Die Leader von morgen nehmen Unsicherheiten als sicher hin
Führungskräfte, aber auch Organisationen, die in schwierigen Zeiten nachhaltig erfolgreich wirtschaften wollen, müssen künftig über eine hohe Toleranz für Ungewisses und für Mehrdeutigkeiten verfügen. Die so genannte Ambiguitäts-oleranz wird zu einer Basiskompetenz für künftige Leader.
Die moderne Arbeitswelt ist dauernd in Bewegung: Restrukturierungen am laufenden Band, Teams, die rund um den Globus verteilt sind, Organisationsformen, die kommen und gehen – niemand weiss, ob das, was heute ist, morgen noch Bestand hat. Kommt – wie im Moment – noch eine weltweite Krise hinzu, ist der Berufsalltag noch stärker als sonst geprägt von Un-sicherheiten und Mehrdeutigkeiten.
Künftige Führungskräfte sollten daher neben echten Leadership-Qualitäten auch über ein hohes Mass an Ambiguitätstoleranz verfügen. Will heissen: Sie müssen fähig sein, die täglichen Mehrdeutigkeiten sowie die sich häufenden vagen und unsicheren Situationen zu meistern.
Austausch und Selbstreflexion
Ob diese Fähigkeiten lernbar sind oder nicht, ist umstritten. «Zum einen sind sie sicher Veranlagung», erklärt Eric Lippmann, Leiter Zentrum Leadership, Coaching & Change Management am Zürcher IAP – Institut für Angewandte Psychologie, «zum anderen haben sie bis zu einem gewissen Grad mit der Lebens- und Berufserfahrung zu tun.» Insofern könne man den Umgang mit Unsicherheiten also lernen, Seminare oder Kurse seien dazu aber nicht ausreichend. «Es braucht dazu die Praxis, sprich den Unternehmensalltag und die Interaktion mit Mitarbeitenden und Führungskollegen sowie deren Feedback.» Neben einer Firmenkultur, in der man sich gegenseitig austauscht, braucht es zudem viel Selbstreflexion. «Denn ob jemand mit Ambiguitäten umgehen kann oder nicht, hängt sehr stark davon ab, wie er mit seinen eigenen Widersprüchen und mit Konflikten umgeht.»
Doch nicht nur für die Leader von morgen ist mentale und soziale Agilität sowie die Kompetenz, Unsicherheiten gezielt zu handhaben, unabdingbar, sondern auch für die Unternehmen. Denn Fakt ist: Mitarbeitende und Führungskräfte, die offen sind für Neues, Veränderungen und ein dynamisches Umfeld suchen, fühlen sich in einer statischen und überstrukturierten Organisation äusserst unwohl. Daher ist für Heinz Jarmai, Geschäftsführender Gesellschafter der Beratergruppe Neuwaldegg, klar: «Der pragmatische Umgang mit Widersprüchen muss als Teil der Kultur in der gesamten Organisation verankert sein.» Jarmai denkt sogar noch einen Schritt weiter und fordert nicht nur Führungskräfte, die sich den laufenden Veränderungen anpassen, sondern auch Organisationen. «Und zwar nicht mittels Dauerrestrukturierungen, sondern indem sie sich als hybride Organisationen definieren.» In dieser Daseinsform, so Heinz Jarmai, könne die Organisation situationsadäquat zwischen den verschiedenen Organisationsmustern hin und her wechseln. «Einmal ist sie Projektorganisation, dann wiederum eine Matrix und dann eine normale Holding.»
Solange allerdings in den obersten Führungsgremien die Sehnsucht dominiert, die herrschende Komplexität mittels Fakten und Zahlen im Griff zu haben oder diese mit stringenten Prozessen austricksen zu wollen, wird auch der Umgang mit Mehrdeutigkeiten schwierig bleiben. Oder mit den Worten von Eric Lippmann ausgedrückt: «Die Komplexität ist nun mal eine Tatsache, die sich in der globalisierten Wirtschaft nicht ändern lässt. Anstatt diese Tatsache zu ignorieren, sollte sie als gegeben betrachtet und in den Arbeitsalltag integriert werden.»