, gestörter Kommunikation, verminderter Leistungsfähigkeit und Stresssymptomen.
Ein modernes und innovatives Unternehmen zeichnet sich aus durch eine Balance zwischen der Achtsamkeit gegenüber lebenden und verstorbenen Mitarbeitern und der Beachtung organisatorisch-ökonomischer Aspekte. Grundsätzlich ist festzuhalten:
- Trauer gehört zu unserem Leben und damit auch zur Arbeitswelt.
- Trauer ist keine Krankheit, sondern eine lebenswichtige Reaktion.
- Trauer ist eine spontane und natürliche Antwort auf Verlust, Abschied und Trennung.
- Trauer ist die Möglichkeit, gesund Abschied zu nehmen. Sie berührt alle Lebensbereiche.
- Trauer wird individuell ganz unterschiedlich erlebt und gestaltet und hat viele Gesichter.
Wie gelingt es nun, Trauer in einem Betrieb zu leben? Manchmal wird nur kurz und wenig hilfreich kondoliert: «Kopf hoch!» oder «Ich weiss, wie Sie sich fühlen!». Der Wunsch ist gross, sofort wieder zur Tagesordnung überzugehen, obwohl emotional ja offensichtlich ist: Es ist eben nicht in Ordnung. In vielen Todesanzeigen von Firmen ist eine gewisse Ohnmacht spürbar: «Wir teilen schmerzlich den Hinschied unseres/unserer ... mit». Hinter solchen alltagssprachlich fremd anmutenden Chiffren verbirgt sich oft eine Unsicherheit: Wie formuliert man eine Verlusterfahrung? Wie teilt man eigene Betroffenheit mit?
Soll man zur Abdankung gehen? Die Angehörigen ansprechen?
Floskeln helfen Trauernden kaum. Sie fragen sich konkret: Wie geht es weiter mit dem freigewordenen Arbeitsplatz? Ist es pietätlos, sich sofort um die Nachfolge zu kümmern? Soll man zur Abdankung gehen? Wie begegnet man Angehörigen des Kollegen? Was sagt man Menschen, die man gar nicht kennt, am Grab? Wie wird der Tod im Betrieb angesprochen? Wie verhalten sich Vorgesetzte, die ja in solchen Ausnahmesituationen wichtige Ansprechpartner sein sollen – und oft selber überfordert sind, weil kompetenter Umgang mit Trauer in Führungsausbildungen wenig Relevanz erhält?
Fragen, die im Coaching oder in der Weiterbildung für Führungskräfte gestellt werden können, gehen in diese Richtung: Wie kann man mit Trauer im Unternehmen angemessen, klar und einfühlsam umgehen? Wie gelingen respektvoller Umgang und wertschätzende Kommunikation? Welche Rolle hat ein/e Personalverantwortliche/r oder ein/e direkte/r Vorgesetzte/r? Führungskräfte sollen befähigt werden, mit Trauer und Verlust umzugehen, ohne Berater oder Therapeut zu sein – und der betroffene Mitarbeiter soll sich in der Krise sozial aufgefangen und menschlich behandelt fühlen.
Ein Beispiel aus der Beratungspraxis:
An einem Samstag begeht ein Projektmitarbeiter Suizid. Am Freitag zuvor gab es noch eine Auseinandersetzung mit einem Teamleiter. Am folgenden Montag ist die Nachricht noch vor der Znünipause im Betrieb angekommen. Die Mitarbeitenden sind entsetzt und schockiert. Zur Abdankungsfeier einige Tage später erscheinen einige Kollegen des Verstorbenen. Eine kurze Rede des Vorgesetzten des Teamleiters folgt. Anteilnahme und Würdigung der Leistung werden formuliert. Die Zwischentöne zeigen aber auch deutlich Unbehagen, Rechtfertigung und Schuldgefühle. Beim anschliessenden Kondolieren ist die grosse Unsicherheit nicht zu übersehen: Was sagt man jetzt der Ehefrau und den beiden Kindern? Machen die uns verantwortlich? Dürfen/sollen wir zum Leidmahl mitgehen?
Eine Kerze bei der Teamsitzung, ein Trauerbuch beim Sekretariat
Im Ernstfall muss schnell gehandelt werden. Ein Unternehmen kann sich aber auch schon präventiv auf Trauerfälle vorbereiten. Ansatzpunkte dafür finden sich in jedem Unternehmen zuhauf. Oft sind es Situationen, die bei allen Beteiligten grosse Unsicherheit hervorrufen und in den meisten Unternehmenskulturen wenig Platz haben:
- Trennungskultur. Wie ist der Umgang mit Kündigungen? Können beide Seiten ihr Gesicht wahren? Wie viel Zeit nimmt sich ein Unternehmen für «Austrittsgespräche»? Wann/wo finden diese statt? Gibt es klare, einfühlsame Formulierungen, oder «flüchtet» man sich in Smalltalk, um eigene Gefühlsambivalenzen zu überdecken? Wie kommuniziert man denen, die bleiben können (also den «Hinterbliebenen»), die getroffenen Entscheidungen, um durch «Survivor Syndrome» (Warum kann ausgerechnet ich bleiben? Und wie lange noch?) verursachte verdeckte Kosten zu vermeiden?
- Abschiedskultur. Wie werden grössere Umstrukturierungen kommuniziert? Auch Verabschiedung in die Pension, Beendigung eines Projektes oder Auflösung eines Standorts können mögliche Anlässe dafür sein, Veränderungen zu würdigen.
- «Rückkehr-Kultur». Ein an Krebs erkrankter Mitarbeiter, monatelang krankgeschrieben, kommt eines Tages zurück, um wenigstens wieder in Teilzeit präsent zu sein – wie wird er empfangen? Was sagt man (nicht)? Hat jemand an Blumen im Büro gedacht?
Es ist wichtig, Tod und Trauer aus der Tabuzone herauszuholen. Krankheit und Tod verstehen noch immer viele Menschen als etwas Privates, das nicht in den Berufsalltag gehört. Enttabuisieren kann ein Unternehmen am besten durch konkretes Benennen und Zeigen der Gefühlslage. Trauer ist eine grosse Energiequelle, wenn sie Platz hat – also beispielsweise auch im Büro. Eine Kerze bei der Teamsitzung, eine gemeinsam vom Team entwickelte Todesanzeige, eine Pinnwand in der Kantine oder ein Trauerbuch beim Sekretariat können hilfreiche kleine Rituale sein, das «Unfassbare» zu ertragen und einen Abschied leichter zu bewältigen.