Die Skills der Zukunft erspielen
Eigenschaften wie Anpassungsfähigkeit, kritisches Denken und die Analyse von komplexen Situationen gehören zum Alltag von Gamerinnen und Gamern. Doch die meisten sind sich nicht bewusst, welche Fähigkeiten sie sich in kurzweiligen Stunden antrainieren. Für Berufs- und Laufbahnberatende, aber auch HR-Verantwortliche, bieten Videospiel-Präferenzen wertvolle Informationen zu Neigungen, Motivationen und Skills von Nachwuchskräften.
Marc Bodmer: «In jedem Computerspiel werden Spielende vor Herausforderungen gestellt.» (Bilder: iStock, Roger Hofstetter)
Es gibt Dinge, die in den letzten zehn Jahren erstaunlich stabil geblieben sind. Dazu zählt beispielsweise der Prozentsatz der jugendlichen Gamerinnen und Gamer in der Schweiz. Seit 2010 befragt die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) für die James-Studie jährlich rund 1000 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 12 und 18 Jahren zu ihrer Mediennutzung. Dort zeigte sich, dass über 90 Prozent der Jungs und über 50 Prozent der Mädels regelmässig gamen.
Die Geschlechterverteilung überrascht nicht, sollte aber mit Vorsicht genossen werden, denn entscheidend ist die Form der Frage. Spricht man mit Jungs über Games, kommt schnell Begeisterung auf. Der Identifikationsgrad mit Videospielen ist hoch und deren Inhalte Gesprächsthema Nummer 1 auf dem Pausenplatz. Die jungen Damen hingegen identifizieren sich in der Regel nicht als Gamerinnen. Für sie sind die Computerspiele einfach ein Zeitvertrieb und Spass für Zwischendurch. Damit die Zahlenhuberei ein Ende hat: Games sind keineswegs Kinderkram. Gemäss der «eSports Schweiz 2021»-Studie der ZHAW ist die Gruppe der Spielenden im Alter von 30 bis 44 Jahren gleich gross wie die der 16- bis 19-Jährigen. Allgemein wird von einem Durchschnittsalter zwischen 30 und 35 Jahren ausgegangen. In Anbetracht dessen macht es Sinn, die Beschäftigung mit Computerspielen im Kontext der Berufswahl und der Rekrutierung genauer zu betrachten, da die Game-Industrie im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren Jahr für Jahr zulegt. Aktuell geht man weltweit von über drei Milliarden Gamerinnen und Gamern aus. Das hat der Schweizer Dachverband der Berufs- und Laufbahnberatenden SDBB erkannt und deshalb mit einem Innovationsfond das Pilotprojekt «Gaming Skills – Verborgene Kompetenzen für die Berufswelt» der ZHAW unterstützt.
Vergleicht man die Anforderungen heutiger Videospiele an Spielende mit den «Seven Survival Skills», die der Bildungswissenschaftler Tony Wagner 2015 definierte, um Arbeitnehmende für die Arbeitswelt zu rüsten, ergibt sich eine hohe Deckung:
Criticial Thinking & Problem Solving
Kritisches Denken beginnt damit, gute Fragen zu stellen. Es geht darum, ein Problem zu erfassen und zu beschreiben. Einmal konkret umschrieben, ist es einfacher zu lösen. Auf Games angewandt heisst das: In jedem Computerspiel werden Spielende vor Herausforderungen gestellt. Für die sich laufend wandelnden Problemstellungen sind stets Lösungen zu finden. Dabei müssen Spielende in Sekundenbruchteilen eine Lage erfassen, analysieren und hinterfragen, bevor sie eine Strategie entwickeln.
Collaboration Across Networks & Leading by Example
Immer mehr Arbeit wird von «virtuellen» Teams erledigt. Zunehmend werden diese durch Einflussnahme ihrer Mitglieder geleitet und nicht durch eine hierarchisch höher eingestufte Person. Auf Games angewandt heisst das: Praktisch alle Videospiele sind heute vernetzt. Gespielt wird oft in (internationalen) Teams, die sich via VoIP (Voice over Internet Protocol) oder Netzwerken wie Discord während des Spiels absprechen. Was zählt, ist die Leistung und die im Spiel gezeigte Kompetenz. Zur daraus resultierenden Vorbildrolle gehört auch der Wille, das Team vorwärtszubringen.
Agility & Adaptability
Die Geschwindigkeit der laufenden Veränderungen und die Komplexität der Problemstellungen verlangen Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit. Auf Games angewandt heisst das: Aktuelle Computerspiele stellen Spielende immer wieder vor neue Herausforderungen. Treten Spielerinnen und Spieler gegeneinander online an, präsentieren sich die Begegnungen sehr unterschiedlich. Spielende werden selbst durch Handy-Games laufend gezwungen, flexibel zu sein und sich neuen Gegebenheiten anzupassen.
Initiative & Entrepreneurship
Es reicht längst nicht mehr, Aufgaben und Aufträge zu erfüllen. Man muss sich Ziele setzen und diese angehen. Werden nicht alle erreicht, ist das immer noch höher einzustufen als das reine Abarbeiten von vorgegebenen Aufträgen und eine Frage der Fehlerkultur. Auf Games angewandt heisst das: Wer nicht nur bestehen, sondern vorwärtskommen will, muss bereit sein, die Initiative zu ergreifen und mehr als das Nötige zu erfüllen. Durch die in Games verbreitete «Versuch und Irrtum»-Herangehensweise wird stets der Rahmen des Möglichen ausgelotet. Ohne (Eigen)Initiative geschieht in Games nichts.
Effective Oral, Written and Multimedia Communication
Schreiben hört nicht mit korrekter Orthografie und Grammatik auf. Gedanken müssen in eigene Worte gefasst werden, um zu überzeugen. Auf Games angewandt heisst das: Viele Computerspiele werden in Teams gespielt. In hektischen Situationen bedarf es einer klaren und effektiven Kommunikation, um Missverständnissen vorzubeugen. Viele Spielende sagen, dass sie ihre Englischkenntnisse durch das Online-Spielen wesentlich verbesserten.
Accessing & Analysing Information
Sich Zugriff auf relevante Informationen verschaffen und entsprechende Schlüsse daraus ziehen. Auf Games angewandt heisst das: Es kommt immer wieder vor, dass sich Spielenden gewisse Problemstellungen nicht erschliessen. Dafür werden online Lösungswege gesucht und im Spiel umgesetzt. Ein anderer Weg ist der Beizug von erfahrenen Spielenden, die bei der Problemlösung helfen.
Curiosity & Imagination
Neugierde, Vorstellungsvermögen und Kreativität sind von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, in Zukunft auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Auf Games angewandt heisst das: Neugierde ist eine treibende Kraft in Computerspielen, die sich als Versuchslabor eignen, um neue Wege zu beschreiten und Dinge auszuprobieren. Sogenannte Sandkastenspiele wie «Minecraft» lassen Spielende kreatives Potenzial ausschöpfen. Einzig die Limiten der eigenen Vorstellungskraft setzen dem Spiel Grenzen.
Berufslaufbahnberatende aus der Deutschschweiz wurden an vier Workshops des vom SDBB-Innovationsfonds finanzierten Pilotprojekts der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zu «Gaming Skills – Verborgene Kompetenzen für die Berufswelt» eingeladen. Die wenigsten Teilnehmenden verfügten über aktuelle Gameerfahrung. Vielfach verwiesen sie auf das Gamen in Jugendjahren. Doch die technische Entwicklung des interaktiven Unterhaltungsmediums ist derart gross, dass Videospiele der heutigen Generation mit ihren Vorgängern von anno dazumal höchstens noch gewisse Grundmechanismen gemein haben. Sie sind bzüglich des Grads der Komplexität und der gestellten Anforderungen erheblich anspruchsvoller. Dass sich durch das Spielen von Computergames für den Berufsalltag nützliche Fähigkeiten aneignen lassen, bejahten sämtliche Teilnehmenden.
Trotz des Interesses an der Skills-Thematik wurden immer wieder Bedenken eingebracht. Ob Games nicht süchtig machen, wurde gefragt. Welche Bedeutung kommt Gewaltdarstellungen in Computerspielen zu? Machen Games aggressiv? Diese Einwände illustrierten zum einen die weit verbreiteten Vorbehalte gegenüber Computerspielen, aber auch unter welcher Stigmatisierung Kinder und Jugendliche leiden. Schnell heisst es: «Er ist halt ein Gamer.» Damit werden pauschal gewisse Auffälligkeiten wie Unzuverlässigkeit, Desinteresse oder Schlafmangel «erklärt» und der Betroffene wird abgestempelt. Vor dem Hintergrund, dass über 90 Prozent der männlichen Jugendlichen in der Schweiz regelmässig gamen, ist diese Haltung problematisch. Gamer sind die Regel und nicht die Ausnahme. Aufgrund dieser Stigmatisierung erwähnen Spielende selten aus eigenem Antrieb ihr Hobby. Viele sind dann erstaunt, wenn sie von Beratenden wertfrei darauf angesprochen werden.
Die Workshops und Befragungen der Berufslaufbahnberatung zeigten, dass sich Beratende Unterstützung und Gesprächshilfe im Bereich Computerspiele wünschen. Das Wissen über dieses schnelllebige und weitverbreitete Unterhaltungsmedium der Beratenden ist beschränkt und reicht bei Weitem nicht aus, um ein fundiertes und zielführendes Gespräch zu führen. Vonseiten der Teilnehmenden wurde verschiedentlich auch auf die Stigmatisierung der Thematik hingewiesen. Computerspiele und Gamer haben einen schlechten Ruf – besonders in überwiegend traditionellen Arbeitsgebieten. Das ist ein Grund, weshalb Ratsuchende Gaming-Tätigkeiten selten aus eigenen Stücken thematisieren. Vonseiten der ZHAW sind deshalb weitere «Gaming Skills»-Workshops geplant. Parallel dazu wird ein Tool für Berufs- und Laufbahnberatende entwickelt, das Beratende in ihrer Tätigkeit unterstützt und die verborgenen Potenziale der Games sichtbar macht.