Ein gesetzlicher Mindestlohn ist denkbar ungeeignet
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat eine Initiative lanciert, mit der erstmals ein branchen- und regionenübergreifender Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde beziehungsweise 3800 Franken pro Monat (bei 40-Stunden-Woche) in der Verfassung festgeschrieben werden soll. Es stellen sich mehrere Fragen: Wem bringt ein solcher Mindestlohn was? Haben die Initianten den Mindestlohn in dessen Höhe richtig angesetzt? Und was bedeutet ein gesetzlicher Mindestlohn für die Sozialpartnerschaft in der Schweiz?
Ein Mindestlohn löst nicht die Armutsproblematik
Die Initianten beantworten die erste Frage nach der Notwendigkeit und dem Nutzen eines gesetzlichen Mindestlohnes folgendermassen1: Der Schutz der Löhne weise grosse Lücken auf, weil 60 Prozent der Angestellten in der Schweiz nicht über Mindestlöhne abgesichert seien. 400 000 Beschäftigte verdienten weniger als 22 Franken pro Stunde, und da liege die sogenannte – auch vom Bundesamt für Statistik (BFS) in etwa so definierte – Tieflohnschwelle (siehe Box «Tieflohn»). Schliesslich sei die Möglichkeit, die Löhne über Gesamtarbeitsverträge (GAV) zu schützen, begrenzt, weil ein Teil der Arbeitgeber schlecht organisiert sei oder keinen GAV wolle.
Aus Sicht der Gewerkschaft darf die Lohngestaltung also nicht (alleine) dem Markt überlassen werden. Anderenfalls, so ihre Überlegung, droht die Entlohnung nicht fürs Leben zu reichen. Tatsächlich gibt es (leider) auch in der Schweiz Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind (siehe Box «Armut»), das heisst ein Einkommen erzielen, das unter dem Existenzminimum liegt. Dadurch werden die Betroffenen in der BFS-Definition zu Working Poor (siehe Box). Laut Berechnungen des BFS gibt es in der Schweiz rund 118 000 Working Poor. Das entspricht 3,8 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter.
Die Working-Poor-Problematik definiert sich allerdings nicht über den Lohn einer Einzelperson, sondern über die Tatsache, dass die grundlegenden Lebenshaltungskosten einer betroffenen Familie das erzielte Haushaltseinkommen übersteigen. Das kann verschiedene Ursachen haben. Eine Analyse des BFS2 macht klar, dass ein ausschlaggebender Faktor in der Haushaltszusammensetzung liegt. Das Verhältnis der Anzahl Verdienenden zur Anzahl Unterstützungsbedürftigen ist entscheidend fürs Working-Poor-Risiko.
So gibt es erwerbstätige Männer und – wohl noch viel häufiger – Frauen, die zwar ein (sehr) bescheidenes Arbeitseinkommen erzielen, aber mit einer/m Partner/in zusammenleben, deren beziehungsweise dessen Einkommen so hoch ist, dass es für den ganzen Haushalt ausreicht. Handkehrum gibt es Paare, deren Löhne für zwei Erwachsene gut ausreichen, aber nicht hoch genug sind, um den Bedarf einer kinderreichen Familie zu decken. Ein deutlich überproportionales Working-Poor-Risiko tragen daher kinderreiche Familien und Alleinerziehende generell.
Dass der Zusammenhang zwischen der Lohnhöhe und dem Working-Poor-Phänomen zwar besteht, aber nicht besonders stark ist, verdeutlichen auch folgende Statistiken aus der erwähnten BFS-Analyse: «Nur» ein Drittel der Working Poor erzielt einen Tieflohn. Die anderen zwei Drittel beziehen höhere Löhne. Handkehrum sind nur 13 Prozent der Arbeitnehmenden mit einem Tieflohn gleichzeitig auch Working Poor, zum Beispiel weil sie jung sind und geringe Ausgaben haben.3 Mit der Einführung eines nationalen Mindestlohns wäre also rund Zwei Drittel der Working Poor gar nicht geholfen, weil sie Lebenshaltungskosten haben, die deutlich darüber liegen. Andererseits würde man sich mit einer gesetzlichen Anhebung der Tieflöhne gewissermassen einer Giesskanne bedienen, die in 87 Prozent der Fälle Menschen zugute kommt, die gar nicht unter Armut leiden.
In gewissen Fällen überschneiden sich die Tieflohn- und Working-Poor-Phänomene allerdings deutlich, nämlich bei Erwerbstätigen ohne nachobligatorische Ausbildung sowie bei Ausländerinnen und Ausländern von ausserhalb der EU (die beiden Gruppen decken sich häufig). Die Hauptursache für deren Armut liegt im Strukturwandel, namentlich in der Globalisierung der Märkte und im technologischen Fortschritt. Beides hat dazu geführt, dass es in der Schweiz weniger Jobs mit niedrigen Anforderungen gibt, weil diese entweder ausgelagert oder durch Technik ersetzt worden sind. Mit einem Mindestlohn werden diese Jobs nicht wieder geschaffen. Die Lösung dürfte viel eher in der beruflichen (Weiter-)Bildungsförderung liegen.
Vernichtung von Arbeitsplätzen?
Ein gesetzlicher Mindestlohn ist also keineswegs das Nonplusultra, um die Armut zu bekämpfen. Könnte er gar schädliche Effekte entfalten? Die traditionelle Volkswirtschaftstheorie besagt, dass die Einführung eines Mindestlohns, der über dem Marktgleichgewichtslohn liegt, Arbeitsplätze zerstört. Genauso wie die Menschen in dieser Lesart ihre Arbeitsleistung zu einem als zu tief empfundenen Lohn gar nicht anbieten, verzichten die Arbeitgeber nämlich auf die Beschäftigung von Arbeitskräften, wenn die Lohnkosten den daraus erwarteten Betriebsertrag übersteigen. Liegt der Mindestlohn hingegen unterhalb des Gleichgewichtslohns, ist er unwirksam, weil die Unternehmen ohnehin mehr bezahlen.
Natürlich ist dieses Modell ein vereinfachendes. Am Arbeitsmarkt (wie auch auf anderen Märkten) herrscht kein perfekter Wettbewerb. Es gibt etwa Mobilitätskosten, Jobwechselkosten oder Nebenlohnleistungen, die den Entscheid der Arbeitnehmenden beeinflussen und das Unternehmen in eine Position versetzen können, die es ihm erlaubt, weniger als den Gleichgewichtslohn zu bezahlen. Dies kann zur Folge haben, dass die Einführung eines Mindestlohns entgegen der Theorie nicht jobvernichtend wirkt. In der neueren ökonomischen Literatur scheiden sich die Geister an den Beschäftigungseffekten eines Mindestlohns. In gewissen Fallstudien wurden gar beschäftigungssteigernde Effekte festgestellt; andere beobachten nach wie vor einen Beschäftigungsrückgang nach der Einführung eines Mindestlohns. Offensichtlich spielt der Kontext – Zeit, Land beziehungsweise Region, Erwerbsgruppen – eine wesentliche Rolle.
Wie sich die Einführung eines Mindestlohns in der Schweiz auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit auswirken würde, lässt sich aus volkwirtschaftstheoretischer Sicht somit nicht eindeutig voraussagen. Das Risiko eines Beschäftigungsrückgangs bleibt aber bestehen – umso mehr, als das Angebot an Jobs für schwach Qualifizierte in der Vergangenheit ohnehin schon gesunken ist. Unbestritten ist zudem, dass sich höhere Lohnkosten zumindest kurzfristig negativ auf die Unternehmensgewinne auswirken, weil eine sofortige Anpassung anderer Kosten oder die vollumfängliche Überwälzung auf den Kunden nicht möglich ist. Dies wiederum hat negative Folgen für die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Ein wichtiger Wachstumsmotor kann damit ins Stottern geraten.
Ebenso muss man sich bewusst sein, dass einige (grosse, multinationale) Unternehmen gut vernetzt und sehr mobil sind. Für sie wäre es relativ einfach, mit Wegzug und Prozessauslagerungen auf die Einführung eines Mindestlohns zu reagieren, bei dessen Festlegung sie nicht mitbestimmen konnten. Wälzt die Unternehmung die höheren Lohnkosten hingegen zu einem wesentlichen Teil auf die Preise ab, steigen damit die Lebenshaltungskosten. Anders gesagt: Die Kaufkraftsteigerung des höheren (Mindest-)Lohns würde damit wieder zunichte gemacht.
Einheitsbrei funktioniert nicht
Ein nationaler Einheitsmindestlohn ist und bleibt somit ein riskanter Eingriff in die Marktkräfte, der weitreichende, unbeabsichtigte und gar kontraproduktive Folgen haben kann. Hinzu kommt, dass ein nationaler Mindestlohn in seiner Höhe gar nicht richtig veranschlagt werden kann. Die am Markt herrschenden Lohndifferenzen punkto Region und Branche sind viel zu gross. So liegt etwa das 10-Prozent-Perzentil (derjenige Lohn, den 10 Prozent der Erwerbstätigen mit ihrem Erwerbseinkommen unterschreiten beziehungsweise 90 Prozent übertreffen) im Tessin bei 3220 Franken und damit mehr als 800 Franken unter dem entsprechenden Schwellenwert in der Nordwestschweiz (4051 Franken).4 Wie soll da ein Mindestlohn festgesetzt werden, der allen Regionen gerecht wird?
Noch augenfälliger sind die in der Schweiz existierenden Lohndifferenzen, wenn man die Löhne nach Branchen aufschlüsselt: Der 25-Prozent-Schwellenwert liegt im Banken- und Versicherungsgewerbe, in der Forschung und Entwicklung oder in der Energie- und Wasserversorgung bei rund 6400 Franken. Dagegen liegt die entsprechende 25-Prozent-Grenze im Gartenbau, in den persönlichen Dienstleistungen oder im Gastgewerbe mehrere 100 Franken unter den vom SGB geforderten 3800 Franken. Bei Einführung des SGB-Mindestlohns müssten die Arbeitgeber dieser Branchen somit für über einen Viertel ihrer Belegschaft von einem Tag auf den anderen Lohnerhöhungen in zweistelliger Prozenthöhe gewähren. In anderen Fällen bedurfte es für Lohnerhöhungen dieses Ausmasses rund fünf Jahre. Das dürfte betriebswirtschaftlich darum kaum umsetzbar sein und hätte in diesen Branchen sehr wahrscheinlich einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge.
Tieflohn
Als Tieflohn gelten gemäss Bundesamt für Statistik sämtliche Löhne, die auf ein Vollzeitäquivalent von 40 Wochenstunden umgerechnet weniger als zwei Drittel des Bruttomedianlohnes ausmachen. Im Jahr 2008 lag dieser Zwei-Drittel-Schwellenwert bei 3882 Franken.
Armut und Existenzminimum
Das Bundesamt für Statistik verwendet eine von den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) abgeleitete Armutsgrenze. Diese bemisst sich am Grundbedarf (soziales Existenzminimum) und dient der SKOS zur Bemessung der Sozialhilfeleistungen in der Schweiz. Im Jahr 2008 lag die Armutsgrenze für einen Einpersonenhaushalt bei 2300 Franken und für ein Paar mit zwei Kindern bei 4800 Franken. Wessen Einkommen (Erwerbseinkommen und/oder Sozialtransfers) nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge und der Steuern unter der Armutsgrenze liegt, gilt in dieser Lesart als arm. Die Armutsgrenze ist in der Schweiz höher angesetzt als in anderen Ländern. 2006 betrug sie ungefähr 55 Prozent des Medianeinkommens. Die OECD definiert sie als 50 Prozent des Medianeinkommens.
Working Poor
Innerhalb der armen Bevölkerung werden in der Definition des Bundesamts für Statistik diejenigen als Working Poor bezeichnet, die
- mindestens eine Stunde pro Woche arbeiten und
- in einem Haushalt leben, dessen Mitglieder zusammen mindestens 36 Stunden pro Woche arbeiten.
Ungefähr 55 Prozent der armen Bevölkerung sind in dieser Lesart Working Poor, während 45 Prozent arbeitslos oder nichterwerbstätig sind.