Geschäftsleitung und Top-Kader als Mentoren bei Raiffeisen Schweiz
Aufgrund stabiler demografischer Vorhersagen ist auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren mit einem signifikanten Rückgang an qualifizierten Arbeitkräften zu rechnen. Deshalb trifft die Unternehmung Raiffeisen Schweiz bereits heute Massnahmen zur Sicherung der benötigten Personalkapazitäten.

Seit 2006 setzt sich bei Raiffeisen Schweiz die eigens für Diversity-Fragen gegründete Fachstelle Profil für die Förderung der Chancengleichheit von Mann und Frau, von Menschen mit Behinderungen, älteren Arbeitnehmern und solchen aus verschiedenen Nationalitäten ein. Eine der konkreten Massnahmen besteht in der Initialisierung eines Mentoringprogramms. Im Pilotprojekt 2007 wurden vorerst fokussiert Frauen in ihren Karriereschritten gefördert.
Ab 2008 werden nach einem speziellen Schlüssel auch männliche Potenzialträger in das Programm aufgenommen. Sowohl die Mentees als auch Mentoren und Mentorinnen profitieren von einer gleichwertigen Beziehung in verschiedener Hinsicht. Die Mentees erhalten in ihrer Karriereplanung massgeschneiderte Unterstützung durch erfahrene Raiffeisen-Fachleute mit Seniorität. Die Mentoren und Mentorinnen profitieren von einem interessanten Austausch und neuen Inputs aus Forschung und Lehre. Speziell am Mentoringprogramm ist unter anderem, dass sich die gesamte Geschäftsleitung als Mentoren zur Verfügung stellt. Dies bietet den Potenzialträgerinnen und Potenzialträgern eine einmalige Chance, von Erfahrungen zu profitieren.
Ziele und Nutzen von Mentoring bei Raiffeisen Schweiz
Obwohl das Gleichstellungsgesetz (Bundesgesetz, 1995) mittlerweile seit zwölf Jahren in Kraft ist, sind Frauen in Führungspositionen nach wie vor eine Seltenheit. Das ist trotz der hohen beruflichen Qualifikation und der quantitativ gestiegenen Erwerbsbeteiligung der Frauen der Fall. Laut Hofmann-Lun, Schönfeld und Tschirner (2000) stellen «andere Faktoren als die formalen Qualifikationen schwerwiegendere Ursachen für die Benachteiligung von Frauen dar». Und diese Ursachen können, laut Schweizerischem Arbeitgeberverband (2007) nicht mit Abwarten auf eine natürliche Korrektur im Laufe der Jahre angegangen werden: «Es braucht ein planmässiges proaktives Vorgehen durch die Unternehmen.» Raiffeisen Schweiz ist der Meinung, dass sich die Situation mittelfristig nicht ändern wird, wenn nicht wirksame Massnahmen ergriffen werden.
Folglich können die weiblichen Humanressourcen nur optimal genutzt und die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden, wenn die Unternehmung entsprechende Massnahmen ergreift und beispielsweise durch die Initialisierung eines Mentoringprogramms den Nutzen auf verschiedenen Ebenen fördert. Erwartet werden:
- Arbeitsmarktvorteile
- Verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Hierarchieebenen und den Geschlechtern
- Verbesserung des Betriebsklimas
- Langfristige Sicherung von Humankapital
Ablauf des Mentoringprozesses
Der Mentoringprozesss dauert ein Jahr und wird durch fünf Workshops fachlich begleitet. Mentorinnen und Mentoren, welche bereits Mentoringerfahrung aus dem Vorjahr mitbringen (Generation 2007), nehmen verpflichtend nur noch an drei Workshops teil. Die Mentees sind an jedem Workshop dabei – auch wenn ihr Mentor möglicherweise aufgrund seiner Erfahrung nur an deren drei anwesend ist. Die Tandembildung wird nach spezifischen Kriterien wie Funktionsstufe, Alter, Erfahrung, Departement, spezifische Ziele usw. vor Beginn des Mentoringprozesses bestimmt und am Kick-off mitgeteilt. Vorgängig führen die Verantwortlichen der Fachstelle Profil mit den Mentees ein kurzes Gespräch über deren Motivation und mögliche Ziele. Wichtig im gesamten Prozess ist, dass die persönlichen Ziele der Mentees immer wieder im Zentrum stehen. Nach einer detaillierten Zielbestimmung werden diese im ersten Workshop vertieft und dann in den laufenden Workshops in den einzelnen Tandems laufend überprüft.
Im zweiten Workshop wird ein so genanntes Mentoring Plus durchgeführt. Dabei erhalten die Mentees die Gelegenheit, mit einem anderen Mentor in ein strukturiertes, vertieftes Gespräch zu kommen. Dies ermöglicht es ihnen, Feedback über das eigene Verhalten und die persönliche Wirkung in den Workshops abzuholen und den Netzwerkgedanken intensiv zu pflegen. Nach jedem Workshop erfolgt eine elektronische Evaluation. Diese per Fragebogen gesammelten Erkenntnisse fliessen in die weiteren Workshops und in die Abschlussevaluation ein. An den einzelnen Workshops werden Begleitunterlagen wie beispielsweise Gesprächsleitfäden und Protokollbogen für die einzelnen Sitzungen im Tandem abgegeben. Gezielte theoretische Inputs in den einzelnen Workshops bilden nebst Reflexion und Austausch weitere wichtige Kernstücke. Der gesamte Prozess zwischen Mentor und Mentee bleibt vertraulich. Aufgrund der hohen Teilnehmerzahlen werden alle Workshops dreifach geführt.
Voraussetzungen für ein erfolgreiches Mentoring
Als eine der wichtigsten Voraussetzungen bezeichnet Raiffeisen, dass die gesamte Geschäftsleitung hinter dem Mentoring-Programm steht und sich auch aktiv beteiligt. Eine weitere zentrale Voraussetzung für eine gelingende Mentoringbeziehung sind das Fachwissen und die soziale Kompetenz von Mentor, Mentorin und Mentee. Beide müssen die Bereitschaft mitbringen, gegenseitig voneinander zu lernen. Eine Mentoringbeziehung basiert auf gegenseitiger Freiwilligkeit, zusammen in den Prozess einzusteigen. Nach dem Kick-off ist das Commitment verbindlich. Sowohl Machtmissbrauch durch den Mentor/die Mentorin als auch Abhängigkeit des Mentee muss vermieden werden. Deshalb arbeiten die Mentorin/der Mentor nie in derselben Linie wie die Mentees.
Mentor/Mentorin und Mentee verpflichten sich zur lückenlosen Teilnahme an den Workshops. Beide erklären sich bereit, die am Kick-off definierten Spielregeln einzuhalten. Zielsetzungen und Massnahmen halten sie eigenverantwortlich schriftlich fest, damit Ergebnisse gemessen werden können. Weiter ist es von grosser Wichtigkeit, dass die Rolle von Mentor/Mentorin klar umrissen ist und die Tätigkeiten definiert sind.
Rolle und Tätigkeit der Mentorinnen/Mentoren
Die Mentoren/Mentorinnen sind erfahrene und kompetente Raiffeisen-Fachleute, die mit Rat und Tat zur Seite stehen. Sie helfen mit ihren Stärken und Fähigkeiten ihren Mentees, in fachlichen und persönlichen Bereichen zu wachsen. Die Mentoren/Mentorinnen vermitteln keine Theorie, sondern selbst erworbene und praktizierte Erfahrungen, persönliches Wissen, Vorgehensweisen und Strategien. Sie stellen ihr Wissen und ihre Erfahrungen auf freiwilliger Basis zur Verfügung und pflegen den Austausch auf persönlicher Ebene. Basis für die Mentoringbeziehung sind gegenseitige Diskretion und Loyalität. Sie unterstützen die Karriere, geben Inputs, wie die Mentees sich in ihrem sozialen Berufsumfeld wohl fühlen können, sind Rollenvorbild und Vertrauensträger.
Wie bereits beschrieben, erhalten die Mentorinnen/Mentoren von der Fachstelle Profil Unterstützung durch fünf übers Jahr verteilte Workshops, Gesprächsleitfäden und bei Bedarf persönliche Beratung. Ansonsten wird von ihnen Folgendes erwartet:
- Unterstützung in konkreten Situationen, bei akuten Fragen und aktuellen Schwierigkeiten,
- Feedback zu einzelnen Verhaltensweisen,
- Besprechen von beruflichen Plänen und möglichen Hindernissen,
- Weitergeben von Erfahrung aus der eigenen Entwicklung und dem eigenen beruflichen Alltag,
- Vermitteln von neuen Impulsen für Ziele und Entwicklungswege,
- Sensibilisierung für ungeschriebene Gesetze,
- Einführung in bestehende Netzwerke.
Als Voraussetzungen mitbringen sollten die Mentorinnen und Mentoren:
- Freude, die eigene Erfahrung weiterzugeben, und Bereitschaft, Zeit zu investieren,
- Netzwerk, damit sie Netzwerkstrukturen mit karrierebewussten Frauen mit entwickeln können,
- Bereitschaft, «sich in die Karten blicken zu lassen», auch in Form von Tipps,
- Kompetenz, die Entwicklungen der Mentees im Gespräch zu fördern, zu stützen und zu begleiten.
Der Nutzen des Mentors/der Mentorin besteht darin:
- Aufbau von qualifiziertem Nachwuchs für das eigene Unternehmen,
- persönliches Feedback erhalten,
- Förderung des Verständnisses für Prozesse und Funktionsweisen im Unternehmen,
- Erhalten von frischen Ideen und Impulsen vom (akademischen) Nachwuchs,
- Gewinnen von neuen Kooperationsmöglichkeiten im Netzwerk.
Ziele und Voraussetzungen für die Mentees
Mentees sind Frauen und Männer, welche gezielte fachliche Unterstützung und persönliche Weiterentwicklung für ihre berufliche Karriere sowie neue Impulse suchen. Eine Studie (FinanzFrau, 2006) hat aufgezeigt, dass Frauen mehr Selbstsicherheit, Durchsetzungsvermögen und Eigeninitative brauchen und lernen sollen, ihr Interesse an einer Karriere klar mitzuteilen. Aus der Praxis lassen sich weitere Erwartungen festhalten:
- mehr Selbstsicherheit und Kompetenzen im Umgang mit herausfordernden Situationen,
- eigene Karriereziele erkennen und zielstrebig verfolgen können,
- den Wert der eigenen Arbeit selbstbewusst anerkennen,
- durchsetzungsfähiger werden.
Jede und jeder Mentee muss sich vor dem Beginn des Prozesses folgende Fragen stellen: Bin ich bereit,
- kritisches Feedback anzunehmen,
- Entscheidungen selbstverantwortlich zu treffen,
- mein berufliches Projekt, «meine Karriere» engagiert voranzutreiben und dabei auch Umwege in Kauf zu nehmen?
Mentees erhalten bei diesem Prozess unter anderem die Möglichkeit,
- die eigenen Fähigkeiten besser kennen und einschätzen zu lernen,
- Mut zur eigenen Karriere zu entwickeln und diese zielstrebig anzugehen,
- Einblick in die Strukturen der Unternehmung Raiffeisen,
- Einbindung in ein Netzwerk, das neue Impulse ebenso wie konkrete Hilfe bieten kann.
Rekrutierung
Raiffeisen Schweiz ist in sieben Departemente eingeteilt. Der CEO und jedes Geschäftsleitungsmitglied stehen einem Departement vor. Sie stellen sich selbst als Mentoren zur Verfügung und bestimmen aus ihrem Departement Mentees sowie die Mentorinnen und Mentoren. Ein strategisches Ziel von Raiffeisen Schweiz ist es, bis ins Jahr 2015 25 Prozent Frauen im Top-Kader zu haben. Das Verhältnis von weiblichen und männlichen Mentees im Mentoringprogramm ist analog dem strategischen Ziel, jedoch in umgekehrter Richtung. So werden 25 Prozent männliche und 75 Prozent weibliche Mentees rekrutiert. Insgesamt sollen pro Jahr 36 Tandems gebildet werden.
Gestaltung der Mentoringbeziehung
Wie die Beteiligten die Mentoringbeziehung gestalten, hängt im Wesentlichen von den Mentoren/Mentorinnen und ihren Mentees ab. Beratung und Gesprächsthemen orientieren sich an den individuellen Zielen und Bedürfnissen der Mentees sowie an ihren Möglichkeiten und Kompetenzen. Beratung und Förderung sind auf einen Zeitraum von einem Jahren angelegt. Die Mentoren/Mentorinnen sowie die Mentees sollten sich etwa ein bis zwei Stunden pro Monat für ein Gespräch Zeit nehmen und als Ansprechpartner per Telefon oder E-Mail zur Verfügung stehen.
Konkrete Erfahrungen aus dem Pilotprojekt
Raiffeisen Schweiz führte das Mentoringprogramm im Jahr 2007 zum ersten Mal im Rahmen eines Pilotprojekts durch. Aufgrund der positiven Erfahrungen hat die Geschäftsleitung entschieden, den Mentoringprozess ab 2008 in ein reguläres Programm zu überführen. Die Evaluation zeigt, dass sowohl die Mentoren/Mentorinnen als auch die Mentees voneinander profitieren. Nebst der Unterstützung der Mentees in ihrer persönlichen Zielerreichung können folgende Punkte als speziell positiv hervorgehoben werden:
- Netzwerke werden aufgebaut und gepflegt,
- Hintergründe über die Karriere der Geschäftsleitung und des Top-Kaders werden erkannt und sind so beispielgebend,
- auch Geschäftsleitungsmitglieder und TopKader erhalten ein direktes Feedback von der Basis,
- Auseinandersetzung mit der Unternehmenskultur, die so detaillierter kennen gelernt wird.
Als spezielle Herausforderung stellte sich bei einigen Frauen die Definition der persönlichen Ziele dar. Fragen wie «Was bedeutet Karriere? Was bedeutet Erfolg?» führten zu spannenden Diskussionen zwischen dem mehrheitlich männlichen Top-Kader und den Potenzialträgerinnen. Dadurch wurden wichtige Inputs für eine nachhaltige Kulturarbeit angeregt. Letztlich ist ein Mentoringprozess nicht ausreichend – die Unternehmenskultur muss sich grundsätzlich hinsichtlich der gleichberechtigten Förderung von Frau und Mann und Familienfreundlichkeit entwickeln. Dazu wird, davon sind wir überzeugt, auch die nächste Mentoring-Generation wesentliche Beiträge leisten können.
Was ist Mentoring?
Mentoring ist eine Förderbeziehung zwischen zwei Personen, die sich auf unterschiedlichen Erfahrungs- und Hierarchieebenen befinden. Eine erfahrene Persönlichkeit (Mentorin/Mentor) unterstützt während einer klar begrenzten Zeit eine andere Person (Mentee) in Fragen der beruflichen Karriere, gibt Ratschläge auf der Suche nach Veränderung, führt in Netzwerke ein und hilft Mechanismen und ungeschriebene Regeln einer Organisation zu verstehen. Die Mentoringbeziehung steht ausserhalb der Mitarbeitende-Vorgesetzte-Abhängigkeit und beruht auf Gegenseitigkeit. Es handelt sich um eine gleichberechtigte Austauschbeziehung, die trotz der beschriebenen Hierarchie- und Erfahrungsunterschiede nicht hierarchisch geprägt sein sollte.
Bei Raiffeisen Schweiz steht Mentoring grundsätzlich für die Zusammenarbeit von zwei engagierten und offenen Personen, die sich mit dem Ziel der gemeinsamen Entwicklung austauschen und fördern. Zwar steht die Entwicklung der Mentees im Vordergrund, dennoch haben die beteiligten Mentoren und Mentorinnen einen ebenso grossen Gewinn. Im Gegensatz zum Coach nimmt der Mentor keine neutrale Position gegenüber dem Mentee ein, sondern bringt seine persönliche Erfahrung ein. Es findet eine Förderung ausserhalb der Linie statt. Empirisch zeigt sich, dass das Bestehen einer Mentoringbeziehung positiv mit Einkommen, Beförderungen und Berufserfolg eines Mentees zusammenhängen kann (vgl. Prinz, 2006).
Literatur
- Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Gleichstellung von Mann und Frau, SR-Nummer 151.1, Inkrafttreten 1. Juli 1996.
- Hofmann-Lun, I., Schönfeld, S. u. Tschirner, N., 2000. Dokumentation zum Workshop «Mentoring für Frauen in der Politik». München: Deutsches Jugendinstitut.
- Leu, A., Rütter, H. u. Umbach-Daniel, H., 2006. FinanzFrau. Zürich: Kaufmännischer Verband Schweiz.
- Prinz, T., 2006. Mentoring als Karrierestrategie. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.
- Schweizerischer Arbeitgeberverband, 2007.