Bildung und Kompetenzen

Gut ausgebildet = fit für Arbeitsmarkt – diese Rechnung geht nicht mehr auf

Wer während seiner Schul- und Ausbildungszeit auf die Karte Büffeln gesetzt hat, wird keine Probleme in der Arbeitswelt haben. Ganz so einfach ist’s nicht, wie ein Augenschein beim «Arbeitsamt» zeigt: Gute Aus- und Weiterbildung garantieren längst kein Leben ohne Stellenverlust mehr. Auch Hochqualifizierte können langzeitarbeitslos werden.

Falsch ist die landläufige Meinung, dass die Beraterinnen und Berater der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) es in ihrem Alltag mehrheitlich mit schlecht qualifizierten, unmotivierten Stellensuchenden zu tun haben. Menschen, die ihre Aus- und Weiterbildung vernachlässigt haben und so über schlechte Chancen auf dem modernen Arbeitsmarkt verfügen. Diese Klientel, so dürfte man meinen, bleibt den staatlichen Institutionen zur Betreuung und Vermittlung vorbehalten, da sie von privaten Stellenvermittlern und Headhuntern links liegen gelassen wird. Und wer erst einmal beim RAV gelandet ist, bleibt lange arbeitslos ...

«Diese Vorstellungen sind einfach und bestechend, sie haben mit der Realität aber wenig zu tun», sagt Ursina Mayer, Leiterin des RAV im zürcherischen Fehraltorf. «Rund zwei Drittel der bei uns gemeldeten Arbeitslosen sind mehr oder minder gut ausgebildete Fachkräfte», so Mayer. «In der Regel sind diese Leute relativ schnell wieder beschäftigt.» Betroffene aus bildungsnahen Schichten seien beim Wiederbeschäftigungsprozess oft etwas «fitter» und benötigen weniger Unterstützung als Bildungsferne. Reines Schwarz-Weiss-Malen funktioniere aber auch hier nicht. 

Beim RAV in Fehraltorf melden sich pro Monat rund 180 Arbeitslose, gleich viele finden in dieser Zeit wieder Stellen. Der Markt produziere zwar Arbeitslose, nehme sie normalerweise aber auch wieder auf, so Mayer. Der Fachkräftemangel sei dafür die Bedingung.

Eine längere Arbeitslosigkeit könne allerdings jeden treffen, unabhängig vom Stand der Ausbildung. Wer also in jungen Jahren eine Lehre oder ein Studium absolviert hat, ist genauso wenig gefeit wie jemand, der weder eine abgeschlossene Schul- noch Berufsausbildung genossen hat. «Betroffen sind Fachkräfte, auch solche, an denen heute Mangel herrscht, Hochschulabgänger, Top-Kader und marginal oder gar nicht ausgebildete Menschen mit Migrationshintergrund», so Mayer.

Nicht selten treffe es auch junge Menschen, die eine Ausbildung abbrechen würden. Jugendliche seien das Tempo und die Anforderungen der modernen Wirtschaft oft nicht gewohnt. Schonenden Umgang mit Berufseinsteigern – früher Normalität – könnten sich jene Unternehmen, die überhaupt noch Lehrlinge ausbildeten, aus wirtschaftlichen Gründen kaum mehr leisten.   

Zuerst die Herkunft, dann die Skills

Die RAV-Praxis zeige sich scheinbar paradox, sagt RAV-Personalberaterin Regula Dinten. So fänden zum Beispiel Migranten, die vordergründig für den hiesigen Arbeitsmarkt nicht qualifiziert scheinen, schnell und erfolgreich Arbeit. Denn so merkwürdig es sich anhöre, gebe es auch in diesem Teil des Arbeitsmarktes einen Fachkräftemangel. «In speziellen Sparten und Nischen des Gewerbes herrscht dauernd Nachfrage nach Arbeitskräften ohne tiefschürfende Qualifikationen oder Vorkenntnisse. Ein Arbeitgeber, der zum Beispiel in einem Team hauptsächlich Mitarbeitende aus einem bestimmten Land beschäftigt, sucht in erster Linie nach Herkunft Personal, erst in zweiter Linie sind Skills wichtig.» Arbeitswille und Herkunft, sprich Nationalität und Sprache, seien bedeutsam. Man denke an den Backoffice-Bereich in der Gastro-Branche, gewisse Bereiche der modernen Landwirtschaft, das Facility-Management, Transportwesen und anderes. 

Steile Karrieren ohne Weiterbildung

Die Mehrzahl dieser Jobs würden allerdings meist nicht über RAV, Stellenvermittler oder Inserate vergeben, sondern «unter der Hand», also über Netzwerke, besonders innerhalb der ausländischen Kulturgruppen in der Schweiz. «Einwanderer in der Schweiz sind oft bestens vernetzt – besser als die Mehrheit der Schweizer –, helfen sich gegenseitig und sorgen dafür, dass Stellenlose ihrer Kulturgruppe wieder Arbeit bekommen.» Freilich gebe es auch hier Ausnahmen. Etwa dann, wenn durch Familiennachzug Menschen auf den Schweizer Arbeitsmarkt kämen, welche die notwendigen Mindestvoraussetzungen für eine berufliche Integration mehrheitlich nicht erfüllen oder erfüllen wollten.    

Fachkräftemangel beginnt 
in der Schule

«Ich persönlich würde mir wünschen», so die Fehraltorfer RAV-Personalberaterin Regula Dinten, «dass die Schulen Jugendliche besser, sprich gezielter und realitätsnaher, auf die Arbeitswelten vorbereiten würden.» In den letzten Jahren seien durch verschiedene Programme Verbesserungen erzielt worden. Wichtig sei, dass Jugendliche geistig und in manchen Berufen auch körperlich fit in die Arbeitswelt entlassen würden. Die Ansprüche, welche die Wirtschaft an Lehrlinge stelle, hätten sich schneller gewandelt als die Programme in den Schulen. Jugendliche müssten heute ab dem ersten Tag in der Lehre volle Leistung bringen – Schonfristen gebe es nicht mehr; weder in handwerklichen Berufen noch in kaufmännischen. Schulabgänger, die den Anforderungen der Arbeitgeber entsprächen, motivierten diese, weiterhin Lehrstellen anzubieten. Nur so könne dem Fachkräftemangel durch Nachwuchsförderung Paroli geboten werden.

Demgegenüber seien inländische Fachkräfte nicht selten länger und nachhaltiger auf die Hilfe von RAV und Arbeitslosenkasse angewiesen als mancher Hilfsarbeiter, weiss Mayer. Akademiker, Top-Kader, Banker, Journalisten und ähnlich hochqualifizierte Berufsleute brauchen viel Durchhaltewillen, wenn sie von Arbeitslosigkeit betroffen werden. «Je detaillierter das Anforderungsprofil einer Stelle, auf die man sich bewirbt, so es denn mal eine passende Ausschreibung hat, desto länger dauert in der Regel der Rekrutierungsprozess. Ein ungelernter Maler ist nicht selten nach ein paar Tagen wieder in Lohn und Brot, Hochqualifizierte brauchen mehrere Monate bis zu einem Jahr.»

Auch stelle man beim Wiederbeschäftigungsprozess für Fachkräfte oft fest, dass diese zwar hochqualifiziert, dabei aber nicht fit genug für den Arbeitsmarkt der Gegenwart seien, weiss Regula Dinten. «Es gibt 50-Jährige, die nach ihrer Lehre eine steile Karriere gemacht haben, seit der Grundausbildung aber nie mehr wirklich etwas dazugelernt haben. Diese Kandidaten sind leider nicht leicht davon zu überzeugen, dass sie nur durch Weiterbildung marktkonform bleiben und werden.» Denn nicht nur geistig sei Weiterbildung herausfordernd, auch finanziell und organisatorisch. Allerdings sei nicht allen Betroffenen ein Vorwurf zu machen. Oftmals liesse der Arbeitsumfang, gepaart mit grossem Erwartungs- und Leistungsdruck in Job und Familie, physisch und psychisch bei vielen Arbeitnehmenden keinen Spielraum mehr, für dringend nötige Weiterbildungen. Nach einem Zehn-Stunden-Tag im Büro ist die Motivation für Abendkurse nachvollziehbarerweise nicht sehr gross. 

Männer sind dabei häufiger betroffen als Frauen. Die Businesswelt der Gegenwart lässt weniger Möglichkeiten, wie etwa Teilzeit-Arbeitsmodelle, die Weiterbildung begünstigen. Der 80 Prozent arbeitende CEO, der sich in seiner Freizeit berufsspezifisch weiterbildet und so arbeitsmarktfähig bleibt, ist selten.

Unqualifizierte Hochqualifizierte

Ursina Mayer verweist auf die aktuelle Entwicklung im Schweizer Arbeitsmarkt: «In den nächsten Monaten und Jahren werden bedingt durch die Abbaupläne der Finanzinstitute tausende Menschen aus dieser Branche auf den Arbeitsmarkt drängen. In den Beratungsgesprächen beim RAV werden sich dannzumal die Versäumnisse der Arbeitnehmenden, aber auch der Unternehmen deutlich zeigen. Die staatlichen Personalberater werden mit Berufsleuten zu tun haben, die 10, 15 oder 20 Jahre ohne Weiterbildung gut in ihren Jobs funktionierten.»

In dieser Zeit haben sich nicht nur die Anforderungen und Gepflogenheiten ihrer ursprünglich gelernten Berufe gewandelt, etwa des kaufmännischen Angestellten. Viele Betroffene hätten noch viel grundlegendere Mankos in Sachen Arbeitsmarktfähigkeit, sagt Mayer. «Zahlreiche werden lernen müssen, wie man heute Bewerbungen schreibt, zum Beispiel elektronisch.» So mancher Top-Banker wird sich in RAV-Basic-Kursen wiederfinden. Sechs Tage lang wird den «unqualifizierten Hochqualifizierten» dort beigebracht, wie man sich heute bewirbt, wie man in eigener Sache «netzwerkt». Es sei mitunter erschreckend zu sehen, dass selbst Top-Shots intellektuell und mental nicht weiter wüssten, wenn sie einen Lebenslauf oder ein ganzes Bewerbungsdossier zusammenstellen müssten. «Natürlich ist es für gestandene Führungspersönlichkeiten nicht sexy, in einer Bewerbungswerkstatt zu lernen, wie man so was heute macht, aber es kann helfen», sagt Mayer.

Denn solange alles gut laufe, werde freiwillig oft nichts dazugelernt. «Diese Haltung rächt sich bei vielen Arbeitnehmenden früher oder später – besonders bitter ist es, wenn es in fortgeschrittenem Alter passiert. Salopp ausgedrückt ist man dann nicht selten weg vom Fenster.»

Ursina Mayer


 ist seit neun Jahren als RAV-Leiterin für das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich tätig. Zuvor hat sie bei der Zurich Versicherungsgesellschaft als 
Human Resource Manager und als selbständige Personalvermittlerin für Finanzdienstleistungsunternehmen gearbeitet.

Regula Dinten

ist seit 2009 Personalberaterin beim RAV Fehraltorf. Sie arbeitet im Team Technik und ist für jugendliche Stellensuchende zuständig. Ab 2000 war sie hauptberuflich im Personalwesen tätig. 2002 absolvierte sie das Eidg. Diplom Personalfachfrau und bildete sich in Themen wie Leadership, Kommunikation und Kurzzeitberatung weiter.

 

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