Gesundheit ist für viele Jugendliche kein Thema
Allan Guggenbühl ist Leiter des Instituts für Konfliktmanagement und Mythodrama und Dozent für Psychologie und Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich. An der BGM-Tagung im September spricht er über die psychische Gesundheit von Jugendlichen und erklärt, was Lehrmeister und Eltern dazu beitragen können.
Wie psychisch gesund sind unsere Jugendlichen?
Allan Guggenbühl: Die Mehrheit ist gesund. Es existieren jedoch bestimmte Probleme, die im Jugendalter verbreitet sind. Die Schwierigkeit, den eigenen Körper zu akzeptieren, soziale Unsicherheiten oder die Angst, nicht akzeptiert zu werden. Die Sensibilisierung für die psychische Gesundheit bei Jugendlichen hat zudem in den letzten Jahren zugenommen. So gibt es mehr Diagnosen, die den psychischen Zustand von Jugendlichen betreffen – beispielsweise Bulimie, ADHS, Autismus-Spektrum, Adoleszentenkrise, Tic-Störungen und Störungen des Sozialverhaltens.
Was sind Anzeichen von psychischen Störungen?
Die können sehr unterschiedlich sein: vom Rückzug über emotionale Ausbrüche und eigenartiges Verhalten bis hin zu wirren Gedanken und Unzugänglichkeit im Kontakt.
Inwiefern müssen Lehrmeisterinnen und Lehrmeister die psychische Gesundheit der Lernenden schützen?
Lehrmeisterinnen und Lehrmeister haben einen Einfluss auf die psychische Gesundheit ihrer Lernenden. Der tägliche Kontakt, die Atmosphäre im Betrieb und die Integration im Team spielen eine wichtige Rolle. Grundsätzlich haben Lehrmeisterinnen und Lehrmeister jedoch keine therapeutische Funktion, sondern vielmehr die Aufgabe, die Jugendlichen in den Beruf einzuführen, sie zu fordern und zu fördern.
Jugendliche sind psychisch noch instabil. Kann man von ihnen verlangen, für ihre psychische Gesundheit zu sorgen?
Das Problem ist, dass Gesundheit für viele Jugendliche kein Thema ist – vor allem für männliche. Sie verbergen ihre psychischen Probleme oder erkennen diese selbst nicht. Als Lehrmeisterin oder Lehrmeister ist es deshalb sinnvoll, mit den Lernenden das Gespräch zu suchen, wenn man das Gefühl hat, es gehe ihnen schlecht.
In einem Betrieb müssen sich Lernende anpassen, obschon sie nach Unabhängigkeit streben und eine eigene Identität suchen ...
Meist haben Jugendliche kein Problem damit, sich in einem Lehrbetrieb einzufügen, wenn sie sich mit diesem identifizieren und die Arbeit als sinnvoll empfinden. Nach Unabhängigkeit streben sie eher in der Freizeit oder beim Zelebrieren eines eigenen Stils.
Soll man Lernende im Betrieb vor negativen Entwicklungen wie Auftragsverlusten, Kurzarbeit oder Gesprächen wegen Leistungseinbrüchen schützen?
Nein, Jugendliche sollte man möglichst miteinbeziehen, sonst werden sie infantilisiert und fühlen sich in einer Sonderrolle. Das wiederum fördert Regressionen.
Wie können Eltern die psychische Gesundheit der Jugendlichen fördern?
Für Jugendliche bleibt die Beziehung zu den Eltern zentral, auch wenn sie sich von ihnen abgrenzen. Eltern sollten weiterhin signalisieren, dass sie für die Jugendlichen da sind und sie unterstützen. Gleichzeitig sollten Eltern ihren Kindern einen gewissen Grad an Autonomie zugestehen und sich nicht überall einmischen. Jugendliche dürfen Geheimnisse haben.
«Ich bin krank und bleibe im Bett» ist eine häufige Ausrede von Lernenden, wenn sie keine Lust haben, in die Schule oder arbeiten zu gehen. Was steckt dahinter?
Manche Jugendliche betrachten es als ihr heiliges Recht, bereits bei einem leichten Hüsteln zu Hause zu bleiben. Dieses Verhalten ist asozial. Damit wird unser System untergraben, dass man bei Krankheit keine Nachteile erfahren soll. Zudem vergessen diese Jugendlichen, dass ein leichtes Kränkeln auch zur Gesundheit gehört.
Inwiefern sind «fiktive» Ausreden als Hilferuf zu verstehen?
Das kann natürlich der Fall sein. Lehrmeisterinnen und Lehrmeister kennen jedoch ihre Lernenden in der Regel sehr gut und merken, wenn es ihm oder ihr wirklich nicht gut geht.
Wie sprechen Bildungsbeauftragte das im Betrieb an?
Man umkreist das Thema. Beginnt vielleicht mit einem anderen Fall und fragt erst danach, ob der Jugendliche etwas Ähnliches erlebt hat. Ein solches Gespräch sollte in einem besonderen Setting stattfinden. Etwa nach Arbeitsschluss, bei einem gemeinsamen Spaziergang oder in einem Café.
Inwiefern kennen Sie dieses Phänomen aus der Praxis?
Damit bin ich vor allem bei meiner Tätigkeit an der Hochschule konfrontiert. Studierende absentieren sich mit dem Vorwand, krank zu sein. Krankheit ist deshalb zwischenzeitlich kein Entschuldigungsgrund mehr. Heute müssen Studierende zwingend eine bestimmte Anzahl an Lektionen pro Semester besuchen, bevor ihnen ein Modul angerechnet wird.
Nationale BGM-Tagung 2020
Fit für die Zukunft – BGM für junge Arbeitnehmende
Anregungen und Aufregungen von Allan Guggenbühl
Datum: 2. September 2020
Ort: Kursaal Arena, Bern