Führung

«Es ist sehr gesund, zu sehen, dass es auch dem Chef mal zu viel ist»

Führungskräfte, die selbst gestresst sind, können ihren Mitarbeitern keine Eigenverantwortung im Sinne der Gesundheitsförderung vorleben und auch deren mögliche Stresssymptome nicht erkennen, meint der Organisationsberater und Experte für betriebliches Gesundheitsmanagement, Marc Wülser.

Herr Wülser, was verstehen Sie unter betrieblichem Gesundheitsmanagement?

Marc Wülser: Unternehmen müssen Rahmen- und Arbeitsbedingungen zur Verfügung stellen, die es den Mitarbeitern ermöglichen, Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen.

Wo ist hier die Rolle der Führungskräfte?

Eine gute Führungskraft ist eine wertvolle Ressource im Gesundheitsmanagement des Unternehmens. Diese hat im Prinzip eine doppelte Funktion. Sie muss erstens über ihre Führungsrolle die Gesundheitsförderung an der Basis umsetzen und andererseits das System, die gesundheitsrelevanten Strukturen und Prozesse gestalten. Ein Teamleiter hat ganz andere Möglichkeiten als der Geschäftsleiter.

Inwiefern?

Ein Teamleiter kann gesundheitsrelevante Strukturen nicht so direkt beeinflussen wie ein Geschäftsleiter, ist aber nah am Mitarbeiter und kann dessen konkretes Gesundheitsverhalten stärken.

Ist gutes Führungsverhalten gleich Gesundheitsmanagement?

Wenn man die Führungsrolle richtig umsetzt, ja. Man muss Belastungsoptimierung, Stressprävention und Früherkennung ganz klar als Führungssaufgabe anschauen.

Warum muss BGM eine klare Führungsaufgabe sein?

Gesundheit entsteht im Alltag, und der lässt sich nur gestalten, wenn die Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden gut funktioniert.

Das kann die Führungskräfte aber schon überfordern ...

Führungskräfte sind dafür verantwortlich,  zum Beispiel Symptome einer Überbelastung ihrer Mitarbeiter rechtzeitig zu erkennen. Wenn jemand sich zurückzieht, aggressiv wird oder vermehrt Fehler macht, kann das ein Alarmzeichen sein. Es ist Aufgabe einer Führungskraft, solche Veränderungen zu erkennen und anzusprechen. Das sind ja eigentlich ganz alltägliche Führungsaufgaben. Doch wird es oft den Führungskräften falsch vermittelt, nach dem Motto: Gesundheitsmanagement, das müsst ihr jetzt auch noch machen!

Führungskräfte haben ja ihre Ziele zu erfüllen und können nicht auch noch die Mitarbeiter therapieren …

Eben. Es geht darum, zu schauen, unter welchen Bedingungen die Mitarbeiter die besten Leistungen erbringen. Das ist kein Altruismus.

Wie können Führungskräfte das leisten? Sie stehen ja nicht selten selbst unter Stress.

Das ist der Punkt. Gesundheitsmanagement kann nur über eine Vorbildfunktion der Führungskräfte wirklich funktionieren. Ein Chef, der auch mal später kommt, weil er joggen war, oder früher geht, weil er mit der Familie etwas vorhat, kann den Mitarbeitern eine Menge Stress nehmen. Die sehen: Wenn er sich nicht kaputt macht, muss ich das auch nicht. Wie soll ein Mitarbeiter es wagen, zu sagen: «Es ist mir zu viel», wenn der Chef rund um die Uhr funktioniert? Was der Chef macht,  ist sehr kulturprägend und kann der Mitarbeitergesundheit nutzen oder schaden.

Führungskräfte haben also auch noch die Aufgabe des Kulturträgers und -vermittlers?

Ja, es ist für die Mitarbeiter sehr gesund, zu sehen, dass es auch dem Chef mal zu viel ist. Einen schlechten Tag zu haben, ist doch sehr menschlich. Das macht Mut, sich auch mit dem eigenen Wohlbefinden auseinanderzusetzen.

Sie sprachen eingangs die Rahmenbedingungen an. Sollte die Präsenzpflicht von 8.00 bis 17.00 Uhr nicht längst der Vergangenheit angehören, damit die Mitarbeiter die vielbeschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Work-Life-Balance auch wirklich leben können?

Unsere Überzeugungen sind hier ganz tief verwurzelt: Nur was ich sehen kann, kann ich glauben. Und wer am längsten arbeitet, ist der Beste. Das stimmt längst nicht immer. Jemand, der sechs Stunden im Büro ist, kann produktiver sein als jemand, der neun oder zehn Stunden da ist.

Sind sich die Führungskräfte im Allgemeinen ihrer hohen Verantwortung für die Gesundheit der Mitarbeiter bewusst?

Noch nicht ausreichend.

Wie können denn Führungskräfte dafür sensibilisiert werden, dass ihr Verhalten auch gesundheitsbezogene Konsequenzen hat?

Zunächst müssen wir akzeptieren, dass Führungskräfte selber oft zu hohen Belastungen ausgesetzt sind und dass gestresste Vorgesetzte nicht in der Lage sind, gesundheitsförderlich zu führen. Wir müssen also zunächst den Vorgesetzten Sorge tragen. Darüber hinaus braucht es Sensibilisierung und Auseinandersetzung mit dem Thema auf allen Stufen und das Vermitteln von Wissen zum Thema Gesundheitsförderung.

Wie kann BGM in der täglichen Führung verankert werden?

Es ist wichtig, mit den Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Eine Führungskraft sollte gute Leistungen wertschätzen, Feedback geben, zuhören und Interesse zeigen, mit den Mitarbeitenden realistische Ziele vereinbaren und Entscheide transparent erklären. Dadurch wird einerseits ein gutes Klima geschaffen. Andererseits unterstützt dies die Identifikation von Belastungen. Schliesslich wirken diese Verhaltensweisen auch als Ressourcen und unterstützen die Mitarbeitenden in ihrem Alltag, nicht zuletzt auch im Umgang mit der eigenen Gesundheit.

Marc Wülser

ist Partner der Wülser-Inversini Organisationsberatung in Zürich sowie Dozent für Betriebliches Gesundheitsmanagement, Change Management, Führung und weitere arbeitspsychologischen Themen. Er studierte an der Universität Bern Arbeits- und Organisationspsychologie und promovierte an der Universität Potsdam zum Thema Fehlbeanspruchungen bei Human-Dienstleistungen. Zusammen mit Eberhard Ulich schrieb Wülser das Buch 
«Gesundheitsmanagement in Unternehmen: Arbeitspsychologische Perspektiven», das 2010 in der vierten Auflage beim Gabler Verlag erschienen ist.

 

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