«Gesundheitsförderung kann ein Unternehmen gar nicht übertreiben»
Nur gesunde Mitarbeitende machen ein Unternehmen erfolgreich. Das weiss jeder. Trotzdem wird in zehn Jahren Stress die Krankheitsursache Nummer eins sein, sagt Thomas Mattig, Direktor der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. Und erklärt, wie ein Unternehmen die Gesundheit seiner Mitarbeitenden stärken und erst noch etwas für das Image tun kann.
Thomas Mattig: «Nur scheinbar haben wir alles im Griff. Bei der ganzen Fixierung auf Zahlen werden Emotionen jedoch meist ausgeklammert.» (Foto: Sabine Schritt)
Herr Mattig, Sie haben einmal gesagt: Die Freiheit, sein Leben zu gestalten, sei eine der wichtigsten Voraussetzungen, physisch und psychisch gesund zu bleiben. Wie ist es möglich, diese Freiheit in unserer 24-Stunden-Gesellschaft zu erhalten?
Thomas Mattig: Zuerst muss man sich auf der gesellschaftlichen Ebene überlegen, wohin das noch führen soll, wenn die Menschen in ihrer persönlichen Freiheit immer mehr eingeschränkt werden und kein Raum mehr bleibt für individuelle Entwicklungen und Kreativität. Also das, was einen Menschen ja schliesslich ausmacht. Diese Qualitäten kommen in der 24-Stunden-Gesellschaft kaum noch zum Tragen. Wir müssen diese Mechanismen verstehen, damit wir einen gesunden Umgang mit den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen finden.
Zum Zweiten sollte man sich in den Betrieben die Frage stellen, ob alles durch Prozesse vordefiniert werden muss oder ob man nicht dem Einzelnen mehr Freiheiten geben sollte, um Lösungen zu entwickeln.
Birgt so ein Freiraum auch Nachteile?
Er kann auch zur Überforderung werden. Hier muss der Betrieb unterstützend wirken, Möglichkeiten aufzeigen und konkrete Angebote machen, wie dieser Freiraum sinnvoll und auch gesundheitsfördernd gestaltet werden kann.
Wie kann das im Privaten aussehen?
Mir persönlich ist wichtig, mich wehren zu können, wenn alles nur von aussen diktiert wird. Ich möchte mich auch nach innen orientieren und mich fragen können: Was ist mir wirklich wichtig im Leben?
Haben Sie dafür noch Zeit?
Da ist jeder Einzelne selbst gefordert, zum Beispiel abends oder am Wochenende das Smartphone ganz abzuschalten und sich zu erholen. Der Betrieb kann das allerdings sehr stark durch eine entsprechende Kultur unterstützen.
Wo setzen Sie gemeinsam mit den Unternehmen an, eine gesunde Betriebskultur zu schaffen?
Gesundheitsförderung geht von den Ressourcen aus, und der Mitarbeiter ist die wichtigste Ressource im Unternehmen. Durch eine wertschätzende und faire Führung kann man sehr viel erreichen. Damit wird Gesundheit ganz klar zur Führungsaufgabe.
Welches sind die wichtigsten Kriterien für das betriebliche Gesundheitsmanagement?
Wir haben insgesamt sechs Kriterien definiert. Vor allem finde ich diese beiden wichtig: Erstens, Gesundheitsmanagement soll in die Managementsysteme integriert werden. Zweitens, nicht Einzelaktionen, sondern nur ein ganzes Paket von Massnahmen, das systematisch geplant, durchgeführt und verbessert wird, führt letztlich zum Erfolg. Das zeigt auch, ob man Gesundheit wirklich ernst nimmt.
Das ist ein enormer Aufwand. Wie überzeugen Sie die Unternehmen, Gesundheit ernst zu nehmen?
Gesundheitsförderung muss in die Managementsprache übersetzt werden. So kann sie auch besser integriert werden. Das beste Argument ist natürlich die finanzielle Seite. Wir kommen zudem nicht mit einem fertigen, praxisfernen Produkt, sondern binden die Unternehmen in unsere Arbeit ein. So ist gewährleistet, den Zugang zu den Betrieben zu finden. Die Nachfrage ist erstaunlich gross.
Nicht nur weil man sich mit Gesundheitsförderung gut schmücken kann?
Unser Label «Friendly Work Space» hat in der Tat auch eine starke Image-Komponente. Wir schauen uns aber in drei Jahren die Unternehmen wieder an. Diese können sich nicht zurücklehnen.
Sind es nur ökonomische Gründe, die Unternehmen zu einem verstärkten Engagement in der Gesundheitsförderung zwingen, oder ist es nicht auch eine ethische Frage, sich bestmöglich um die Gesundheit der Mitarbeiter zu bemühen?
Die wirtschaftlichen Gründe sind sicherlich das A und O, so werden Unternehmen nun einmal gesteuert. Aber wir bemerken in den Gesprächen mit den Verantwortlichen in den Betrieben auch eine eindeutige ethische Motivation.
Gesundheitsförderung Schweiz vergibt seit 2008 das Label «Friendly Work Space» (1) an Organisationen. Warum ist die Signalwirkung eines solchen Labels so wichtig?
Intern erfahren die Mitarbeitenden Wertschätzung, wenn das Unternehmen sich zu einem solchen Prozess bekennt und den Weg mit ihnen gemeinsam geht. Und nach aussen kann das Unternehmen deutlich machen, dass es nicht nur an der Gewinnmaximierung interessiert ist, sondern auch verantwortungsvoll handelt.
Hier handelt es sich um ein langfristiges Projekt, welches sich nicht von heute auf morgen auszahlt. Wie passt dies in unsere schnelllebige Welt mit kurzfristigem Profitdenken?
Bestimmte Themen können nur langfristig gelöst werden. Ich bin sicher, dass langfristig angelegte Projekte wieder salonfähig werden. Übrigens: Mit dem S-Tool, einem Befragungsinstrument zum Thema Stress, das wir im Rahmen des SWiNG-Projekts (2) entwickeln, können Betriebe sehr rasch herausfinden, wo es brennt.
Warum engagiert sich die Gesundheitsförderung Schweiz so stark in der Stressprävention?
Stress ist ein Riesenproblem, und wir gehen davon aus, dass dies in zehn Jahren Krankheitsursache Nummer eins ist. Das hängt auch mit der 24-Stunden-Gesellschaft zusammen.
CHF 2.40 für die Gesundheit
Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von Kantonen und Versicherern getragen wird. Mit gesetzlichem Auftrag initiiert, koordiniert und evaluiert sie Massnahmen zur Förderung der Gesundheit (Krankenversicherungsgesetz, Art. 19). Die Geschäftsstelle besteht aus Büros in Bern und Lausanne. Jede Person in der Schweiz leistet einen jährlichen Beitrag von CHF 2.40 zugunsten von Gesundheitsförderung Schweiz, der von den Krankenversicherern für die Stiftung eingezogen wird. Die Stiftung konzentriert sich auf drei Kernthemen: Psychische Gesundheit / Stress mit Fokus auf Betriebliche Gesundheitsförderung, gesundes Körpergewicht und die Stärkung von Gesundheitsförderung und Prävention. www.gesundheitsfoerderung.ch
Kennen Sie Chefs, die Gesundheit vorleben, indem sie zum Beispiel nicht rund um die Uhr im Einsatz sind?
Ja, und wenn der Chef selbst die Gesundheitsförderung auch wirklich lebt, funktioniert es am besten.
Welcher Stellenwert sollte der betrieblichen Gesundheitsförderung in der Organisation beigemessen werden?
Das kann man gar nicht übertreiben. Der Unternehmenserfolg steht und fällt mit dem Engagement der Mitarbeiter. Hier ist jede Investition gut angelegt.
Ist nicht jeder Mensch selbst dafür verantwortlich, seine geistige und körperliche Gesundheit und damit Leistungsfähigkeit zu erhalten?
Grundsätzlich ist jeder für seine eigene Gesundheit verantwortlich, das ist richtig. Es ist auch eine persönliche Entscheidung, seine Gesundheit zu schädigen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Auf unsere Gesundheit haben viele Dinge Einfluss, die der Einzelne nicht beeinflussen kann.
Was kann der Arbeitgeber tun?
Die Arbeitsatmosphäre spielt eine zentrale Rolle. Führungskräfte sollten den Finger in die Wunde legen, sich verantwortlich fühlen und sich Zeit nehmen.
Welche Rolle spielt der Umgang mit Emotionen für die Gesundheitsförderung?
Meiner Meinung nach stehen wir bei diesem Thema erst am Anfang. In unserer Gesellschaft im Allgemeinen, aber auch in den Betrieben glänzen wir nicht gerade im Umgang mit Emotionen. Nur scheinbar haben wir alles im Griff; bei der ganzen Fixierung auf Zahlen werden Emotionen jedoch meist ausgeklammert. Dabei vergessen wir, dass ohne Emotionen eigentlich nur durchschnittliche Leistungen möglich sind. Ohne Begeisterung kann man keine wirklich gute Leistung erbringen. Leistung lässt sich nicht erzwingen, da müssen Unternehmen umdenken. Ein erster Schritt ist, über Emotionen zu sprechen und das auch bewusst zuzulassen.
Müssen Sie auch an der persönlichen Kompetenz der Mitarbeiter der jeweiligen Unternehmen arbeiten?
Unser Ziel ist es, auch die Mitarbeiter zu erreichen und eine transparente Diskussion in Gang zu bringen. Darüber, was wessen Verantwortung ist. Dabei soll klar werden, wo Mitarbeiter selbst einen Schritt machen müssen. Der Betrieb kann übrigens auch dort Hilfestellungen anbieten, wie beispielsweise mit Seminaren im Zeitmanagement.
Wo hört die Verantwortung des Betriebes für die Gesundheit der Mitarbeiter auf, wo beginnt die Eigenverantwortung?
Es muss Hand in Hand gehen. Die Gesundheit der Mitarbeiter ist ein gemeinsames Anliegen, das auch nur gemeinsam gelöst werden kann. Das ist wie ein Pakt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
1 Lesen Sie hierzu in unserer aktuellen Ausgabe HR Today Special, Seite 36, einen ausführlichen Bericht anhand des Beispiels der Migros Genossenschaft Luzern.
2 Im Projekt SWiNG (Stressmanagement, Wirkung und Nutzen betrieblicher Gesundheitsförderung) werden nach neuesten Erkenntnissen der betrieblichen Gesundheits- förderung (BGF) umgesetzte Interventionen – mit Fokus Stress – auf die Wirkungsweise und den ökonomischen Nutzen untersucht und entsprechende Erfolge belegt.
Thomas Mattig
ist seit 2007 Direktor der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. Davor war er in leitender Funktion beim Schweizerischen Versicherungsverband sowie bei einer Versicherungsgesellschaft tätig. Sein Rechtsstudium in Basel und Fribourg schloss er mit einer Promotion ab. Bis heute ist Thomas Mattig in einer Vielzahl nationaler und internationaler Gremien im Gesundheits- und Präventionsbereich engagiert. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Bern.