Digitaler Wandel zwingt zur Reduktion
Personalentwickler und HR-Verantwortliche müssen sich auf veränderte Erwartungen neuer Generationen einstellen. Der Einsatz von Lernplattformen und die Nutzung mobiler Geräte in der beruflichen Weiterbildung rufen nach neuen und reduktiven Formaten. Lernstoff muss reduziert, Komplexität vereinfacht und herausfordernde Themen müssen anschlussfähig aufbereitet und gelehrt werden.
Niemand ist gleich: Mitarbeitende lernen im eigenen Tempo, an der eigenen «Lernlücke», mit ihrer präferierten Lernmethode. (Bild: iStockphoto)
Die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten des Lehrens und des Lernens. Während «früher» die Zugangsvoraussetzungen für bestimmte Berufe und Tätigkeiten klar definiert waren, ist gesichertes Wissen heute nicht mehr zwangsläufig an Expertinnen und Experten gebunden, sondern über das Internet in Echtzeit verfügbar. So können Mitarbeitende in Foren, Netzwerken, Social Media, über Online-Kurse wie MOOCs oder durch Ted-Talks an ihrer fachlichen Entwicklung arbeiten. Gleichzeitig erlauben die sozialen Medien jedem, zum Experten zu werden, indem er für eine Community relevante Informationen produziert. Mitarbeitende können sogar ohne formale Abschlüsse oder akademische Titel als Fachperson wahrgenommen werden.
In diesem Zusammenhang sprechen wir vom Phänomen des «outborded Brain», des ausgelagerten Gehirns. Dabei steht die Herausforderung im Vordergrund, wie Lernprozesse möglichst inklusiv und selbstbestimmt in einer fluiden Netzwerkgesellschaft organisiert werden sollen, in der Wissen zum Treibstoff aller technologischen, sozialen und ökonomischen Prozesse geworden ist. Abzusehen ist, dass Personalentwickler mit ausgeprägten Kompetenzen in der IT und der Fähigkeit zur Reduktion sehr gefragt werden.
Damit der Transfer von Inhalten und Aufgaben in die digitalisierte Welt gelingt, brauchen Personalentwickler und HR-Verantwortliche Kompetenzen in der didaktischen Reduktion. Indem sie in der internen Weiterbildung beispielsweise ein Online-Lernangebot mit einer benutzerfreundlichen Oberfläche entwickeln. Mitarbeitende können somit leichter auf der Lernplattform navigieren, treffen auf weniger überfrachtete Seiten und finden schneller passende selbsterklärende Schaltflächen.
Didaktische Reduktion: Reduce to the max
Die didaktische Reduktion hat eine lange Tradition. So empfahl der Pädagoge Johann Amos Comenius bereits vor 350 Jahren: «Schreite vom Nahen zum Entfernten, vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Leichten zum Schweren, vom Bekannten zum Unbekannten fort.» Seine fünf didaktischen Regeln beeinflussen bis heute die Gestaltung von Lehrbüchern, Trainings und Weiterbildungsangeboten. Indem Personalentwickler und Lehrende Inhalte auswählen und Lernziele oder Entwicklungsschritte definieren, stellen sie bereits reduktive Überlegungen an. Sie wählen aus, fokussieren und konzentrieren sich auf das Wesentliche. Folgende Fragen helfen bei der didaktischen Reduktion:
- Welche Voraussetzungen bringen die Mitarbeitenden oder Lernenden mit?
- Welche Inhalte sind praxisrelevant?
- Welche grundlegenden Zusammenhänge müssen sie erkennen?
- Gibt es Prototypen oder Beispiele, die den Sachverhalt gut erklären?
- Wie viel Zeit steht für den Lernprozess zur Verfügung?
- Was zählt am Schluss an der Prüfung, beziehungsweise über welche Handlungskompetenzen sollen die Lernenden verfügen?
Vorwissen berücksichtigen
Trainer und Kursleitende, die sich als Expertinnen und Experten ihres Bereichs verstehen, haben mit der Reduktion oft ein Problem. Weil sie über ein breites und komplexes, gleichzeitig vernetztes und verdichtetes Wissen verfügen, gehen sie davon aus, dass alles wichtig ist. Doch das ist meist nicht wahr. Folgen sie unreflektiert dem Standpunkt der «Vollständigkeit», muten sie ihrem Publikum, zumindest in einer ersten Phase, oftmals zu viel Stoff oder zu viel Komplexität zu. Mehr, als die Lernenden zu diesem Zeitpunkt aufnehmen können. Und mehr, als der Lernprozess im Moment auszuhalten vermag.
Aus diesem Grunde sind HR-Fachleute und Personalentwickler gut beraten, das Vorwissen und die Lernerwartung der Teilnehmenden im Vorfeld ihrer Planung abzuklären. Entsprechende Instrumente und Erhebungsmethoden verschaffen Klarheit, beispielsweise durch einen Online-Test oder eine mündliche Standortbestimmung. Damit sind sie besser vorbereitet, um an die Konzeption einer Präsentation oder eines Lernangebotes zu gehen. Und können so den Mitarbeitenden den Zugang zum Lernstoff vereinfachen.
Das Spiegelei-Prinzip
Bewusst oder unbewusst wenden sie dabei oft die 3-Z-Formel an: Zielgruppe, Lernziel und Zeitbudget. Oder sie stellen vermittlungstechnische Überlegungen an und arbeiten elementare und fundamentale Aspekte eines Phänomens heraus. Sie definieren innerhalb einer Stoffmenge Schwerpunkte und zentrale Lernschritte. Und finden dabei heraus, was sie im Moment auf der Seite lassen können. Als Metapher hilft das Spiegelei-Prinzip: Wirklich schmackhaft ist nur das Eigelb. Das entspricht den Lerninhalten, welche für die Lernenden praxis- oder prüfungsrelevant sind. Ein Anteil Eiweiss wiederum «schützt» den Kern, das Eigelb, und bietet ergänzende Hintergrundinformationen. Lernenden gelingt es so, das Phänomen in seinem Kontext noch besser einzuordnen. Mit diesen Fragen gelingt die Reduktion:
- Zielgruppe: Teilnehmerzahl, Kenntnisstand, Praktiker versus Theoretiker, besondere Interessen?
- Zeit: Zeitvorgaben, Verteilung auf unterschiedliche Schwerpunkte? Mit den gewünschten Methoden umsetzbar?
- Ziel: Schwerpunkte des Auftraggebers, Lernziele, aufzubauende Kompetenzen?
Individuelle Lernpfade ermöglichen
Neben der Reduktion ist es wichtig, bei der Planung darauf zu achten, individuelle Lernpfade zu ermöglichen. Die Differenzierung erlaubt Mitarbeitenden, ihren Lernweg je nach Vorwissen, Leistungsfähigkeit und Lernziel weitgehend selbst zu bestimmen. Personalentwickler, die so vorgehen, ersparen den Lernenden eine Reizüberflutung. Sie erleichtern ihnen zudem die Orientierung in der Aufgabe und bieten ansprechende, stufengerechte und lehrreiche Angebote. Die Vorteile individueller Lernpfade überzeugen: Mitarbeitende lernen im eigenen Tempo, an der eigenen «Lernlücke», mit ihrer präferierten Lernmethode (Text, Video, Quiz, Diskussionsforum). Im Idealfall fällt es ihnen damit leichter, Verantwortung für ihren Lernerfolg zu übernehmen.
Um es mit einer Metapher auszudrücken: Je nach Anspruch begnügt sich eine Mitarbeiterin mit der Vorspeise, einem «Lernhappen» von ungefähr 15 Minuten. Oder sie entscheidet sich für ein «Mehrgangmenü» und beschäftigt sich auch noch mit der vertiefenden «Nachspeise». Sofern die Organisation die Lerninhalte in einer Wiki-Struktur offeriert, sind diese leicht und schnell veränderbar. Sie können jederzeit an den neuen Lernbedarf angepasst werden und eignen sich ausgezeichnet für die Kooperation verschiedener Lerngruppen aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Handelt es sich gar um Lernsysteme, die situativ auf das Verhalten reagieren, lernen Mitarbeitende meist mit mehr Freude und Ausdauer, weil sie auf ihrem Anspruchsniveau angesprochen werden.
Checkliste
Worauf HR-Fachleute bei der Erstellung von Online-Lernangeboten achten sollten:
- Unterstützen alle Kursinhalte die Erreichung der Lernziele? Behalten Sie Ihre Zielgruppe im Blickfeld. Finden Sie heraus, welche Vorkenntnisse die Teilnehmenden haben und was sie brauchen, um darauf aufbauend die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben.
- Gibt es Inhalte, die kürzer dargestellt oder ganz weggelassen werden können? Machen Sie eine Aufgabenanalyse, um genauer zu verstehen, welche Einzelschritte zur Durchführung einer Aufgabe wirklich benötigt werden und welche überflüssig sind.
- Unterstützt das verwendete Bildmaterial die Lernziele sinnvoll? Oft werden E-Learning-Kurse mit unklaren Erwartungen erstellt. Entsprechend schwammig zeigt sich das Ergebnis und oft auch die Auswahl an Bildmaterial. Informationsorientierte Lernangebote, bei denen beispielsweise ethische Richtlinien verinnerlicht werden sollen, führen zu einem anderen Kursziel als ergebnisorientierte Kurse, bei denen die Lernziele eine messbare Verhaltensänderung verfolgen.
- Vermeiden Sie es, «Nice-to-know»-Inhalte als Füllstoff zu verwenden. Denken Sie daran: Aus dem Ergebnis eines E-Learning-Kurses wird eine Leistungsveränderung oder -verbesserung erwartet. Mithilfe des Kurses soll Wissen erworben werden, das in der Praxis angewendet werden kann. Konzentrieren Sie sich ausschliesslich auf das Wesentliche.
- Flexibel wählbare Lernpfade anbieten: Ähnlich wie wir es von Musik-Streamingdienstleistern gewohnt sind (meine Playlist), erwarten Lernende zunehmend auch beim Lernen eine auf ihre persönlichen Voraussetzungen und Ziele zugeschnittene Abfolge von Lerninhalten. Bieten Sie differenzierte Lernpfade an, die ein individuelles Lerntempo und selber definierte Schwerpunkte sowie Entwicklungswege erlauben.
- Tutorielle Einzelbetreuung dank KI und intelligenten Systemen: Die tutorielle Einzelbetreuung gehört zu den wirksamsten Lerninstrumenten, ist aber leider in der Regel kein bezahlbares Modell. Die technischen Entwicklungen der letzten Jahre sind vielversprechend. Einige Sprachlernapps (duolingo.com) oder Lernkartei-Systeme (knowledgefox.net) setzen bereits auf KI (künstliche Intelligenz), reagieren adaptiv auf das Verhalten von Lernenden und fördern sie auf ihrer Stufe.
Fachbegriffe zur didaktischen Reduktion
- Didaktische Reduktion ist die Fähigkeit von Ausbildenden und Lehrenden, während der Phase der Vorbereitung einer Präsentation oder eines Lernanlasses umfangreiche oder komplexe Inhalte zu reduzieren, zu vereinfachen und auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden ausgerichtet aufzubereiten.
- Komplexitätsreduktion bedeutet, dass wir eine Auswahl aus vorhandenen und wahrnehmbaren Informationen treffen. Technisch kann das durch eine Filterung oder Datenverarbeitung geschehen. Komplexitätsreduktion hilft, einer Reizüberflutung vorzubeugen, bei der die aus der Umwelt einströmenden Informationen nicht mehr oder nicht mehr sinnvoll verarbeitet werden können. Gleichzeitig ermöglicht oder vereinfacht die Komplexitätsreduktion die Kommunikation zwischen Menschen.