Erwartungsmanagement im interkulturellen Umfeld
Multikulturelle Teams finden immer mehr Verbreitung und eröffnen viele Möglichkeiten. Sie können aber auch hemmend wirken. Neue Sichtweisen beeinflussen unseren Alltag vielleicht stärker, als wir heute denken. Zunehmend stellt sich für unsere Führungs- und HR-Leute die Frage, wie wir, geprägt von schweizerischen oder mitteleuropäischen Normen, im neuen Umfeld mehr Chancen wahrnehmen können.

(Bild: RFArt)
Die Globalisierung führt nicht nur zu günstigeren Konsumentenpreisen, sondern sehr wohl auch zu einem härteren Umfeld bei der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. Auch in unseren schweizerischen Unternehmungen, an unseren lokalen Arbeitsplätzen. In unterschiedlichem Tempo sind alle davon betroffen. Zuerst vielleicht diejenigen in internationalen Konzernen, dann aber auch Mitarbeitende in schweizerischen Firmen, die direkt oder indirekt im internationalen Wettbewerb stehen, bis hin zum Möbelschreiner einer Landgemeinde, der plötzlich Mailings von Handwerkern aus dem grenznahen Ausland im Briefkasten findet. Der urschweizerische Reflex: Türen (Grenzen) zu, Zugang regeln.
Ähnliches läuft teilweise in grossen Firmen: Ausländisches Management oder zumindest vermeintlich ausländische Managementprinzipien haben hier nichts zu suchen. Wir machen es schon recht, wir wissen es besser, wir hatten schon immer Erfolg. Manche Schweizer Manager und Mitarbeiternde spielen eher mit, weil sie müssen, als darum, weil sie das neue Umfeld als Chance erkennen. Viele alltägliche Begriffe sind im tiefsten Inneren nach wie vor negativ besetzt sowie angst- und vorurteilsbehaftet (siehe Tabelle).
Dass diese Begriffe auch kritische Aspekte beinhalten (Umwelt, faires Sozialwesen), bestreitet niemand. Aber wer sich überlegt, auf welchem Eigenbild und Selbstvertrauen viele unserer traditionellen Denkmuster beruhen, muss zwangsläufig Handlungsbedarf sehen. Wir reagieren vielfach – zumindest innerlich – nach wie vor defensiv. Wir erwarten, dass es schwierig wird, dass wir uns rechtfertigen müssen oder dass alles anders und damit schlechter wird. Vor diesem Hintergrund wird vielerorts versucht, die Chancen multikultureller Teams zu betonen. Viele wertvolle oder triviale Rezepte stehen zur Verfügung: erstens, zweitens, drittens – wer, was, bis wann. Hilft solches, wenn wir nicht wirklich einsehen, welchen Veränderungen wir gegenüberstehen? Müssten wir nicht eher Einsichten schaffen, die eine neue Grundhaltung ermöglichen? Eine fundamentale Änderung unserer Erwartungshaltung, bezüglich unserer Rolle in der Weltwirtschaft, neuer Anforderungen, Realitäten und Chancen?
Wir «müssen» uns verändern, das sehen wir schon ein. Nur – wirklich offen sind wir dafür meistens noch nicht. Die Einsicht, dass Stillstand Rückschritt ist und Altes bewahren oft gefährlicher sein kann, als offen Veränderungen anzugehen und Trends zu antizipieren, hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Um dazu von innen heraus motiviert zu sein, müssen wir nicht nur gewohnte Rituale ändern. Vielmehr müssen wir uns grundsätzlich neu orientieren, unsere Erwartungen von bestehenden Massstäben, Werten und Normen lösen und auf die Zukunft ausrichten. Und wir müssen erkennen, dass viele traditionelle Denkmuster hinterfragt werden müssen, um eine Veränderungsbereitschaft zu ermöglichen, die uns beflügeln könnte. Neben der Vermittlung von Rezepten sind eben Einsichten nötig, welche Erwartungshaltungen verändern können. Ist es den Führungskräften erst mal gelungen, diese Einsichten zu vermitteln, so werden gute Leute aus allen Kulturen auch selbst geeignete Rezepte und Prozesse entwickeln, um die Veränderungen umzusetzen.
Vertrauen und Motivation
Zunächst geht es um Offenheit und (Vor-)Vertrauen. An vielen früheren Multi-Kulti-Seminaren wurde uns eingetrichtert, dass Menschen aus anderen Kulturen anders seien, und wir lernten, worin denn diese Unterschiede genau bestehen und wie damit im Zielerreichungskontext am besten umzugehen sei. Wenn wir heute auch komplexere Dimensionen erkennen, fokussieren wir uns immer noch stark auf die Andersartigkeiten statt auf mögliche Gemeinsamkeiten. Dies kann zu einer selektiven Wahrnehmung führen und die Bildung von Vertrauen und Akzeptanz behindern. Besser ist, die gemeinsamen Ziele zu betonen, gemeinsame Werte zu erkennen und damit gemeinsame Interessen als Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu bilden.
Vertrauen ermöglicht gleichzeitig, anderes und Andersartiges nicht nur zuzulassen, sondern vielleicht sogar Nützliches davon zu übernehmen: «Anders ist noch lange nicht falsch.» Vorerst ist also gegenseitiges Vertrauen durch das Erkennen gemeinsamer Interessen nötig, um später die Perspektiven durch Andersartigkeit und Vielfalt nutzen zu können. Vertrauen bringt die Sicherheit, sich auf andere, fremde und neue Bedürfnisse konzentrieren zu können. Genau dies ist uns in der Schweizer Wirtschaft auch früher schon oft gelungen und hat unsere wirtschaftlichen Perspektiven sehr positiv beeinflusst. Wie sonst wäre es uns damals als Binnennation gelungen, erstklassige Schiffsdieselmotoren in ferne Länder zu exportieren?
In der Herstellung hochqualitativer Produkte liegt ein weiterer Aspekt, der uns im wirtschaftlichen und unternehmerischen Kontext stärkt. Nachhaltige Motivation liegt nicht nur in der Erzielung maximaler Einkommen für sich selbst, sondern vorerst viel mehr darin, Hervorragendes oder zumindest Sinnvolles und Nützliches zu schaffen. Wer die stärksten Serien-Loks der Welt baut(e), die benutzerfreundlichste Software entwickelt, das umweltfreundlichste Wasserkraftwerk, die kundenfreundlichsten Versicherungsmodelle oder die bedürfnisgerechteste Shopping-lösung, denkt nicht zuerst und primär an sein persönliches Gehalt.
Der Erfolg misst sich zuerst am Produkt selbst, und die Eigenmotivation daraus ist viel nachhaltiger als aus dem monetären Gewinn, der als Folge (nicht als Selbstzweck!) resultiert. Hier müssen wir aktiv führen und Chancen nutzen. Wir müssen Werte unserer Teams und Mitarbeitenden beeinflussen. Wir müssen vordenken und vorleben, ohne dabei zu diktieren und damit wieder einzuengen. Wir müssen unrealistische und unproduktive Erwartungen durch nützliche, befruchtende ersetzen. Bilder schaffen, die Perspektiven öffnen, durch welche geeignete Mitarbeitende mit Potenzial Möglichkeiten zur Motivation, Innovation und Kreativität für sich und andere schaffen können. Auch eine nachhaltige Motivation erleichtert es, mit anderen Kulturen und mit Veränderungen umzugehen.
Prozesse und Menschen
Genau hier, in einem Führungsverständnis, welches Freiraum und Entfaltungsspielraum schafft, liegt eine weitere Herausforderung. Die Globalisierungswelle beeinflusst auch die Werte in der Führung. Viele in langen Jahren entstandene Grundsätze von partizipativer Führung sind plötzlich sistiert. Der Produktivitätsdruck und die notwendige Abstimmung grosser vernetzter Unternehmungen mit komplexen Wechselwirkungen führen zur Notwendigkeit der Standardisierung und Optimierung von Prozessen. Unbestrittenermassen ist dies heute ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Bedauerlich dabei ist, dass damit manchmal auch Menschenbilder Auftrieb erhalten, die den Wert des Individuums in jedem Fall hinter die Auftragserfüllung und die Bedeutung der Prozesse und Systeme stellen. Der Mensch wird als Element des Prozesses gesehen, als ein Rädchen der Maschine.
Natürlich muss irgendwer die Systeme steuern. Gefährlich daran ist, dass dies eine Art Übermenschen implizieren könnte, die dann über den Prozessen stehen und damit über den Menschen, die in die Prozesse integriert sind (dass sich hier bereits gewisse Gegentendenzen zeigen, die zukünftig erlauben dürften, individuelle Spielräume mit standardisierten Prozessen in ein besseres Gleichgewicht zu bringen, ist beruhigend). Das «Übermensch-Denken» könnte in der Arbeitswelt wieder kontraproduktive Klassen schaffen. Dass nicht jeder Mensch gleich gut und erfolgreich sein kann (oder will, weil er oder sie Erfolg eben anders definiert), ist jedermann klar. Auch, dass dies zu unterschiedlichen Laufbahn- und Gehaltsperspektiven führt. Wer aber die heutige Prozessgläubigkeit übertreibt, wird zwischen prozesssteuernden Vordenkern und prozessintegrierten Nichtdenkern unterscheiden, was die Gleichwertigkeitsidee aufgeklärter Gesellschaften gefährdet und – wenn auch oft unbewusst – zu produktivitäts- und kreativitätshemmenden Ängsten und Abwehrhaltungen führt.
Die aus dem Primat des Prozessdenkens resultierende Kollision mit aufklärerischen Werten ist in einem Land wie der Schweiz vielleicht sogar schwieriger zu meistern als in anderen Gesellschaften. Das implizite Mitspracheverständnis aufgrund des politischen Systems erschwert es, Unterschiede zwischen Demokratie, Partizipation und situationsbedingt notwendiger Top-down-Führung zu erkennen. Die diesbezüglichen Herausforderungen sind von Unternehmung zu Unternehmung verschieden, erfordern aber überall eine intensive Führungsarbeit, die Bewusstsein und Einsichten schafft und es ermöglichen soll, persönliche (implizite) Erwartungen zu revidieren.
Erwartungshaltungen bewusst zu machen, ist eine Führungsaufgabe
Was meinen wir mit Erwartungsmanagement? Vereinfacht gesagt: Zuerst sind latente, möglicherweise falsche oder überholte Erwartungen aufzudecken und zu klären und durch neue, berechtigte und produktive Erwartungen zu ersetzen. Wenn subjektive Zufriedenheit schlussendlich an der Erfüllung individueller Erwartungen gemessen wird, wird klar, dass die Zufriedenheit nicht nur durch die Erfüllung der Erwartungen, sondern auch durch eine sinnvolle Neubildung der Erwartungshaltung zu verbessern ist. Dabei ist mit grossem Respekt vorzugehen. Wenn wir glauben, wir wüssten, welche für jeden Mitarbeitenden die berechtigten, «richtigen» Erwartungen seien, dann begeben wir uns in die Reihen der «Übermenschen», denen wir unbedingt mit der nötigen Vorsicht begegnen müssen. Schon zu oft haben wir unermesslichen Schaden beobachtet oder erlebt, den selbstherrliche Übermenschen anrichteten …
Vom Perspektivenvakuum zu berechtigten und realistischen Erwartungen
Die Verantwortung von Führungspersönlichkeiten kann also nicht einfach darin liegen, den Mitarbeitenden zu diktieren, welches neue und gültige Erwartungen im veränderten, globalen Umfeld seien. Vielmehr müssen geeignete Ansätze (nicht Prozesse, eher Denkmuster oder Grundhaltungen!) gefunden werden, die es erlauben, eigene implizite Erwartungen bewusst zu machen. Dies ist dann eine erste Stufe einer persönlichen Einsicht, die es ermöglicht, sich neu zu orientieren und positiv am gegenwärtigen Veränderungsprozess teilzuhaben oder sogar selbst Einfluss zu nehmen. Das daraus möglicherweise entstehende Perspektivenvakuum kann dann mit neuen, berechtigten und realistischen Erwartungen gefüllt werden. Dieser Vorgang ist, wie alle Veränderungen, von Fortschritten und Rückschlägen geprägt. Verschiedenste Gefühlszustände werden die Dialoge erschweren oder erleichtern. Die Aufgabe der Führung besteht darin, sich selbst damit vertieft auseinanderzusetzen und dann erst den Mitarbeitenden für einen Dialog zur Verfügung zu stehen.
Dieser Dialog ist darum so anspruchsvoll, weil er nicht einfach die Vermittlung eines Rezepts oder Prozesses beinhaltet, sondern sich mit Fragen des Berufs, der Rolle, des Sinns und der Zukunft auseinandersetzt. Hier sind die Fähigkeiten vieler Vorgesetzter etwas verkümmert, und allzu leicht wird ein Standardprozess genommen, der schnell Abhilfe schafft. Standardisierte Veränderungsprozesse haben aber nur dann Erfolg, wenn sie sich mit bestehenden impliziten oder expliziten Erwartungen zumindest teilweise decken. Leider ist das oft nicht der Fall, und daraus resultiert die Verantwortung von Führenden, die Erwartungshaltungen sinnvoll zu hinterfragen und den Mitarbeitenden zu ermöglichen, diese zu entwickeln. Ähnlich einem früheren Meister, der seinen Gesellen und Lehrlingen nicht nur die Technik, sondern auch Sinn und Ethos des Berufes in einem gesellschaftlichen Umfeld sowie die Perspektiven seines Berufsstandes vermittelte und damit die Erwartungen seiner Nachwuchsleute beeinflusste. Eine solche Führungsarbeit ist ausserordentlich komplex und schwierig, kann aber sehr sinnvoll und befruchtend sein. Ein Tipp: Sie muss frei von persönlichen Frustrationen und Ängsten sein.
Eine Führungskraft, die sich über das kurzfristige Quartalsgewinndenken der Konzerne beklagt, bewirkt bei den Mitarbeitenden kein sinnvolles Hinterfragen der eigenen Erwartungen. Vielmehr sollen Komplexität und Wechselwirkung solcher Realitäten besprochen werden: Wer nicht nur Absatz-, sondern auch andere relevante Märkte (etwa den Kapitalmarkt ) erfolgreich mit einbezieht, erarbeitet sich ungeheure Wettbewerbsvorteile und Zukunftsperspektiven, die allen nützen können. Um sich Klarheit über aktuelle unternehmerische Realitäten zu schaffen, ist vorerst ein Dialog unter den Führungskräften sinnvoll. Erst dann kann der erfolgreiche Führungsdialog zur Neudefinition von Erwartungshaltungen in den Teams beginnen.