«Ein Märchenheld ist einer, der hingeht und unternehmerisch agiert»
Was hat der Froschkönig mit Whistleblowing zu tun? Und was Hans im Glück mit der Wirtschaftskrise? Sehr viel, findet Professor Rolf Wunderer, Leiter des Arbeitskreises «Märchen und Management» der Schweizerischen Märchengesellschaft. Und beobachtet, dass Frauen um einiges offener auf diese Analogien aus der Märchenwelt reagieren.
Rolf Wunderer: «Bei ‹Frau Holle› werden die Themen Arbeitsethos und Sozialverhalten sowie Gratifikation und Sanktion kurz und knackig behandelt.» (Foto: Beat Märki)
Herr Wunderer, wie kamen Sie als Professor für Personalmanagement darauf, sich mit Märchen auseinanderzusetzen?
Rolf Wunderer: Das verlief in Etappen. Schon in Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen habe ich gerne Metaphern gebraucht. Sie sind eingänglicher als nur Sachinformationen und die Seminarteilnehmer haben oft sehr positiv darauf reagiert. Metaphern sprechen eher die rechte Gehirnhälfte an. Studenten oder Führungskräfte konnten sich oft noch nach Jahren an diese aus meinen Vorträgen erinnern – oft mehr als an fachliche Inhalte.
Haben Sie vorher schon gern Märchen gelesen?
Nicht systematisch. Erst durch meine Erfahrung bin ich darauf gekommen, dass man, wenn man Märchen für Führungsfragen mit einbezieht, zu spannenden Erkenntnissen kommen kann. Allerdings war es ein langer Weg: Ich bin kein Philologe, sondern Managementforscher und musste mir den Zugang zu dem neuen Themengebiet erst erarbeiten. Ich wollte mit meiner Management-Brille auf die Philologie und Erzählforschung blicken.
Welches ist Ihr Lieblingsmärchen?
Inzwischen begeistern mich zunehmend unbekannte Märchen, wie «Die kluge Bauerntochter» oder «Die weisse Schlange» aus der Sammlung der Brüder Grimm. Für meine Themen gehören die zu den besten. Viele der bekannteren haben mit Management wenig zu tun: «Dornröschen» zum Beispiel gibt für mein Thema nicht viel her. Zwar versuchen die Eltern, ihr ein Netzwerk gegen den Fluch der 13 Feen aufzubauen, aber sie bleibt stets nur ein passives Objekt der Geschichte. Bei «Schneewittchen» ist das ähnlich: Sie wird durch einen Zufall gerettet und leistet selbst nicht viel. Bei den beliebteren Märchen geht es eigentlich erst bei «Frau Holle» los: Hier werden die Themen Arbeitsethos und Sozialverhalten sowie Gratifikation und Sanktion kurz und knackig behandelt.
Was können Manager denn konkret aus Märchen lernen?
Sicher nicht alle das Gleiche. Beispielsweise erzählte mir ein Investmentberater, dass er viel aus «Hans im Glück» mitgenommen hat: In der wirtschaftlich schwierigen Phase 2009 musste er sich innerlich aufrichten können, wenn nur schon das Telefon geklingelt hat – gerade wenn sein Tag bis dahin nicht erfreulich verlaufen war. Und der Hans im Glück kann eben solche Dissonanzen abbauen und immer die positive Seite sehen, auch wenn er materiell viel verloren hat. Nieder lagen wegstecken, neue Ziele suchen, sich remotivieren. Das waren ihm wichtige Lehren.
Aber auch umgekehrt kann profitiert werden: Ein Akademieleiter und Märchenexperte fand, dass er nun auch die Managementansätze für seine Führungsaufgaben viel besser verstehen könne – durch den Zugang über die Märchen. Zwischen den Disziplinen kommt es zu spannenden Diskussionen: Zum Beispiel waren wir beim «Froschkönig» völlig unterschiedlicher Meinung, er stand auf der Seite der Prinzessin und ich sah sie besonders als egozentrische, wortbrüchige und schliesslich brutal aggressive Frau mit problematischen Aussichten für weitere persönliche Beziehungen und Führungsaufgaben.
Klingt, als prallten da Welten aufeinander.
Das ist so, ich bin in der Märchenforschung eher ein fremder Vogel. Ich gehe auch so weit, die Zukunft der Märchenhelden biografisch zu hinterfragen und zu prognostizieren. Dagegen protestieren die allermeisten Erzählforscher vehement.
Wie reagieren Manager, denen Sie Vorträge zu diesem Thema halten?
Ich habe beobachtet, dass Frauen wesentlich offener reagieren, weil sie meist die Märchen besser kennen. Aber grundsätzlich muss ich immer schauen, dass ich eine Nutzeranwendung dazu bringe. Das wollen Manager letztlich hören. Aber nicht wenige nehmen sich vor, mal wieder Märchen zu lesen oder sie ihren Kindern oder Enkeln zu vermitteln.
Gibt es eine Botschaft für die Personalmanager?
Ja. Märchenhelden bleiben, genau wie wir Erwachsenen, im Persönlichkeitskern weitgehend gleich, spielen dann nur auf anderen Bühnen. Das heisst, der Wert der frühen sozialen Prägung ist ganz entscheidend und die Personaler sollten sich lieber und noch stärker auf die Auswahl konzentrieren als auf die Persönlichkeitsentwicklung. Es ist ein kardinaler Fehler, zu glauben, man könnte Personen mit einer kritischen Persönlichkeit hinbiegen nach dem Motto: «Das gibt sich schon beim Bügeln.» Ebenso trügerisch ist die bevorzugte Auswahl von Managern nach Fachkompetenz, so wie sie immer noch praktiziert wird. Die «Befähiger» zählen langfristig auch in Excellence-Modellen mehr als die kurzfristigen Ergebnisse.
Sie haben die Leitsätze von Märchen und Unternehmen verglichen. Was ist dabei herausgekommen?
Zuerst habe ich die häufigsten Kernleitsätze in Märchen identifiziert – mit meinem Managementwissen im Hinterkopf. Und diese mit den Führungsgrundsätzen, die ich über Jahre gesammelt hatte, verglichen. Von den acht Kernleitsätzen aus den Märchen habe ich sechs bei den Führungsgrundsätzen von Unternehmen wiedergefunden. Diese hohe Übereinstimmung hatte ich nicht erwartet.
Welche sind das zum Beispiel?
Der prägnanteste war der Verhaltensgrundsatz, dass man sich auf jemanden verlassen können muss, weshalb man sein Wort hält und keine Versprechen gibt, die man nicht halten kann oder will. «Walk the Talk» finden Sie auch im «Froschkönig» wieder: «Was du versprochen hast, das musst du auch halten», sagt der König dort zu seiner Tochter. Dort finden sich übrigens noch andere Dinge: Whistleblowing zum Beispiel. Der Frosch will seine Informationen über die Versprechen der Prinzessin an deren Vater weitergeben. Dabei handelt es sich bei der Vereinbarung um einen asymmetrischen Vertrag aus juristischer Sicht. Denn es ist für den Frosch ja keine grosse Leistung, die Kugel aus dem Brunnen zu holen. Das, was sie ihm dafür bieten soll, ist eindeutig zu viel. Zugleich ist ihr von vornherein klar, dass sie den Vertrag gar nicht einhalten will – sie hat also von Anfang an schon eine Mentalreservation.
Welche Erfolgsstrategien können heutigen Managern als Vorbild dienen?
Für seine Misserfolge einstehen – und das nicht nur mit dürren Worten. Das hab ich von Verantwortlichen für Milliardenverluste noch nicht gehört. Die Helden in den Märchen gehen gewaltige Risiken ein, denn bei Misserfolg haften sie mit Leib und Leben. Weiterhin haben und beanspruchen sie keine Fachqualifikation und töten dennoch Drachen mit sieben Köpfen, ohne je ein Schwert in der Hand gehabt zu haben. Keine Fachkenntnisse, keine Erfahrung. Sie haben nur ihren unbändigen Willen, diese Herausforderungen anzunehmen, sowie Problemlösungs-, Umsetzungs- und Sozialkompetenz.
Ist das wirklich eine Lehre, die man in der realen Welt ziehen sollte? Sich ohne Fachkenntnisse ans Werk zu machen?
Die Märchenheldinnen und -helden zeigen, wie sie auch unter schwersten Belastungen viel ertragen und schaffen. Und ein ganz wichtiger Punkt: Erst die Umsetzung bringt etwas. Ein Märchenheld ist einer, der hingeht und unternehmerisch agiert. Der fragt nicht lange rum. Bloss immer schöne Ideen haben reicht nicht. Und die Umsetzung ist nach Ergebnissen vieler Umfragen das grösste Problem bei vielen Managern hierzulande. Bei chinesischen Managern ist das übrigens kein Thema: Umsetzung ist deren Stärke, das wird unser Problem sein in Zukunft.
Brauchen wir also mehr Märchenhelden?
Es müsste zumindest mehr geben, die von den Märchenhelden diesen Aspekt abschauen. Allerdings wünsche ich mir dort mehr Reflexion: Es ist ein Problem der Märchenhelden, dass sie ihre Umsetzung nicht reflektieren. Das mündet beispielsweise darin, dass 99 scheitern und auf Pfählen aufgespiesst werden. Erzählt wird ja primär von den Gewinnern. Aber auch sie haben nicht immer gleich Erfolg. Der Prinz bei «Rapunzel» wird blind, als er in die Dornen fällt, und beide überdauern Jahre getrennt in der Wildnis, bis sie sich finden und sie ihn heilt.
Welches Märchen würden Sie einem frischgebackenen Management-Absolventen empfehlen?
Ich würde differenzieren nach Geschlecht oder Persönlichkeitsstruktur. Wem ich vermitteln möchte, dass Kreativität und Fairness von Führungskräften wichtig sind, dem würde ich «Die weisse Schlange» empfehlen. «Die kluge Bauerntochter» zeigt, dass unternehmerische Kompetenzen wie Sozialkompetenz, Kreativität und Umsetzung entscheidend sind – und nicht die Herkunft.
Zwei der acht Kernleitsätze aus den Märchen tauchen bei den Führungsgrundsätzen nicht auf. Welche und warum?
Das erste ist Bescheidenheit – eigentlich ein Konzept der Schweizer und in der Bevölkerung auch breit gelebt. Es ist aber gebrochen worden, meist von Menschen, die nicht in der Realwirtschaft stehen und von globalen Unsitten beeinflusst waren.
Das Zweite ist soziale Klugheit, die in vielen Märchen vorkommt. Was verstehen Sie darunter?
Zum einen die goldene Regel: Behandle andere so, wie du gern behandelt werden möchtest. Zum anderen das Reziprozitätsprinzip: Wenn du etwas forderst, dann solltest du auch etwas dafür erbringen. Beides zusammen ist für mich soziale Klugheit. Das sind übrigens uralte Grundsätze, die in allen Religionen gelten und die sich aus Märchen sehr gut ableiten lassen.
Das Buch zum Thema
Rolf Wunderer: Führung in Management und Märchen – Unternehmerische Kompetenzen und Leitsätze. Luchterhand (Wolters Kluwer Deutschland), Köln 2010, 230 Seiten, gebunden, CHF 63.–
Rolf Wunderer
ist Gründer und war bis 2001 Leiter des Instituts für Führung und Personalmanagement an der Universität St. Gallen. Seit 35 Jahren forscht er zu Unternehmertum und Führung und gilt als einer der exponiertesten Vertreter seines Fachs. Professor em. Dr. Rolf Wunderer leitet den Arbeitskreis «Märchen und Management» der Schweizerischen Märchengesellschaft (SMG).