«HR-Leute sind oft zu detailverliebt»
Lynda Gratton gilt international als eine der einflussreichsten HR-Vordenkerinnen. Mit HR Today spricht die Professorin der London Business School über Trends, Leadership und den globalen Markt für HR-Top-Talente.

Linda Gratton (Bild: Lukas Kroulik)
Welche Trends prägen die Zukunft der Arbeit und Leadership?
Lynda Gratton: Auf der einen Seite sind da die globalen Trends, wie die zunehmende Konnektivität. Die zunehmende Verbundenheit hat einen grossen Einfluss auf das Leadership. Wenn Angestellte durch Technologie zunehmend enger miteinander verbunden sind, was ist dann die Rolle der Führungskraft? Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie sich Leader verhalten müssen, wenn durch die Digitalisierung alles sichtbar und damit auch Führung transparenter wird.
Wie lauten Ihre Antworten?
Die Herausforderung besteht darin, dass Führungskräfte heute praktisch ständig unter Beobachtung stehen, während sie in der Vergangenheit zwei Rollen spielen konnten: eine in der Leaderrolle und eine ausserhalb der Leaderrolle. Deshalb werden für Führungskräfte Authentizität und die Fähigkeit, zu zeigen, welche Werte man als Persönlichkeit vertritt, immer wichtiger. Sie müssen die ganze Zeit sich selber sein. Denn es wird zunehmend schwieriger, eine Rolle zu spielen. Ausserdem wird Leadership eben auch herausfordernder, weil sich die Angestellten immer mehr vernetzen.
Was sind die Folgen für die Führungskräfte?
Führungskräfte verlieren zunehmend ihr Informationsmonopol. Früher waren sie die Hüter aller relevanten Informationen, die sie nach und nach in die Organisation eintröpfeln lassen konnten. Wenn sich die Informationen jedoch schnell durch eine Organisation bewegen, dann wird die Frage der Zielsetzung immer wichtiger. Deshalb werden für Führungskräfte strategische Fähigkeiten immer wichtiger.
Können Sie diese These an einem Beispiel illustrieren?
Nehmen Sie das Beispiel der Royal Bank of Scotland. Diese Bank verfügte und verfügt noch heute über ein sehr gutes Humankapital. Trotzdem hat der ehemalige Chef Fred Goodwin strategische Fehler gemacht. Diese strategischen Fehler haben viele Werte dieser Firma zerstört. Die Führungskraft muss fähig sein, für die Zukunft strategische Entscheidungen zu treffen, die nicht ins Verderben führen. Dazu gehört auch eine Vorstellung zu haben, wofür die Firma stehen will.
Welche Führungskräfte verkörpern diese Werte?
Ein Leader, den ich eng verfolge, ist Chef einer indischen Beratungsfirma mit rund 280 000 Mitarbeitenden. Ähnlich wie ich verbringt auch er sehr viel Zeit mit Reisen rund um die Welt, wo er nach Trends Ausschau hält. Danach kommt er zurück in die Firma und berichtet, was er gesehen hat. Ich denke, die Fähigkeit, eine externe Sicht auf die Dinge zu haben, ist heute ein sehr wichtiger Teil von Leadership. Ebenso werden klare Werte und Zielsetzungen immer wichtiger.
Zur Person
Prof. Lynda Gratton leitet seit über 20 Jahren das HR-Strategie-Programm an der renommierten London Business School sowie globale Forschungsprojekte zur Zukunft der Arbeit. Die Psychologin ist Begründerin von «Hot Spots Movement», einer Organisation mit über 5000 Mitgliedern, die in Unternehmen die Innovationskraft steigern will. Sie ist Autorin von sieben Bestsellern, die in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Im «HR Top 100 Most Influential»-Ranking des britischen «HR Magazine» wurde sie als zweiteinflussreichste HR-Persönlichkeit eingestuft.
Können Sie Vorzeigebeispiele nennen?
Nehmen Sie Paul Polman, den CEO von Unilever. Er ist sehr zielorientiert. Er sagte einerseits zu den Aktienbörsen, dass er das Wachstum verdoppeln wolle, gleichzeitig sagte er den Angestellten, dass Unilever die CO2-Emissionen um 50 Prozent senken will. Das ist ein gutes Beispiel für eine zielorientierte Führungskraft. Beide Ziele sind natürlich langfristig angelegt, aber er scheint auf dem besten Weg zu sein, diese Ziele zu erreichen. Zusammengefasst würde ich also folgende drei Leadership-Fähigkeiten anführen: Zielorientierung, Authentizität und ein Verständnis für globale Trends.
Worin sehen Sie die Rolle eines HR-Chefs?
Ich reise viel um die Welt und habe dabei Einblick in zahlreiche Firmen. Ich denke, dass der Einfluss der HR-Funktion stark vom CEO abhängig ist. Wenn ein Firmenchef einen HR-Verantwortlichen sucht, der tut, was man ihm sagt, ist es leicht, die Stelle zu besetzen. Wenn der CEO jedoch einen gleichwertigen Partner sucht, mit dem er sich auf Augenhöhe unterhalten kann, dann müssen Sie als HR-Chef etwas zu sagen haben. Traditionellerweise waren Marketing-Chefs bisher oft die besseren Sparringpartner für CEOs, weil diese die Konsumenten besser verstehen als HR-Chefs Angestellte.
Ein hartes Urteil.
Aber es ist so. Wenn Sie als HR-Verantwortlicher die Aufmerksamkeit Ihres CEO haben wollen, dann müssen Sie etwas ähnlich Überzeugendes über ihre Angestellten zu erzählen haben wie der Marketing-Chef über die Konsumenten. Also müssen Sie als HR-Chef etwas von Trends verstehen, Big Data nutzen, um die demografische Entwicklung im Auge zu behalten und die Performance Ihrer Führungskräfte messen können. Wenn Sie nur die Mitarbeiterzufriedenheit erheben, ist das nicht von grossem Interesse.
Sie haben mit Ihren Forschungsprojekten Einblick in viele Weltkonzerne. Welche Firmen haben global betrachtet die besten HR-Abteilungen?
Diese Frage bringt mich in Verlegenheit. Lassen Sie mich folgendermassen antworten: Das HR-Strategie-Programm der London Business School ist die weltweit bestbewertete HR-Ausbildung. Ich leite diesen Studiengang seit 22 Jahren und habe in dieser Zeit über 2000 Abgänger gesehen. Darunter viele Psychologen, Soziologen und immer mehr auch Juristen. Gerade in Kontinentaleuropa steigt die Zahl von HR-Profis mit einem juristischen Background, während in Grossbritannien die meisten aus der Psychologie stammen. Was mir dabei rückblickend auffällt, ist die Tatsache, dass die Herkunft der Teilnehmer zunehmend globaler wurde. Als ich anfangs der 1990er-Jahre die Studienleitung übernahm, waren es vorwiegend Teilnehmer aus Eu-ropa und Nordamerika. Heute haben wir Leute aus Osteuropa, Indien, China und Südamerika sowie immer mehr auch Leute aus arabischen Ländern und Afrika: Beim letzten Lehrgang stammten fünf Teilnehmer aus Nigeria. Der Pool von HR-Top-Talenten für multinationale Konzerne hat sich massiv globalisiert. Eine gute Entwicklung.
Wo orten Sie die grössten Schwierigkeiten beim HR-Topkadernachwuchs?
Das Problem mit HR-Leuten ist oft, dass sie zu detailverliebt sind. Von einem Lehrgang sind vielleicht ein Viertel strategische Denker, die die grösseren Zusammenhänge erkennen. Leute, die viel lesen, sich in Netzwerken über die grossen Fragen austauschen und das Business verstehen. Diese Leute machen den Unterschied.