Abgrenzung

Die Mischung macht’s: Warum wir 
Erholung zum Überleben brauchen

Meetings, Konflikte mit den Kollegen, Tagesgeschäft, Strategieplanung und daneben meist auch noch diverse private 
Verpflichtungen: Zeit für Entspannung bleibt kaum. Ein Kreislauf, der schnell zum Teufelskreis werden kann. Was genau aber ist es, das uns krank macht? Und warum können wir ohne Erholungsphasen auf die Dauer gar nicht überleben?

80 000 Stunden verbringt der Durchschnittsmensch im Laufe seines Lebens am Arbeitsplatz. «Es macht durchaus Sinn, Erholungsphasen in das persönliche Zeitmanagement mit einzubeziehen», sagt der Organisationspsychologe Dr. Cornelius König von der Universität Zürich. Spätestens abends solle man dafür sorgen, dass man auf andere Gedanken kommt. In vielen Unternehmen gelte eine reine Präsenzkultur, nach dem Motto: Hauptsache, man ist da. Für den Vorgesetzten ist es einfach zu überprüfen, ob jemand anwesend ist. Die Schlussfolgerung ist gemeinhin, dass er auch arbeitet. «Was dazu führt, dass die Leute übermässig viel da sind», so König.

Dabei wäre es seiner Meinung nach für den Chef vielleicht wichtiger zu wissen, was die Mitarbeiter machen und vor allem ob sie ihre Sache gut machen. Wenn mehr über die Ziele geführt würde, hätten die Mitarbeiter die Chance, diese gut zu erfüllen – ohne einen permanenten Anwesenheitszwang. In einer rein ergebnisorientierten Kultur würden unproduktive Mitarbeiter schneller entlarvt, so König, «diejenigen aber, die ihre Arbeit gewissenhaft erledigen und ihre Ziele erfüllen, bekommen mehr Freiräume und mehr Chancen, sich von der Arbeit auch einmal abzugrenzen. Und sei es nur räumlich.» Werde nicht eine ausgesprochene Pausen- und Erholungskultur im Unternehmen vorgegeben, sei sie für den Einzelnen schlecht umsetzbar. «Unternehmen könnten mehr darauf achten, dass Mitarbeiter Entspannungsphasen einhalten», meint König. «Das Fatale an den Pausen jedoch ist, dass man sie typischerweise erst macht, wenn man sie dringend braucht. Und das ist zu spät. Pausen sollte man eigentlich einschieben, bevor man darüber nachdenkt.»

Auf der Suche nach dem Zyklus von Beanspruchung und Auszeit

Das sieht auch Professor Norbert K. Semmer, Arbeits- und Organisationspsychologe an der  Universität Bern, so. «Es gibt einen Zyklus von Beanspruchung und Erholung», erklärt er. Einzelne stärkere Belastungen seien nicht dramatisch, wenn darauf jeweils eine bewusste Erholungsphase folgt und wir uns in dieser Zeit auch tatsächlich erholen und vom täglichen Trott abgrenzen. Bei einem normalen, gesunden Verlauf folgt auf die Belastungsphase eine Erholungsphase (Grafik 1). Kommen aber die Belastungen zu schnell hintereinander (Grafik 2), dann wird die Erholung unterbrochen, die Reserven können nicht mehr regeneriert werden.

Wer nicht gut mit Stress umgehen kann, neigt unter Umständen dazu, zu stark zu reagieren (Grafik 3). Eine Folge lang dauernder Überlastung kann auch sein, dass man nicht mehr ausreichend stark reagiert, weil der Körper zu wenig Hormone wie Cortisol oder Adrenalin ausschüttet (Grafik 4). Und schliesslich kann als Folge von andauerndem Stress auch die Erholungsfähigkeit leiden (Grafik 5). Man braucht zu lange, um nach einer Belastung wieder auf «Level normal» zu kommen. Was ein normaler Wert ist, hängt dabei allerdings auch von der Tageszeit ab, da viele Körperfunktionen über den Tag schwanken.

Auch positiver Stress kann zu 
einem Herzinfarkt führen

«Stress ist das Bestreben des Körpers, nach einem irritierenden Reiz so schnell wie möglich wieder ins Gleichgewicht zu kommen», so die Definition des Schweizerischen Zentrums für Stressforschung. In Stresssituationen lösen bestimmte Hormone verschiedene körperliche Reaktionen aus: Das Herz schlägt schneller, die Sinne sind geschärft. Die Natur hat dieses Programm geschaffen, um das Überleben in bedrohlichen Situationen zu sichern. Probleme entstehen vor allem dann, wenn Stress dauerhaft anhält und Körper, Geist und Seele sich nicht regenerieren können.

Dauerstress ist ein Teufelskreis, in dem irgendwann die Gesundheit, Leistung und Produktivität leiden. Das wiederum wird mit einem höheren Zeitaufwand kompensiert und die Negativspirale beginnt. Spätestens jetzt wird auf Erholungsphasen zugunsten hoher Leistung fast gänzlich verzichtet. «Wenn dieses Gleichgewicht gestört wird, kommt es zunächst zu Ermüdungserscheinungen oder Konzentrationsschwierigkeiten. Weitere Anzeichen seien laut Semmer Schlafprobleme und Irritierbarkeit im sozialen Umgang. Man wird dünnhäutig und reagiert bei kleinen Dingen über, ist gereizt in Situationen, auf die man früher eher gelassen reagiert hätte.

Oftmals wird von positivem oder negativem Stress gesprochen. Dies sei jedoch sehr missverständlich, so Semmer. «Auch positiver Stress hat seinen Preis.» Die Challenge-Stressoren wie beispielsweise Zeitdruck korrelierten zwar mit der Arbeitszufriedenheit und der Leistung oft positiv. Es träten jedoch trotzdem Stresssymptome auf. «Das erklärt auch, warum Leute mit belastenden, aber zufriedenstellenden Arbeitsbedingungen sowohl Zufriedenheit, Selbstbewusstsein und Stolz entwickeln können, aber eben auch einen Herzinfarkt.»

Die ersten Anzeichen gestehen wir uns nur ungern ein. «Das Umfeld merkt meist eher als wir selbst, dass mit uns etwas nicht stimmt. Wenn Freunde sagen, ‹Du bist nicht mehr der Alte, man sieht sich gar nicht mehr, du bist gereizt›«, dann sollten wir das ernst nehmen», meint Semmer. Hören wir ebenfalls nicht mehr auf unseren natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus und bauen keine regelmässigen Pausen in unseren Arbeitsalltag ein, kann sich daraus eine stetige Überforderung entwickeln. Sind wir in dieser Spirale erst einmal gefangen, leidet auch die Erholungsfähigkeit.

Das heisst, selbst wenn wir die Notwendigkeit zur Erholung erkennen und Gelegenheiten dafür einbauen, sind wir nicht mehr fähig, diese auch zu nutzen. Die Grafik 6 zeigt, wie viele Aspekte hier zusammenspielen: Verschiedene Faktoren bestimmen, wie gross unsere Erholungsnotwendigkeit ist und wie viele Erholungsgelegenheiten wir haben. Aber auch unsere Art, diese Gelegenheiten zu nutzen (zum Beispiel durch Sport) spielt eine Rolle. Und schliesslich sind Menschen unterschiedlich gut in der Lage, die Erholungsgelegenheiten auch zu nutzen – wer schon Schlafstörungen entwickelt hat, kann sich zum Beispiel weniger gut erholen.

In welchem Fall eine 50-Stunden-
Woche gesünder ist als die mit 35

Viele Menschen freuen sich bereits am Montagmorgen auf das nächste Wochenende. Sie wurschteln sich durch die Woche und gönnen sich oft nicht genügend Rückzugsmomente. Momente, die aber nötig sind, um wieder zu sich zu kommen. Meist hat man auch zu wenig Gelegenheiten dafür, denn die Umstände bieten wenig Spielraum. Trotzdem: Alles, was Energie verbraucht, muss irgendwann wieder aufgefüllt werden. «Mehrere kurze Pausen haben nachweislich einen stärkeren Erholungswert als eine lange Pause», erklärt Semmer (siehe auch Seite 27). «Davon sind jedoch die Arbeitnehmer oft genauso schwer zu überzeugen wie die Arbeitgeber und Führungskräfte.»

Eine Viertelstunde vor die Tür gehen oder im Garten ein Manuskript lesen, auch das ist schon eine kleine Abgrenzung vom Bürotrott und hilft, Energie aufzutanken. Wer seinen eigenen Rhythmus kennt und Arbeit und Abgrenzungsmomente in gesunder Balance halten kann, geht womöglich nach einer 50-Stunden-Woche erholter ins Wochenende als jemand, der das nach einer 35-Stunde-Woche ohne Erholungsphasen tut.

Freiräume brauchen klare 
Regelungen mit dem Arbeitgeber

Ein weiterer Aspekt der Abgrenzung ist die Möglichkeit, sich neben seinem Beruf auch einem Privatleben widmen zu können. Letztlich lassen sich Arbeit und Freizeit immer schwerer voneinander abgrenzen. Zwei Drittel der Berufstätigen in Deutschland sind 
ausserhalb ihrer regulären Arbeitszeiten für Kunden, Kollegen oder Vorgesetzte per Internet oder Handy erreichbar. Die Hälfte davon ist jederzeit erreichbar, also auch am Abend oder am Wochenende. Und die andere ist zu festgelegten Zeiten per Internet oder Telefon auch ausserhalb der Arbeitszeit für den Arbeitgeber da. Das hat eine repräsentative Umfrage im Auftrag des deutschen Hightech-Verbands Bitkom ergeben.

Lediglich 32 Prozent der Berufstätigen sind in ihrer Freizeit nur in Ausnahmefällen oder gar nicht per Internet oder Handy erreichbar. Unterschiede bei der Erreichbarkeit gibt es auch zwischen Männern und Frauen. Während fast drei Viertel (73 Prozent) der berufstätigen Männer ausserhalb der normalen Arbeitszeiten per Handy oder E-Mail erreichbar sind, sind es bei den Frauen 59 Prozent.

Klare Regelungen zwischen Arbeitgeber und Mitarbeitern könnten Freiräume und gutes Gewissen schaffen. Nach den Ergebnissen der Umfrage existieren bei der Mehrheit der Befragten (56 Prozent) bereits entsprechende Vereinbarungen. Bei 34 Prozent der Berufstätigen gibt es Vereinbarungen im Rahmen einer individuellen Absprache mit dem Vorgesetzten. Bei 22 Prozent existiert eine Vorgabe des Arbeitgebers für alle Mitarbeiter. Allerdings gibt es immerhin bei 41 Prozent der Berufstätigen keine klaren Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber.

«Hier spielen auch wieder Tabus eine Rolle», sagt Semmer. «Kann ich wirklich sagen, so jetzt bin ich mal nicht erreichbar? Bin ich in der Lage, mein Handy anzuschauen und zu sagen, da läuft zwar etwas, aber dafür ist jetzt der Kollege zuständig?» Selbst innerhalb der Unternehmen sei die Handhabung unterschiedlich, inwieweit das Abschalten akzeptiert ist oder nicht.  Von den Teilnehmern seiner Stressbewältigungstrainings weiss Semmer: «Es ist ein langsamer Prozess.»

Literaturhinweis:

Semmer, N. K., Grebner, S., & Elfering, A. (2010). «Psychische Kosten» von Arbeit: Beanspruchung und Erholung, Leistung und Gesundheit. In U. Kleinbeck & K.-H. Schmidt (Hrsg.), 
Arbeitspsychologie. (Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 
D-III-1, S. 325 - 370). Göttingen: Hogrefe.

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