Interkulturelle Kompetenz

«Herr Muckly, ich brauchte zwei Jahre, um zu verstehen, wie anders Sie funktionieren»

Der Elsässer Pierre Muckly war bis Ende 2007 Präsident und CEO von Canon Schweiz. Einst unterrichtete er als Professor Mathematik, doch sich nur damit zu beschäftigen, war ihm zu langweilig. So ging er 1982 zu Canon France und wurde Marketingleiter. Die Logik der Wissenschaft wendet der 53-Jährige noch heute an, vor allem im interkulturellen Leadership.

Welchen Einfluss hat Ihr Background als Mathematikprofessor auf Ihren Führungsstil?

Pierre Muckly: Ich habe mit meinem mathematischen Denken starke Kontrolle über Prozesse und natürlich über Zahlen. Die Priorität in der menschlichen Führung liegt für mich in der klaren Aufgabenverteilung, die je nach den Stärken der einzelnen Mitarbeitenden festgelegt werden. Und je genauer ich die Stärken des Einzelnen wahrnehme, desto mehr Spielraum kann ich jeweils in der Ausführung lassen. Kontrolle ist nur dann nötig, wenn es um die Dokumentation der Resultate geht.

Haben Sie bei dieser rationalen Vorgehensweise auch manchmal den Vorwurf der emotionslosen Führung gehört?

Nicht unbedingt, denn mit tendenziell emotional ausgerichteten Menschen kann ich sehr gut umgehen. Ich brauche Leute im Team, die selbständig funktionieren. Und für mich bedeutet «delegieren» zu 100 Prozent delegieren. In der Schweiz halte ich die Menschen für ausgeprägt pflichtbewusst und aufgabenorientiert. Das passt zu meinem Führungsstil. Wenn ich als CEO auf allen Hierarchiestufen selbständig arbeiten lassen kann und nur noch am Ende das Resultat kontrollieren muss, dann ist das geglücktes Delegieren. Das ist vergleichbar mit den Kapitänen von U-Booten, die nur Entscheidungen treffen und delegieren. Sie selber führen in dem Sinne nichts aus, kontrollieren müssen sie aber zur Gewährung der Sicherheit aller. Ein Unternehmen funktioniert wie ein U-Boot – es kann bei mangelnder Kontrolle ebenso untergehen wie leckschlagen. Wenn ich – wie in der Mathematik – weiss, wo die Zahlen stehen, trage ich die Verantwortung. Deshalb ist es wichtig, dem ganzen Team die Zahlen regelmässig vorzulegen. Daran erkennt es selber, wo die Lecks sind, und hat den Freiraum zu entscheiden, wie es die Resultate laufend verbessert.

Haben Ihre japanischen Chefs das auch so gesehen?

(lacht) Franzosen und Japaner arbeiten sehr gut zusammen, genau wie die Japaner mit anderen Südeuropäern gut harmonieren. Das liegt daran, dass die Japaner – ähnlich wie die Deutschen, sogar bis zur untersten Hierarchiestufe – sehr detailorientiert, vertikal arbeiten. Sie kontrollieren laufend Prozesse, die uns Franzosen im Ablauf weniger im Detail interessieren, da wir von Natur aus eher breit angelegt, horizontal denken. Somit entsteht keine interne Rangelei über Kompetenzen. Man funktioniert durch Differenzen und überlässt sich gegenseitig das Feld. Wenn Sie aber Deutsche und Japaner zusammen arbeiten lassen, gibt es aufgrund ihrer ähnlichen Arbeitshaltung oft Probleme.

Haben Sie ein praktisches Beispiel für diese unterschiedlichen Denkweisen?

Schauen Sie sich an, wie unterschiedlich visuelle Werbung für Socken in Deutschland und Frankreich gemacht ist: Die Franzosen werden mit erotischen Bildern zum Kauf von Socken verführt. In Deutschland wirbt man lieber mit den harten Fakten der optimalen Qualität des Produkts. Da manifestiert sich klar die Detailorientiertheit der Deutschen.

Haben Sie Differenzen zwischen Ihnen als Franzosen und Schweizern entdeckt?

Ich hatte mal einen 43-jährigen Kollegen aus dem Berner Oberland, der sagte mir nach zwei Jahren der Zusammenarbeit: ‹Herr 
Muckly, ich brauchte zwei Jahre, um zu verstehen, wie anders Sie funktionieren. Jetzt weiss ich es endlich.› Jeder Mensch ist in seinem eigenen System gewachsen. Ich war sein erster Nichtschweizer Vorgesetzter. Und obwohl er mich so lange Zeit gar nicht richtig fassen konnte, war er trotzdem gegenüber der Firma treu. Das ist eine klassische Schweizer Qualität: die Treue gegenüber der Firma.

Man sagt aber oft, dass Mitarbeitende wegen des Chefs kommen und gehen ...

Im Fall Canon, und da war ich insgesamt 26 Jahre tätig, ging es den meisten Kollegen bei der Entscheidung, lange im Unternehmen zu bleiben, um die starke Marke. Bei Canon in Frankreich war die Treue der Mitarbeitenden allerdings längst nicht so hoch wie hier in der Schweiz. Franzosen sind eher individualistisch. Deutsche, Japaner und auch Schweizer sind eher kollektivistisch.

Welche Attribute sprechen Sie den Schweizern noch zu?

Es dauert zwar in der Schweiz länger, Veränderungen durchzuziehen, weil die Menschen mehr Zeit brauchen, sich an eine neue Situation zu gewöhnen. Das heisst, Sie müssen als Chef in viel langsameren Schritten stufenweise vorgehen. Wenn die Schweizer sich dann aber an den Gedanken dieser Veränderung gewöhnt haben, geht die Durchführung recht schnell und sie bleiben auch weiterhin treu. Das ist in den USA – um ein extremes Gegenbeispiel zu bringen – ganz anders. Wenn den Mitarbeitenden dort etwas am Change nicht passt, gehen sie sofort. Das bringt  das Unternehmen langfristig gesehen nicht weiter.

Menschen lehnen per Naturell Veränderungen zunächst ab, aus Angst vor dem Unbekannten. Wie gehen Sie als rational denkender Typ mit ängstlichen Menschen um?

Ich selber arbeite bei Stress am besten. Stress ist in meinen Augen eine Form von Angst. Man muss sie nur rational steuern. Wenn Mitarbeitende beginnen, sich in ihren Emotionen einzuigeln und abzuwehren, dann hilft logische Argumentation am besten. Mit Logik lassen sich zukünftige Zusammenhänge am besten erklären. Auf Emotionen gehe ich in solchen Gesprächen nicht ein.

Sie sind seit Januar 2001 in der Schweiz ansässig. Fühlen Sie sich immer noch 100 Prozent als Franzose?

Nein, ich habe mich teilweise den Schweizern angepasst. Ich habe im Gegensatz zu früher heute eine eher mittelfristige Weise zu denken und zu handeln. Vorher war ich kurzfristig orientiert. Ausserdem sind mir zwischenmenschliche Beziehungen wichtiger geworden. Vorher war die Echtheit von Beziehungen keine Priorität, ich pflegte Beziehungen, wenn ich sie brauchte. Mir gefällt in der Schweiz, dass Beziehungen vergleichsweise genuiner sind. 

Woran mag das liegen?

Das liegt in meiner Beobachtung an der Sprache, vor allem im Hochdeutschen. Ich habe mich früher immer gefragt, warum Deutsche so gut zuhören. Es liegt an der Platzierung des Verbs am Ende eines Satzes. Sie sind dadurch gezwungen, länger zuzuhören, denn wenn Sie das Verb nicht haben, ergibt sich kaum ein Sinn.  Die Aussage kann sich vollkommen ändern – allein durch das Verb am Ende. Achten Sie mal darauf. In den romanischen und angelsächsischen Sprachräumen hören sich die Leute nicht immer so aufmerksam zu, sie unterbrechen sich häufiger, weil sie gleich zu Beginn des Satzes wissen, was folgen wird.

Und wie sieht Ihre Beobachtung bei den Schweizern aus?

Wenn Schweizer Mundart reden, sprechen sie sehr oft in einer lateinischen Struktur, das Verb verschwindet sogar. Das ergibt für mich eine Art Zwischenposition. Deshalb denken und verhalten sich Schweizer auch anders, wenn sie Hochdeutsch sprechen.

Wie haben Sie selbst bei Canon Schweiz kommuniziert?

Bei Canon Schweiz wurde zuerst auf Hochdeutsch kommuniziert. Danach wurde sehr viel Englisch eingeführt, weil sich Canon Europa für die Einführung einer Matrixorga-nisation entschieden hatte. Im Matrixunternehmen werden die Entscheidungswege internationaler und damit komplexer. Das Potenzial für interne Konkurrenzkämpfe und Konflikte verstärkt sich zusätzlich dadurch, dass jeder und doch keiner verantwortlich ist. Deshalb nenne ich diese Organisationsform KMSU, das «kommunistische Matrixsystem des Unternehmens» – es ist wie eine Art gesteuertes Chaos.

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Connie Voigt ist 
Executive Coach bei der Firma «Inside Out» sowie Gründerin der Netzwerkorganisation «Interculturalcenter.com GmbH». Zudem ist sie Dozentin für Organizational Behavior an der Edinburgh Business School, FHNW Basel und FU Berlin.

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