Psychologische Sicherheit

Die Kunst der Verunsicherung – eine unkonventionelle Perspektive

Alle reden darüber, dass Menschen psychologische Sicherheit brauchen. Sie ist die Triebfeder für Kreativität und konstruktives Miteinander. Unsicherheit und Unberechenbarkeit haben auch etwas Gutes. Denn dann tanzt keiner mehr aus der Reihe, schreibt unsere Autorin zynisch.

Die Annahme, dass ein Umfeld, das von Vertrauen und Offenheit geprägt ist, die besten Voraussetzungen für Kreativität und konstruktive Zusammenarbeit schafft, ist weitverbreitet. Doch was ist mit der anderen Seite der Medaille? Kann Unsicherheit und Unberechenbarkeit nicht auch ihre Vorteile haben?

Unsicherheit schafft Dynamik

Inmitten der Unsicherheit kann eine einzigartige Dynamik entstehen. Ein Umfeld, in dem niemand mehr aus der Reihe tanzt, in dem Diskussionen vermieden werden und stattdessen konsequent gehandelt wird.

Das ist doch fantastisch! Endlich arbeiten die Menschen mal und trinken nicht nur Kaffee, wenn sie an den zwei Tagen der Woche im Büro sind. Warum? Weil sie Angst haben, dass sie vor allen anderen an den Pranger gestellt werden, wenn sie Fehler machen oder ihre To-Dos nicht alle abgearbeitet haben.

Fehlerkultur? Ja bitte! Aber anders

Aber in der Form, dass Mitarbeitende belohnt werden, die ihren Kollegen verpfeifen, wenn er etwas falsch gemacht oder im Homeoffice mal nicht sofort den Microsoft Teams Anruf angenommen hat.

Und wo wir schon beim Homeoffice sind. Wer glaubt denn bitte ernsthaft, dass da die Leute arbeiten? Hier sollten Kontrollmöglichkeiten her. An- und Abmelden, wenn man zur Toilette geht oder sich etwas zu trinken holt. Längere Abwesenheiten nur, nachdem die direkte Führungskraft eingewilligt hat. Die Mitarbeiter sollten immer Angst haben, dass jemand jeden Moment anrufen kann und einen verpfeift, wenn man abwesend war.

Unsicherheit und Angst verbreiten

Unsicherheit und Angst zu verbreiten, sollte oberste Maxime sein, wenn man möchte, dass Menschen wirklich arbeiten. Und vor allem: schnell arbeiten! Katar hat es uns doch vorgemacht, wie gut das funktioniert. Die Fussballstadien wurden alle rechtzeitig fertig und die Spiele konnten beginnen.

Darum geht es doch im Business, wenn man erfolgreich sein will: Klotzen, nicht kleckern! Das zahlt auf die Produktivität ein: weniger Ruhephasen und mehr Arbeitspensum. Das wollen doch alle.

Kuschelkurs New Work

Dann tut auch etwas dafür und lasst das mit dem Kuschelkurs oder wie es neudeutsch auch genannt wird: «New Work». Ihr investiert euer Geld und eure Energie in Kickertische und Retrospektiven? Habt ihr mal ausgerechnet, wie viel Zeit dafür draufgeht? Was hätte in der Zeit an wirklich sinnvoller Arbeit getan werden können?

Apropos Retrospektiven und den sogenannten Check-Ins: Wenn der Hamster zu Hause gestorben ist, soll das Thema bitte auch dort bleiben. Privat ist privat und Job ist Job. Strikte Trennung, geheult werden kann zu Hause. Und bleibt mir weg, mit dem Thema «Verletzlichkeit» zeigen. So ein Quatsch. Wenn nur noch diese Softies in Unternehmen herumlaufen, freuen sich Taschentuchhersteller, aber sonst hat da niemand etwas von.

Gefühle sind was für die Couch

Gefühle haben im Business einfach nichts zu suchen. Niemand wird dafür bezahlt, zu fühlen. Es geht um Leistung. Entweder körperliche oder mentale. Punkt aus. Wo ich gerade beim Thema «menscheln» bin: Menschen lieben es über andere zu reden – gerade dann, wenn es ihnen selbst nicht gut geht und sie nicht bei sich selbst hinsehen wollen. Hier empfehle ich, das auf keinen Fall zu unterbinden. Lasst die Kollegen hinter dem Rücken übereinander tuscheln und lästern, die Stimmung kann euch egal sein.

Auf eine Mise Teamstimmung achten

Zum Thema Teamstimmung: Die Mitarbeitende sind zum Arbeiten da, nicht für Spass und gute Laune. Den Kickertisch können sie sich selbst für zu Hause kaufen, dafür verdienen sie ja ihr Geld – wenn sie denn arbeiten. Und wenn ihr wollt, dass Output entsteht, implementiert Angst und Unsicherheit in euren Teams! Ein grossartiges Mittel dafür ist auch der Konkurrenzgedanke und das Thema Neid. Sorgt beispielsweise dafür, dass der Kollege als Konkurrent gesehen wird. Wenn er mehr arbeitet als ich, dann werde ich weniger verdienen. Wenn ich dem Kollegen Fehler nachweisen kann, dann werde ich belohnt. So geht das!

Höher, schneller, mehr – Zielvereinbarungen mit Performance

Individuelle Zielvereinbarungen, die nicht nur von meiner Leistung abhängig sind, sondern auch davon, wie der Kollege performt, können das noch unterstützen. Ich bekomme nur dann den Bonus, wenn meine Leistung um x Prozent höher ist, als die des Kollegen. Aber macht das nicht transparent! Intransparenz fördert Unsicherheit. Kommuniziert unklar und lasst euren Mitarbeitenden gegenüber niemals durchblicken, wie ihr sie seht. Bleibt im Kontakt kühl und unnahbar.

Der Job ist sicher? Sicher nicht!

Was sich auch sehr gut nutzen lässt: Assessment-Center. Jagt jeden dadurch. Egal für welche Position. Und zeigt ihnen am Ende nur auf, was sie schlecht gemacht haben, woran sie noch dringend arbeiten müssen. Lasst eure Mitarbeitende nie in das Gefühl kommen, dass sie gut genug sind. Auf keinen Fall! Die dürfen sich nicht gut fühlen. Es muss am Abend immer der Gedanke mit nach Hause genommen werden «morgen muss ich besser sein, sonst verliere ich meinen Job.»

Die Angst vor dem Jobverlust lässt Menschen zur Hochleistung bringen. Angst pusht. Nutzt das für euch!

Die Kunst der Verunsicherung kann in bestimmten Situationen eine erstaunliche Effizienz und Produktivität hervorbringen. Wenn die Unsicherheit über zukünftige Ereignisse den Arbeitsplatz durchzieht, neigen Menschen dazu, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und alles richtig machen zu wollen, nur um nicht in die Schusslinie zu geraten. Ein weiterer Aspekt der Verunsicherung liegt in der Vermeidung von Konflikten. Ohne die Gewissheit, wie Entscheidungen in der Zukunft getroffen werden, wird die Neigung, auf Konfrontation zu setzen, deutlich reduziert.

Bloss keine Konflikte lösen

Ihr glaubt nicht, wie nützlich ungelöste, schwelende Konflikte sein können. Das führt dazu, dass kein Miteinander entstehen kann. Das heißt auch, dass das Bedürfnis nach Teamevents, Kicker spielen, Weihnachtsfeiern komplett nachlässt. Im Ergebnis spart das Geld und Zeit. Grossartig!

In einem solchen Umfeld sind Mitarbeitende auch eher geneigt, ihre Meinungen zurückzuhalten und sich auf die Umsetzung von Aufgaben zu fokussieren, anstatt Zeit mit endlosen Diskussionen zu verschwenden. Auch hier wieder: Was das an Zeit einspart, in der gearbeitet werden kann!

Ohne Meetings die Produktivität steigern

Die Anzahl der Meetings wird deutlich reduziert, da die Leute nur noch mit anderen sprechen, wenn sie einen eigenen Vorteil daraus ziehen. Auch das fördert die Produktivität. Weniger Zeit in endlosen Besprechungen und mehr Zeit am Schreibtisch, um Dinge wegzuarbeiten.

Fazit: Wenn es in deiner Firma nur darum geht, stumpf Dinge wegzuarbeiten und Sie kein Menschenfreund sind, dann gehen Sie den oben beschriebenen Weg und hoffen Sie darauf, dass Ihre Mitarbeitende nicht kündigen oder krank werden.

Psychologische Sicherheit: Doch nicht nur für die Katz

Wenn Sie allerdings davon abhängig sind, dass Ihre Mitarbeitende kreativ, eigenverantwortlich und motiviert sind, dann werden Sie um die Psychologische Sicherheit nicht herumkommen. Vertrauen und Sicherheit aufzubauen ist zwar komplexer als Misstrauen und Unsicherheit zu schüren, aber es zahlt sich aus!

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Birgit Schumacher

Birgit Schumacher unterstützt als Wirtschaftsmediatorin und Coach Führungskräfte dabei, ein Umfeld zu etablieren, in dem die Mitarbeitenden Problemstellungen selbstorganisiert lösen. In Workshops und Vorträgen gibt sie Einblick in das Thema der psychologischen Sicherheit. 2023 erschien ihr Buch «Psychologische Sicherheit: Das Entwicklungselixier für persönliches Wachstum, Teams und Organisationen.» birgitschumacher.net

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