Das Parlament debattierte gut eineinhalb Jahre, um die Arbeitslosenversicherung (ALV) zum vierten Mal zu revidieren (AVIG-Revision). Denn diese schreibt seit der letzten Gesetzesrevision von 2003 regelmässig Verluste, so dass sich ein Schuldenberg von rund 6 Milliarden Franken angehäuft hat, der selbst im letzten Boom nicht abgetragen werden konnte. In dieser Frühjahrssession haben die eidgenössischen Räte nach mehrmaligem Hin und Her die Teilrevision verabschiedet. Sie sieht sowohl Beitragserhöhungen als auch Leistungskürzungen vor. Aus Gewerkschafts-, SP- und Grüne-Kreisen wurde bereits das Referendum gegen die AVIG-Revision angekündigt. Die Politik geht davon aus, dass es ihnen gelingen wird, die nötige Anzahl Unterschriften zusammenzubringen. Der erst kürzlich erlebte und sich nur vorsichtig erholende Konjunktureinbruch dürfte das Seinige dazu beitragen. Der Bundesrat hat deshalb die Abstimmung bereits auf den 26. September 2010 festgesetzt, auch wenn das Referendum noch gar nicht offiziell zustande gekommen ist. Denn die Inkraftsetzung drängt, steigt doch das Defizit in der Arbeitslosenversicherung Jahr für Jahr.
Die Arbeitslosenversicherung – ein wichtiger Mosaikstein
Die Arbeitslosenversicherung ist ein wichtiger Bestandteil des schweizerischen Flexicurity-Systems. Sie stellt das Pendant zum liberalen Arbeitsmarkt – insbesondere zu den relativ kurzen Kündigungsfristen – dar. Es ist allgemein bekannt, dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern sowohl in konjunkturell guten wie auch in schlechteren Zeiten bemerkenswert tief ist. Ebenso bekannt ist, dass dies auf die relativ geringe respektive dezentrale, also nach Branche und Region differenzierte Regulierung des Arbeitsmarktes zurückzuführen ist. Kündigungsfreiheiten für die Unternehmen beziehungsweise ein nur beschränkter Kündigungsschutz sind letztendlich die beste Absicherung für die Arbeitnehmenden. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit für das betroffene Individuum – auch wenn es nur relativ wenige sind – eine Notsituation, die finanziell und emotional belastet. Aus diesem Grund braucht es eine Versicherung, die diese Phase überbrückt. Und sie ist in einem System mit tiefer Arbeitslosigkeit relativ günstig zu haben.
Idealerweise überbrückt eine Arbeitslosenversicherung aber nicht nur, sondern sorgt auch dafür, dass die stellensuchenden Personen ihre Arbeitsmarktfähigkeit erhalten respektive steigern und vor allem raschmöglichst wieder guten Anschluss im Arbeitsmarkt finden. Welcher Instrumente es dafür bedarf, wäre eine politische Diskussion wert (ist aber nur am Rande Gegenstand dieser AVIG-Revision). Einerseits braucht es sicherlich Anreizmechanismen, damit die Stellensuchenden selber motiviert nach einem neuen Job Ausschau halten und ihre Employability optimieren. Andererseits muss auch die Förderung des Lifelong Learning Bestandteil eines Flexicurity-Systems sein. Gerade Personen mit bildungsmässigen Defiziten sollten Unterstützung erhalten, um ihre Kompetenzen mit den Erfordernissen des Arbeitsmarktes abzustimmen. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass dies ein einfaches Unterfangen sei. Die Auswahl und das Angebot von zielführenden Weiterbildungsmassnahmen sind eine komplexe Aufgabe; und man darf sich fragen, ob die öffentliche Hand mit ihren beschränkten Mitteln in der Lage ist, diese Aufgabe wirksam zu erfüllen. Die heutige Arbeitslosenversicherung enthält beide Elemente – Anreize für die Jobsuche beziehungsweise -aufnahme und die Förderung der Employability. Deren Wirksamkeit sollte in Zukunft genauer überprüft werden. Denn in der Vergangenheit wurde die Effizienz bestimmter öffentlicher Förderprogramme in gewissen Untersuchungen in Frage gestellt.
Nichtsdestotrotz ist die Förderung des Lifelong Learning zweifelsohne ein wichtiges Element im Flexicurity-System. Im Interesse aller wäre es begrüssenswert, diesen Bereich der Arbeitslosenversicherung nach der AVIG-Revision genauer unter die Lupe zu nehmen. Lifelong Learning spielt gerade auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel und den festgestellten qualitativen Mismatch am Arbeitsmarkt (vgl. swissstaffing-Beitrag in der letzten Ausgabe) eine wichtige Rolle. Doch zunächst muss die beschlossene AVIG-Revision so rasch als möglich umgesetzt werden. Dies erfordert wahrscheinlich auch ein nennenswertes Engagement der Befürworter im absehbaren Abstimmungskampf.
Fünf vor zwölf für die Sanierung
Dass die Schulden der Arbeitslosenversicherung seit der letzten AVIG-Revision 2003 praktisch kontinuierlich ansteigen, zeigt, wie dringlich die beschlossene AVIG-Revision ist. Es besteht ein strukturelles Finanzierungsproblem. Für die kommenden Jahre heisst das, dass sich der Schuldenberg ohne Revision bis auf 16 Milliarden Franken erhöhen könnte (vgl. Grafik 1). Mit der vierten AVIG-Revision könnte man das Schuldenwachstum stoppen und das Defizit allmählich abbauen.
Der mit der AVIG-Teilrevision beschlossene Massnahmen-Mix erscheint sehr ausgewogen. Wichtig und richtig ist, dass das strukturelle Problem, nämlich die zu tief angenommene durchschnittliche Arbeitslosenquote, nach oben korrigiert und damit behoben wird. Bislang ging die Arbeitslosen versicherung von einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent (100000 Arbeitslose) aus. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass die Annahme zu optimistisch war. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre (Konjunkturtief 2004 bis Konjunkturhoch 2008) betrug die Arbeitslosenrate 3,3 Prozent (129000 Arbeitslose). In der Vorperiode (Konjunkturhoch 2001 bis Konjunkturtief 2004) betrug sie 3 Prozent (117000 Arbeitslose). Die Sockelarbeitslosigkeit ist gegenüber dem letzten Boom deutlich angestiegen (vgl. Grafik 2). Das Versicherungssystem wird mit der Revision demzufolge neu «geeicht». Mit der revidierten Fassung geht man neu zu Recht von einer durchschnittlichen Arbeitslosenrate von 3,3 Prozent aus.
Damit wird anerkannt, dass die Arbeitslosenversicherung grösserer Mittel bedarf. Um diese zu generieren, wurde ein vernünftiger Massnahmen-Mix beschlossen, der dem Flexicurity-Prinzip treu bleibt. Die Lohnbeiträge werden moderat erhöht (vgl. Box). Die Mehrbelastung für Arbeitnehmende und Arbeitgeber kann damit in Grenzen gehalten werden. Dies ist aber nur möglich, weil parallel dazu auch gewisse Leistungen beschränkt werden. Die Taggeldhöhe wird aber nicht angetastet. Insgesamt helfen diese Massnahmen, das Schuldenwachstum zu stoppen. Es resultiert daraus aber nur ein sehr langsamer Schuldenabbau (vgl. Grafik 1).
Die beschlossenen Leistungsreduktionen (vgl. Box) stärken die Anreize zugunsten der Jobsuche und -aufnahme und festigen das Versicherungsprinzip. Dazu zählt namentlich, dass der Erwerb von Beitragszeitrechten vermehrt von einer effektiven Erwerbstätigkeit abhängig gemacht wird. Wer (länger) arbeitet, erarbeitet sich damit auch ein (längeres) Recht auf Arbeitslosenentschädigung. Diese engere Verbindung von Beitrags- und Bezugsdauer ist gerecht, weil die Leistungen der Arbeitslosenversicherung grosszügig sind (70 bis 80 Prozent des versicherbaren Lohnes), das Existenzminimum für alle aber auf jeden Fall gesichert bleibt. Personen, die trotz aller Bemühungen keinen längerfristigen Job finden, haben während kürzerer Zeit Anspruch auf die (grosszügigen) ALV-Leistungen. Durch die Maschen des sozialen Netzes fallen sie trotzdem nicht. Sollte die Bezugsdauer bei der Arbeitslosenversicherung ausgeschöpft werden, springt nämlich die Sozialhilfe ein, deren Unterstützungsleistungen allerdings meist geringer sein dürften. Diese Abstufung soll die Anreize zum Arbeiten stärken, stellt sicher, dass die Steuergelder pragmatisch eingesetzt werden, und garantiert letztendlich aber auch jedem die existenzielle Absicherung.
Fazit
Die Revision der Arbeitslosenversicherung drängt. Der beschlossene Massnahmen-Mix ist ausgewogen und setzt die richtigen Anreize. Sollten sich die AVIG-Revisions-Gegner im Referendum durchsetzen, wären keine Leistungskürzungen mehr möglich. Das heisst aber, dass die Beiträge umso stärker erhöht werden müssten. Denn der Schuldenberg der Arbeitslosenversicherung wächst, und der Bundesrat ist gemäss AVIG verpflichtet, in diesem Fall die Beiträge zu erhöhen. Packen wir also die Chance, die Arbeitslosenversicherung mit einem vernünftigen Massnahmenpaket wieder ins Lot zu bringen, damit wir massivere, die Arbeitnehmenden und die Arbeitgeber belastende Beitragserhöhungen vermeiden – mit einem Ja zur AVIG-Revision!
Die wichtigsten Massnahmen der AVIG-Revision
Beitragserhöhungen
- Die Lohnbeiträge bis zu einem Jahreslohn von 126 000 Franken werden von heute 2 Prozent auf neu 2,2 Prozent erhöht.
- Neu wird auf Einkommensanteilen zwischen dem maximalen versicherten Verdienst (126 000 Franken) und 315 000 Franken ein Solidaritätsprozent eingeführt.
- Diese Massnahmen generieren 646 Millionen Franken Mehreinnahmen.
Leistungskürzungen
- Beitrags- und Bezugsdauer werden enger aneinander geknüpft. Für ein Jahr Beitragszahlung gibt es neu ein Jahr Taggelder statt wie bisher anderthalb Jahre. Bezahlt man anderthalb Jahre lang Beiträge, ist man für anderthalb Jahre leistungsberechtigt; bezahlt man zwei Jahre Beiträge, erhält man zwei Jahre lang Leistungen (Letzteres betrifft ausschliesslich über 55-Jährige und Invalidenrentenbezüger).
- Von der öffentlichen Hand finanzierte Beschäftigungsprogramme sollen nicht dazu verwendet werden, sich neue Leistungsrechte bei der Arbeitslosenversicherung zu verschaffen. Grundsätzlich soll nur Erwerbsarbeit einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ermöglichen.
- Ähnliches gilt für die sog. Kompensationszahlung. Nimmt eine arbeitslose Person eine Arbeit an, bei der sie ein Einkommen erzielt, das kleiner ist als das Taggeld der ALV (Zwischenverdienst), so ergänzt die ALV den Zwischenverdienst mit einer Kompensationszahlung und hebt damit das monatliche Einkommen über das Niveau des Taggeldes. Diese Kompensation soll nun für künftige Taggeldberechnungen nicht mitberücksichtigt werden. Denn auf die Kompensationszahlung werden auch keine ALV-Beiträge erhoben.
- Sämtliche Schul- oder Studienabgänger haben 120 Tage abzuwarten, bis sie Leistungen der Arbeitslosenversicherung beanspruchen können. Die bisherigen Ausnahmen werden gestrichen.
- Personen ohne Unterhaltspflichten müssen maximal den ersten Monat der Arbeitslosigkeit finanziell selber überbrücken. Für sie werden nach der finanziellen Situation abgestufte, zusätzliche Wartetage eingeführt.
- Die Taggelddauer für Jugendliche unter 25 Jahren und ohne Unterhaltspflichten wird auf 200 Taggelder begrenzt.
Mit diesen Massnahmen lassen sich 622 Millionen Franken einsparen.