HR Today Nr. 7&8/2020: Leadership – Orchesterführung

«Agile Führung ist in einem Orchester Realität»

New Work, Homeoffice und eine verbindliche Führungskultur. Weshalb sich ein Orchester erstaunlich wenig von einem Unternehmen unterscheidet, erklärt Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer.

Weibliche Dirigenten und Orchesterleiter sind immer noch spärlich gesät. Weshalb ergreifen nicht mehr Frauen diesen Beruf?

Lena-Lisa Wüstendörfer: Ich bin Dirigentin, keine Gender-Forscherin, daher kann ich lediglich mein Selbstverständnis schildern: Als Dirigentin verantworte ich das Zusammenspiel der Musiker im Orchester und die Interpretation der Musik. In der Vergangenheit war diese Führungsrolle jedoch oft mit einer einseitig autoritären Machtausübung verbunden und wird daher eher Männern zugeschrieben. Dass ich deutlich mehr männliche als weibliche Kollegen habe, ist wahrscheinlich solchen Konventionen geschuldet und hat nichts mit den tatsächlichen Anforderungen an die Qualitäten eines Orchesterleiters zu tun.

Die Aufgaben einer Dirigentin sind für viele ausserhalb des Metiers schwer vorstellbar …

Wenn ich mich auf ein Stück vorbereite, analysiere ich dieses und verinnerliche die Partitur. Daneben plane und erstelle ich Probe- und Konzertpläne und kümmere mich um die Einteilung der personellen Ressourcen des Orchesters. Hinzu kommen Reisen zu verschiedenen Gastauftritten, Gespräche mit Solistinnen und Konzertveranstaltern sowie das Vorsingen oder Vorspielen von mir noch unbekannten Solisten. Zudem erforsche ich unbekannte Repertoires in Archiven und Bibliotheken – insbesondere für das Swiss Orchestra, dessen Spezialität Trouvaillen der Schweizer Klassik und Romantik sind.

Sie haben auch Violine studiert. Spielen Sie heute noch?

Dazu komme ich kaum noch, da die Arbeitstage als Dirigentin lang sind.

Muss eine Dirigentin zwingend ein Instrument beherrschen?

Sachkompetenz ist sehr wichtig. Meist ist ein Dirigent auf einem Instrument sehr versiert und versteht die Schwierigkeiten der verschiedenen anderen Orchesterinstrumente. Nur so lassen sich die Anforderungen an die Orchestermitglieder richtig einschätzen.

Wie führen Sie Ihr Orchester?

Neben Fachkompetenz zeichnen Klarheit, Verbindlichkeit, Empathie und mit gutem Beispiel voranzugehen eine gute Führung aus – nicht nur in der Orchesterwelt. Entsprechend bin ich bestrebt, mein Handeln nach diesen Kriterien zu gestalten. Ein Orchester funktioniert in manchen Aspekten wie andere Unternehmen. So bestehen die Streicher aus verschiedenen grösseren Abteilungen, die wir Register nennen: die ersten und zweiten Geigen, Violen, Celli und Kontrabässe. Jedes Register hat einen Stimmführer, der seine Abteilung leitet. Im Gegensatz zu den Streichern haben Bläser im Sinfonieorchester aber wie Mitarbeitende in Spezialistenteams ihre eigene Stimme.

Als Dirigentin entwickle ich eine musikalische Vision und versuche, diese gemeinsam mit dem Orchester umzusetzen. Zudem bin ich verantwortlich für die Interpretation, das heisst, ich muss jene Parameter ausgestalten, die in einer Partitur entsprechenden Spielraum lassen. Müssten die Musiker im Orchester diesen selbst bestimmen, würde es in einem grossbesetzten Orchesterwerk sehr lange dauern, bis alles ausdiskutiert wäre. Jeder hat eine andere Vorstellung davon, wie gespielt werden sollte. Während des Probenprozesses gehe ich jedoch auf die Rückmeldungen der Orchestermusiker ein. Schliesslich sind wir ein Team.

Was ist Ihnen wichtig beim Coaching Ihrer ­Musiker?

Mein Team soll sein volles Potenzial entfalten. Wenn ich beobachte, dass ein Lösungsansatz nicht funktioniert, bin ich gefordert, mit ihnen konstruktiv einen anderen Weg zu finden. Während eines Konzertprojekts mache ich zudem keinen Unterschied zwischen Festangestellten und Projektmitarbeitenden. Bei einem Konzert muss ein Orchester wie aus einem Guss klingen. Zuzüger müssen sich deshalb rasch in den Klangkörper einfügen.

Wie verläuft eine Rekrutierung für Orchestermusiker?

Der Bewerbungsprozess von Musikern erstreckt sich über verschiedene Runden. Damit eine möglichst neutrale Beurteilung gewährleistet ist, spielen Bewerberinnen und Bewerber zuerst hinter einem Vorhang. Wurde eine Musikerin oder ein Musiker ausgewählt, folgt zunächst ein Probejahr, da er oder sie nicht nur sehr gut spielen, sondern auch ins Team passen muss.

Haben Sie dabei ein Mitspracherecht?

Das kommt auf das Engagement an. Beim Swiss Orchestra habe ich beispielsweise einen grossen Einfluss auf die Besetzung. Arbeite ich hingegen als Gastdirigentin, kann ich nicht mitbestimmen.

Homeoffice im Orchester, eine Unmöglichkeit?

Das selbständige Erarbeiten der Stimme gehört in der Vorbereitungsphase eines Projekts zum Standard. Bei den Orchesterproben kommen alle zu festen Probezeiten zusammen, das Teamwork ist hier sehr wichtig. Es braucht eine konzentrierte Atmosphäre, in der sich alle in einem musikalischen Gedanken vereinen können. Als Dirigentin muss ich hierfür die Rahmenbedingungen schaffen.

Lässt sich das Orchester auch agil führen?

Das ist keine Hypothese, sondern in meiner Orchesterarbeit Realität. In der unmittelbaren Interaktion mit den Orchestermusikern zeige ich mit meiner Gestik bei Proben und Konzerten, wie die Musik klingen soll – wie schnell, wie laut, wie sanft oder wie hart. Diese Vorgaben können den Instrumentalisten bei der Umsetzung weniger oder mehr Spielraum lassen.

Was wollen Sie als Dirigentin in Ihrem Leben noch erreichen?

Letztes Jahr bin ich mit dem Swiss Orchestra gestartet, einem Novum der Schweizer Musikszene. Die Schweiz ist für vieles berühmt, aber kaum für ihre Sinfonik. Schweizer Komponisten der Klassik und der Romantik fristeten bislang ein Schattendasein. Das Swiss Orchestra macht dieses Repertoire nun wieder erlebbar.

Zur Person

Lena-Lisa Wüstendörfer ist 1983 in Zürich geboren. Sie studierte an der Hochschule für Musik in Basel Violine und Dirigieren sowie an der Universität Basel Musikwissenschaft und Volkswirtschaft, wo sie zur Doktorin promoviert wurde. Ihre Dirigierstudien vertiefte sie bei Sylvia Caduff und Sir Roger Norrington und sie war Assistenzdirigentin von Claudio Abbado. Heute leitet Wüstendörfer als Music Director das Swiss Orchestra und ist künstlerische Leiterin des Berner Bach Chors. Sie ist als Gastdirigentin inter­national gefragt, unter anderem beim Luzerner Sinfonieorchester, Thailand Philharmonic Orchestra, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Musikkollegium Winterthur oder Zakhar Bron Festival Orchestra. Ergänzend zu ihrer Konzerttätigkeit publiziert Lena-Lisa Wüstendörfer auf dem Gebiet der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, insbesondere zu Gustav Mahler und Felix Weingartner. Sie war an der Universität Basel wiederholt als Lehrbeauftragte tätig.

Live: Lena-Lisa Wüstendörfer und das Swiss Orchestra auf «Tour #3»
«Schatzkammer Schweizer Sinfonik»

  • 17. November 2020, 19:30 Uhr, Bern, Casino
  • 22. November 2020, 17:00 Uhr, Davos, Schweizerhof Morosani
  • 24. November 2020, 19:30 Uhr, St. Gallen, Tonhalle
  • 29. November 2020, 17:00 Uhr, Zürich, Tonhalle Maag

swissorchestra.ch

 

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Christine Bachmann 1

Christine Bachmann ist Chefredaktorin von Miss Moneypenny. cb@missmoneypenny.ch

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