HR Today Nr. 5/2020: Im Gespräch

«Unzeitgemäss und veraltet»

Er gilt als Rebell der modernen Ökonomie und hat mehrere Bücher über neue Wirtschaftsmodelle geschrieben. Niko Paech erklärt im Interview, woran unsere Bildungssysteme kranken.

Muss Bildung kritisches Denken fördern?

Niko Paech: Sie sollte nicht davor zurückschrecken, auch kulturkritische Perspektiven zu eröffnen. Warum drückt sich das Bildungssystem davor, Fragen zu stellen wie: Was steht dem Individuum an materiellen Freiheiten zu, wenn es innerhalb der ökologischen Grenzen global gerecht zugehen soll? Welche Kompetenzen, Einsichten und welche Ethik braucht es, dass alle Menschen ein Dasein praktizieren können, das mit dem Überdauern der menschlichen Zivilisation vereinbar ist? Wenn Bildung kritisches Denken fördern soll, darf sie nicht nur einseitig gesellschaftliche oder ökonomische Verhältnisse im Blick haben, sondern muss den Lebensstil thematisieren.

Maria Montessori und Rudolf Steiner suchten Anfang des 20. Jahrhunderts nach neuen Lernmethoden, die dem Zeitgeist der Industrialisierung widersprachen und es auch heute noch tun.

Die gelebte Kritik an einer übermässigen Industrialisierung und Globalisierung sowie den Nebenwirkungen einer nicht mehr bändigbaren Digitalisierung ist für die Entwicklung der Gesellschaft essenziell.

Beide bestärken die Selbstbestimmtheit der Schülerinnen und Schüler ...

Die Konzepte von Montessori und Steiner stellen der abstrakten Wissensvermittlung Lernprozesse entgegen, die auf eigener Erfahrung beruhen. Die sinnstiftende Tätigkeit findet um ihrer selbst willen statt, um Erfüllung zu erlangen, statt sich Karriere- und Verwertungszwecken zu unterwerfen. Die vorherrschende Bildungslogik zielt dagegen auf eine technische und ökonomische Einbettung des Menschen. Sie macht Bildung zum Mittel wohlstandsorientierter Selbststeigerung. Montessori und Steiner assoziiere ich eher mit der Maxime «Der Weg ist das Ziel».

Veränderungsbereitschaft wird in Unternehmen gefordert, in Schulen aber selten vermittelt, wie Studien zeigen.

Schulen und Hochschulen trimmen ihre «Insassen» auf Innovations- und Fortschrittsorientierung. So gesehen könnte das vorherrschende System einen Veränderungswillen für sich proklamieren. Allerdings bezieht sich dieser vorwiegend auf die Technik, insbesondere auf die Digitalisierung und eine global entgrenzte Lebensweise. Dahinter verbirgt sich ein struktureller Konservatismus. Dieser gibt sich zwar fortschrittlich, will aber den Steigerungswahn bewahren, indem er diesen auf immer neue Entwicklungsebenen hebt.

Bildung dient also dazu, den Status quo zu ­bewahren?

Das Bildungssystem suggeriert, dass wir alle Herausforderungen durch Fortschritte in der Technik und im Management meistern. Es schürt Allmachtsphantasien. Auf selbstbestimmtes und eigenständiges Lernen zu verzichten ist der Preis dafür, stromlinienförmig und egozentrisch zu werden, um maximale Anerkennungs- und Karriereerfolge zu feiern.

Das gegenwärtige Bildungssystem ist die logische Konsequenz einer digitalisierten Wissensgesellschaft, der die physische und handwerkliche Arbeit ausgegangen ist. Deshalb grassiert die Angst, in einer solchen Ökonomie kein Einkommen mehr zu erzielen – auch wenn es dabei nur um die von David ­Graeber so bezeichneten Bullshit-Jobs geht.

Wie könnte ein neues Bildungsmodell aussehen?

Es kann nur unzeitgemäss und graduell unmodern sein. Handwerk, Kunst, Ernährung, die Eigenversorgung mit Gütern und die Kompetenz, Reparaturen selbst durchzuführen, sind unabdingbar für eine deglobalisierte und wenig technisch aufgerüstete Arbeit. Das setzt viele ausserschulische Lernorte voraus.

Warum sollte das Bildungssystem derart umgestaltet werden?

Das Überleben der Menschen hängt davon ab, ob es zumindest gelingt, den globalisierten und industrieabhängigen Lebensstil zu überwinden. Das setzt voraus, einen Teil der Industrieproduktion durch lokale und regionale Versorgungssys­teme zu ersetzen. Die Letzteren sind arbeitsintensiver, benötigen also handwerkliche Kompetenzen. Hinzu kommt, dass sich das Schrumpfen der Industrie sozial nur über eine Umverteilung der Arbeitszeit abfedern lässt.

Anzupeilen wäre eine Vollbeschäftigung auf Basis einer 20-Stunden-Woche. Die freigestellten 20 Stunden dienen als Ressource, damit sich die Menschen selbst versorgen können. Das bedeutet beispielsweise Dinge zu reparieren oder Nahrung anzubauen. Die Balance zwischen Geldarbeit und ergänzender Eigenversorgung in Netzwerken und Nachbarschaften verhilft Menschen zu einem würdigen Leben mit einem geringeren Einkommen.

Weshalb benötigen wir Kompetenzen wie Kunst, Nahrungsanbau oder Handwerk?

Das aktuelle Bildungssystem beruht auf der Annahme, dass Menschen industriell versorgt werden und sich ihre Kompetenzen auf akademisierten Tätigkeiten beschränken. Alles Produktive wird nach dieser Vision an Maschinen oder global verteilte Arbeitsstätten delegiert. Das Resultat sind Menschen, die abhängig sind von Geld, Technik und Konsum, die nicht mehr fähig sind, ihre Grundbedürfnisse selbst zu befriedigen.

Was aber, wenn die automatisierte und arbeitsteilige Wirtschaft plötzlich kollabiert, wie jetzt durch das Coronavirus? Niemand ist dann mehr in Lage, etwas zu seiner Versorgung beizutragen oder genügsam zu leben.

Braucht es dazu eine Bildungsrevolution?

Den Begriff halte ich für irreführend, weil Revolution nur ein anderes Wort für Fortschrittshoffnung ist. Vermutlich wird nur eine Rückkehr zu bescheideneren Wohlstandserwartungen helfen, mit der eine Bildung vereinbar ist, die sich dem Leistungswahn widersetzt. Solange keine Gegenkultur mit anderen Massstäben für ein gelingendes Leben existiert, wird sich in der Bildung nicht viel verändern.

Der Ruf nach «Arbeitsmarktfähigkeit» ist nicht zu überhören ...

Es geht darum, Menschen mit immer dynamischer werdenden Innovationszyklen zu synchronisieren. Die Anpassung an das System besteht in einer hohen Innovationsbereitschaft, um die Steigerungslogik aufrechtzuerhalten. Der Soziologe Dirk Baecker hat dazu einmal geschrieben: «Wir brauchen Innovationen, damit wir uns nicht ändern müssen.»

Die junge Generation scheint sich nicht mehr in starre Muster pressen lassen zu wollen ...

Hier liegt eine Hoffnung, aber nur, wenn junge Menschen bereit sind, bescheidenere Erwerbsbiographien und Lebensstile zu akzeptieren.

Zur Person

Niko Paech (59) lehrt und forscht an der Universität Siegen in der Pluralen Ökonomik, einer in Frankreich gegründeten Bewegung, die sich den neoklassischen Ökonomiemodellen widersetzt und die Berücksichtigung gesellschaftlicher Kontexte fordert. Im deutschsprachigen Raum hat Paech den Begriff «Postwachstumsökonomie» geprägt und ist ein vehementer Kritiker der gegenwärtigen Wachstumspolitik.

postwachstumsoekonomie.de

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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