Im Gespräch

«Es geht nicht um Wohlbefinden, sondern um emotionale Effizienz»

Der Unternehmensberater und Buchautor Jochen Peter Breuer ist der Meinung, dass eine Organisation als Ganzes genauso zur mentalen Stärke gecoacht werden kann wie ein Individuum. Er erklärt im Interview, wie kollektive 
Emotionen im Unternehmen wirken und emotionale Viren das Immunsystem einer Organisation angreifen können.

Herr Breuer, wie eng ist unsere Fähigkeit, rational zu denken und zu handeln, mit unseren Emotionen verknüpft?

Jochen Peter Breuer: Es gibt keine Entscheidung ohne Emotionen. Unser Gehirn ist trotz aller Rationalität biologischen Programmen ausgeliefert. Eine dieser Programmierungen ist das Eigeninteresse.

Was bedeutet das für ein Unternehmen?

Wenn ein Chef eine Entscheidung zu treffen hat, denkt der erst einmal: «Woran hängt mein Bonus?» Zum Beispiel daran, ob er es schafft, die Kosten um 30 Prozent zu senken. Die Überlegung: «Wenn ich es nicht schaffe, bekomme ich meinen Bonus nicht» ist somit für ihn kein sachliches Kriterium mehr, sondern ein ganz emotionales.

Und führt damit auch zu unternehmerisch falschen Entscheidungen?

Das Grundproblem in den Unternehmungen ist, dass aufgrund der reinen Zahlengläubigkeit Emotionen offiziell keinen Platz haben.

Offiziell …

Eben, denn Emotionen sind potenzielle Störfaktoren in streng geregelten Prozessen und kostspielig aufgesetzten Abläufen. Die Möglichkeit, die Leute bei ihrer Abwehrhaltung oder bei ihren Ängsten abzuholen, erscheint gefährlich. Moderne Organisationen können sich aber nur entfalten und ihr 
Potenzial nutzen, wenn Emotionen kein Tabu mehr sind. Das braucht Mut und auch Beharrlichkeit.

Ein Unternehmer kann doch nicht jeden Einzelnen ständig nach seinem Wohlbefinden fragen …

Es geht nicht um Wohlbefinden, sondern um emotionale Effizienz. Der erste Schritt dahin ist, die kollektive Emotion, das Grundgefühl in einem Unternehmen zu erfassen und in der Organisation widerzuspiegeln.

Wie soll das gelingen?

Mit einer Bestandsaufnahme der Wahrnehmung. Wahrnehmungen sind emotionale Wahrheiten, die eine Organisation mental stärken oder mental verschmutzen können. Unterschiedlichen Zielsetzungen wird zu 
wenig Rechnung getragen. Aber gerade dort stecken die emotionalen Blockaden. Die Kunst besteht darin, die sachlichen Unternehmensziele und die emotionalen Interessen unter einen Hut zu bringen. Sonst lähmen emotionale Viren die Organisation.

Emotionale Viren, was heisst das konkret?

Emotionale Viren sind negative Emotionen mit Ansteckungspotenzial. Neben der materiellen Realität wie Finanzierung und Organisationsstrukturen haben wir es auch immer mit einer immateriellen Realität zu tun. Hierzu gehören neben der individuellen Einstellung zur Zusammenarbeit auch Hoffnungen, Ängste und Führungsstile. Darin tummeln sich Angst- und Machtviren, aber auch Viren, die durch Werte- und Kulturkonflikte entstehen.

Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. 1. Gestern hat Vertriebsleiter A Vertriebsleiter B noch einen Auftrag vor der Nase weggeschnappt. Eine Woche später wird die Zusammenlegung der Abteilungen verkündet, die beiden müssen ab nun zusammenarbeiten. Die Frage, wer jetzt Chef wird, steht im Raum …

2. In der Besprechung haben alle Müllers Vorschlag abgenickt. In der Kantine geht sofort das Getuschel los: Hast du gesehen, was der uns wieder aufgedrückt hat? Und damit wird die Entscheidung aus dem Meeting schon boykottiert, nach dem Motto: Wie können wir verhindern, dass es so läuft, wie der Müller will? Daran scheitern Unternehmen heute.

Wir sind ja alle nur Menschen, das lässt sich wohl nicht vermeiden.

Genau darum geht es. Also müssen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es ganz normal ist, dass Mitarbeiter an der Kaffeemaschine lästern. Wenn ich eine Wahrnehmung abfrage, geht es nicht darum, ob diese richtig oder falsch ist, sondern ich möchte hinterfragen, warum der Mensch etwas so oder so wahrnimmt. Die Frage ist: Wie können wir diese Wahrnehmungen für die Firma nutzen?

Sie plädieren quasi für die Salonfähigkeit des Büroklatsches?

Genau. In unseren Beratungen geben wir Wahrnehmungen und Tabuthemen, die sich unter anderem im Klatsch äussern, einen 
offiziellen Raum.

Schadet dies dem Vertrauen nicht eher?

Im Gegenteil. Eine Bestandsaufnahme der Wahrnehmungen hat eine Ventilfunktion und gleichzeitig eine wertschätzende Komponente. Eine unserer Faustregeln lautet: Für die Nichtakzeptanz ihrer Wahrnehmungen revanchieren sich die Mitarbeiter mit einer Nichtakzeptanz der Vorgaben ihrer Leitung. Ein Management, das Wahrnehmungen einfordert, ohne diese zu bewerten, und dann in den Dialog mit den Mitarbeitern tritt, schafft einen Stimmungswandel und baut Vertrauen auf.

Wann sprechen Sie von einem «emotionalen Unternehmen»?

Die Mitarbeiter sollen nicht gleich denken, aber in die gleiche Richtung schauen. Ein emotionales Unternehmen ist kein Unternehmen, das einmal im Jahr einen Betriebsausflug oder drei Team-Buildings veranstaltet. Ein emotionales Unternehmen erkennt emotionale Bedürfnisse und Schwankungen der Mitarbeiter an. Es fordert regelmässig Wahrnehmungen ein und sucht Mittel und Wege, um die positive Kraft der kollektiven Emotionen optimal zu nutzen.

Wie wichtig ist das richtige Mass an Wertschätzung für die emotionale Befindlichkeit eines Unternehmens?

Es geht eher um Wertschätzung auf Gegenseitigkeit: Die Mitarbeiter wollen als Menschen wahrgenommen werden, ein Unternehmen will Mitarbeiter, die sich mit seinen Zielen identifizieren können. Ist eines von beiden nicht gegeben, so kann sich das Unternehmen nicht nachhaltig entwickeln.

Ist so viel Offenheit wirklich noch zielführend?

Damit hier kein Missverständnis entsteht – dies alles geschieht, um die Kraft der kollektiven Emotionen bestmöglich mit den Zielen des Unternehmens in Übereinstimmung zu bringen, nicht um die Mitarbeiter zu therapieren.

Noch bis in die 1990er-Jahre konnten neue Technologien oder Prozessoptimierung 
einen Produktivitätsverlust, der womöglich durch Emotionslosigkeit entstanden war, wettmachen. Wer auf Emotionen Rücksicht nahm, galt in der knallharten Geschäftswelt gemeinhin als Weichei. Wie ist das Szenario heute?

Es ist ein Bewusstseinswandel auch bei vielen «Hardlinern» spürbar. Die Verluste in gescheiterten Fusionen und Changeprojekten aufgrund der Nichtbeachtung der weichen Faktoren sind nicht mehr wegzudiskutieren. Beziehungen im Unternehmen müssen professionell gemanagt werden. Was heute nicht zur Sprache kommt, kann noch jahrelang die Firma mental verschmutzen. Meine Erfahrung zeigt, dass in regelmässigen Abständen durchgeführte Bestandsaufnahmen der Wahrnehmungen eine Organisation belastbarer, also mental stärker machen.

Trotzdem, von mehr Menschlichkeit im Business spricht man doch schon seit 
Jahren.

Wir brauchen nicht mehr Menschlichkeit, wir brauchen mehr Bewusstsein. Je bewusster wir unseren Wahrnehmungen gegenüber und im Umgang miteinander sind, umso menschlicher werden wir automatisch. Heute kommt kein Spitzensportler mehr ohne Mentaltrainer aus. In diesem Sinne gehe ich davon aus, dass es in zehn Jahren in vielen Unternehmen eine für die mentale Stärke des Unternehmens zuständige HR-Position gibt.

Jochen Peter Breuer,

geboren 1956, startete seine berufliche Laufbahn 1975 bei der Commerzbank, wo er zunächst in Köln, später in Frankfurt und Paris verschiedene Managementpositionen innehatte. Ergänzt hat er seine Ausbildung mit einem Strategie- und Marketingstudium (EKS) sowie Ausbildungen zum psychologischen Berater und Mentaltrainer mit Schwerpunkten in NLP und Transaktionsanalyse. Im Jahre 1984 gründete er die deutsch-französische Managementberatung JPB Consulting in Paris. Seit 2008 ist Breuer Managing Partner der he2be SA in St. Sulpice (VD).

Buchtipp

Jochen Peter Breuer, 
Pierre Frot
: Das emotionale 
Unternehmen. Gabler Verlag,  296 Seiten, gebunden, CHF 56.90

Weitere Informationen unter www.he2be.ch

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