Porträt

«Intelligenz ja, aber das i-Tüpfelchen sind Fleiss und Disziplin»

Ein starker Wille, ausgeprägter Ehrgeiz und das Wissen, nie von der Zielgerade abkommen zu dürfen, haben 
Elsbeth Stern dorthin gebracht, wo sie schon als junges Mädchen hinwollte: in die Forschungselite. Heute ist 
sie als angesehene Professorin an der ETH Zürich angekommen.

Hier noch schnell eine E-Mail, dort noch schnell ein Telefonat, dann ist sie aber ganz für den Besuch da. Eine Kanne mit frischem, grünem Tee steht auf dem Tisch. Wer denkt, eine abgehobene Wissenschaftlerin vor sich zu haben, wird gleich eines Besseren belehrt. Offen spricht Elsbeth Stern über sich, ihr Leben und ihre Leidenschaft: Gehirn und Lernen. Die Kognitionsforschung ist seit dem Studium ihr Steckenpferd. Seit mehr als vier Jahren ist die Lehr- und Lernforscherin an der ETH Zürich verantwortlich für die Ausbildung von Gymnasiallehrern. Stern weiss genau, was sie leistet. Sie ist stolz auf ihre Arbeit, das ist spürbar, aber es wirkt in keinster Weise arrogant.

Man kennt die streitbare Professorin spätestens seit Pisa. In die politische Diskussion in Deutschland darüber, wie man den Unterricht an deutschen Schulen verbessern könnte, hat sie sich engagiert eingemischt und gegen so manchen, in ihren Augen, «Hirnforschungsunsinn», angeschrieben. «Lernschwierigkeiten mit dem Gehirn zu erklären, ist, wie wenn man einen Flugzeugabsturz mit der Gravitation erklärt. Nicht falsch, aber man will ja wissen, warum die anderen Flugzeuge oben bleiben», sagt sie bestimmt. Stern findet es nicht seriös, wenn immer mehr Neuroforscher Lehrern erzählen wollen, man könne aus Ergebnissen der Hirnforschung ableiten, wie man in der Schule besser lernt. «Quatsch, was hat der Lehrer davon, wenn ein neuer Neurotransmitter entdeckt wird?»

Bereits in den Jugendjahren auf die akademische Laufbahn hingearbeitet

Seit frühester Jugend ist sie interessiert daran, wie Menschen ticken, warum Menschen tun, was sie tun. Mit dem Numerus-Clausus-Fach Psychologie liebäugelt sie schon als 15-Jährige. Für ein Mädchen, das in der nordhessischen Provinz auf einem Bauernhof aufwächst, liegt dieses akademische Berufsziel nicht gerade auf der Hand. «Ich habe es sehr gut gehabt als Kind, aber für mich war auch klar, dass ich mal anders leben wollte als meine Eltern», sagt Stern. Sie weiss, ohne ein gutes Abi kann sie ihr Ziel nicht erreichen. Die Schule fällt ihr leicht, am Abschluss steht die Abiturnote: sehr gut. «Meine Eltern haben nicht viel eingewirkt, ich wusste ja genau, was ich wollte», erinnert sich die Wissenschaftlerin.

Der Ehrgeiz scheint ihr in die Wiege gelegt zu sein. Doch sie ist keine Streberin, hat auch andere Dinge im Kopf. «Natürlich auch Jungs», lacht sie. Aber Freundschaften spielen nicht die Hauptrolle. Wer in einer nichtakademischen Familie aufwächst, muss sich sehr anstrengen, so ihre Erfahrung, und ihr Ziel, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, muss sie schon das eine oder andere Mal verteidigen. Ihr Einser-Vordiplom an der Universität Marburg öffnet ihr die Tür zur renommierten Universität Hamburg. Einen Tag nach der Diplomprüfung tritt sie ihre Promotionsstelle an.

Beste genetische Voraussetzungen kein Garant für erfolgreiches Lernen

Heute weiss die prominente Lernforscherin, dass man für das Lernen auch gewisse Voraussetzungen mitbringen muss. «Unsere Intelligenz ist zum Zeitpunkt der Befruchtung schon stärker vorprogrammiert, als wir uns gewünscht hätten», sagt sie. «Welche Gene genau für die Intelligenz verantwortlich sind, wissen wir aber noch nicht.» Immer wieder ist Stern erstaunt, wie verbreitet die Meinung bei Lehrern ist, dass alle Kinder gleich zur Welt kämen und alles nur durch die Umwelt geprägt sei. «Von genetischen Unterschieden, die die Intelligenz beeinflussen, wollen sie gar nichts hören. Dafür werde der Einfluss der sozialen Herkunft auf die frühkindliche Entwicklung überschätzt. «Immer noch glauben viele Verantwortliche im Erziehungsbereich, dass in den ersten drei Lebensjahren die Zukunft eines Kindes festgeschrieben wird, und  ziehen sich so aus der Verantwortung.»

Doch auch die besten genetischen Voraussetzungen seien kein Garant für erfolgreiches Lernen. «Diese kann ich nur im akademischen Bereich nutzen, wenn ich gelernt habe. Ohne die I-Tüpfelchen Ehrgeiz und Disziplin geht gar nichts.»

Wenn Hochbegabungen nicht 
erkannt werden

Immer wieder beobachtet Stern, dass überdurchschnittlich begabte Schüler keine guten Schulleistungen bringen. Die Grundschullehrer entdecken manchmal das Potenzial der Kinder nicht. «Es gibt wirklich Fälle», sagt sie, «in denen erst der Gefängnispsychologe später, wenn die Jugendlichen kriminell geworden sind, feststellt, dass eine Hochbegabung vorliegt, die Jugendlichen aber auf der Hauptschule versagten.»

Schon früh treibt Stern die Frage um: Was macht die Menschen aus, die etwas Besonderes geleistet haben? «Erfolgreiche Menschen haben meist eine ganz klare Zielhierarchie, wissen früh, wie das Leben nicht sein soll, und rutschen nicht in Optionen ab, die dem Ziel nicht dienlich sind», meint Stern. «Hätte ich kein gutes Abitur gemacht, hätte ich nicht Psychologie studieren und meinen Traum verwirklichen können. So einfach ist das eigentlich.» Die Fernziele sind für Stern früh klar gesteckt und unverrückbar, in ihren Nahzielen ist sie jedoch flexibel, kann sich auf die jeweiligen Situationen einstellen.

Ihr Vater findet es bedauerlich, dass Elsbeth kein Faible für die Landwirtschaft entwickelt. Was sie daran fasziniert, ist lediglich der betriebswirtschaftliche Aspekt. Der Tag muss exakt organisiert und strukturiert werden. Darin ist Stern heute noch gut. Auch wenn die Stapel Arbeitspapiere, Lektüre und Korrespondenz in ihrem Büro eine andere Sprache sprechen mögen. In puncto Zeitmanagement macht ihr wohl so schnell keiner was vor. Sie hat immer mehrere Pläne gleichzeitig im Kopf. Denn eines hat sie auf dem elterlichen Bauernhof gelernt: Es braucht immer einen Plan B. «Wenn das Wetter nicht mitmacht, kann ich Plan A nicht durchziehen.» Sie habe, sagt sie von sich selbst, immer alles im Blick. «Aber ich lasse die anderen auch machen. Deshalb kann ich auch ganz gut eine wissenschaftliche Gruppe führen», schmunzelt Stern, die 2006 ihr Team aus Berlin nach Zürich mitbrachte, aber jetzt auch Schweizer in ihrem Team hat. In Zürich sei sie nun endlich angekommen. Es sei ein Traumjob mit vielen Freiheiten.

Vorwissen und Lernen hängen 
zusammen

Neun Jahre forscht Stern am Max-Planck-Institut in Berlin intensiv über das Lernen im Grundschulalter. Vor fünf Jahren folgt sie dem Ruf der ETH. Dort wird jemand für die Ausbildung von Gymnasiallehrern gesucht. Und sie deckt die pädagogisch-psychologische Seite perfekt ab. Obwohl ihre Arbeit bis dahin eher auf Grundschulkinder konzentriert war, kann sie die ETH davon überzeugen, dass diese Erfahrung durchaus von Nutzen ist. Wer was und wie lernt, hänge massgeblich vom Vorwissen ab, so ihre Erkenntnis. «Nur wer schon etwas weiss, kann lernen.» So sei es nur logisch, dass der «Unterbau Primarschule» für das weiterführende Lernen am Gymnasium wichtig sei. Wie die ETH ausgerechnet auf sie kam? «Na ja, es war nicht schwer, mich zu finden», lacht sie.

Ihr Standbein in Berlin behält sie zunächst bei, steckt im Privatleben zurück und pendelt die kommenden Monate zwischen Zürich und Berlin. Dort ist ihr Mann, ein Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, noch mit Projekten im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung beschäftigt, die eng mit Elsbeth Sterns Interessen zusammenhängen. In einer Expertise mit dem Titel «Macht Mozart schlau?» wird ein weit verbreiteter Mythos zerstört, wonach Musik eine besondere Bedeutung bei der Intelligenzentwicklung zukommt. Inzwischen hat Sterns Mann in Zürich eine berufliche Perspektive im MINT-Lernzentrum an der ETH gefunden, und es fiel den beiden leicht, ihre Wohnung in Berlin für eine dauerhafte Bleibe in Zürich aufzugeben.

In der Mathematik stellen viele 
Lehrer die falschen Fragen

Aus ihren Forschungen weiss Stern: Intelligenz macht das Lernen leichter, ist aber nicht alles. Diesen ganzen Boom um das Lernen im Vorschulalter unterstützt die Lernforscherin nicht. «Um zu verstehen, was Lesen und Schreiben ist, muss man schon einmal vorgelesen bekommen haben. Kinder sollten das Konzept von Buch und Text haben, müssen aber noch keine Buchstaben lesen können, wenn sie in die Schule kommen. Da sind ja manche Eltern total verrückt. Sollen sie doch ihren Kindern vorlesen und erklären, was ein Buch ist. Wenn die Kinder beginnen, lesen und schreiben zu lernen, knüpfen sie an dieses Wissen an. Kinder sollten Geschichten kennen, sollten gemalt haben, wissen, was Papier und Bleistift sind. Das instruktive Lernen vorzuverlegen, ist nicht sinnvoll», sagt Stern.

Lernen sei die überdauernde Veränderung des Verhaltens in Abhängigkeit von der Erfahrung. «So lernen die Ameise wie auch der Hochschulstudent.» Darüber, was sich im Gehirn beim Lernen abspiele, wisse die Wissenschaft noch zu wenig. «Wir wissen aber auch, dass jemand mit einem nicht funktionierenden Gehirn auch nicht lernen kann.» Für ihre Habilitation am Münchner Max-Planck-Institut über «Die Entwicklung des mathematischen Verständnisses im Kindesalter» löste sie monatelang mit Kindern Rechen- und Textaufgaben und kam zur Erkenntnis, dass viele Kinder im Mathematikunterricht verkümmern, weil Lehrer einfach die falschen Fragen stellen. Dass so viele Schüler Mathematik nicht verstehen, liege oft einfach daran, dass der Lehrer es nicht verstehe, sie gezielt an ihrem Vorwissen abzuholen. «Die Gymnasiallehrer müssen daher genau wissen, was in der Primarschule gemacht wird. Da muss noch viel mehr Austausch passieren.»

Bloss kein «Verwaltungswurm» 
werden

Wenn sie so an ihre eigene Schulzeit denkt, erinnert sich Stern gerne an die Grundschuljahre, die sie in einer kleinen Dorfschule verbringt. Dort werden gezwungenermassen acht Jahrgänge gemeinsam unterrichtet. «Heute nennt man das hochtrabend jahrgangsübergreifenden Unterricht.»

Schon als Schulanfängerin lauscht die kleine Elsbeth gebannt, wie den Grossen Rechnen beigebracht wird. Der Spass daran geht ihr jedoch am Gymnasium schnell verloren. «Die Lehrer machten es so, wie ich heute erkläre, dass man es nicht machen soll. Immer wieder Definitionen und Aufgaben vom gleichen Typ – wer es verstanden hat, lernt nichts dazu, und wer es nicht verstanden hat, hat auch nichts davon.» Ganz anders im Fach Deutsch. Mit tollen Lehrern habe sie gelernt, Texte zu lesen und zu interpretieren, was ihr später beim wissenschaftlichen Arbeiten sehr geholfen habe. Wäre es umgekehrt gewesen, wäre sie vielleicht mit Leidenschaft Naturwissenschaftlerin geworden, sinniert sie. Die Lehrer seien sich nicht immer bewusst, wie sehr sie durch ihre Art des Unterrichts und ihr Verhalten die Weichen im Leben ihrer Schützlinge stellen. Es komme nicht so sehr auf die Methode an, sondern darauf, was in den Schülerköpfen ankommt. Sie will den Lehrern vermitteln: «Ihr macht den Unterschied.»

Und die Schüler müssen verstehen, dass Lernen nicht immer ein Gaudi ist, sondern dass Lehrer auch mal etwas durchdrücken müssen. «In der Schweiz gibt es keinen Numerus Clausus und die Schüler versuchen oft, mit minimalem Aufwand durchzukommen. Da sollten die Lehrer ihre Ziele und Mindestanforderungen klarer kommunizieren.» Und es brauche zudem ein einfaches und klares Prinzip: Mit Strafe könne zwar unerwünschtes Verhalten abgebaut werden, wenn man hingegen den Aufbau von produktivem Lernverhalten fördern wolle, müsse man eine Lernumgebung herstellen, die nicht Flucht- und Vermeidungsverhalten auslöse. Dazu 
gehöre, den Lernenden Kompetenzerleben durch das Erreichen von Etappenzielen zu ermöglichen und ihnen als Lehrperson zu vermitteln, warum der Stoff wichtig sei.

Der eigene Kinderwunsch ist für Stern eher nachgeordnet, und als in ihrem Leben dann Zeit und Platz ist für ein Kind, soll es eben nicht mehr sein. Unglücklich ist Stern darüber nicht. Ihr Leben ist ausgefüllt mit Arbeit und gemeinsamen Freizeitaktivitäten mit ihrem Mann. Ausserdem sind beide sehr reiselustig und haben von der Welt schon einiges gesehen. Auf aufwändige Hobbys hat die engagierte Wissenschaftlerin, die weiss, wie anstrengend Lernen ist, keine Lust. Sie überlegt sich ganz genau, was sich zu lernen lohnt. In der wenigen freien Zeit, die sie hat, will sie machen können, was sie will. Auch das Klavierspielen hat sie vor Jahren aufgegeben, weil das regelmässige Üben nicht in ihren Zeitplan passte. So hat sie auch immer Sport gemacht – ihre Leidenschaft ist das Schwimmen in Seen und im Meer – aber nie im Leben daran gedacht, in einen Wettkampf zu gehen. Sie geht heute regelmässig ins Fitnessstudio, von Trainern und Kursen will sie aber nichts wissen.

Um ihre Forschungen voranzutreiben, ist ihr allerdings keine Anstrengung zu gross. Das Schlimmste für sie wäre, zu einem reinen «Verwaltungswurm» zu werden. Zu viele Fragen will sie noch beantwortet haben. Zum Beispiel, wie sich Intelligenz nun wirklich konkret in Wissen umsetzen lässt. Hierfür möchte sie sich mit den oberen 15 Prozent der Intelligenzskala beschäftigen und herausfinden, unter welchen Voraussetzungen diese Menschen gut lernen – und unter welchen nicht.

20 Sekunden mit Elsbeth Stern

Ein Buch: zuletzt gelesen: «Doppelleben» von Antje Vollmer
Ein Film: «Die letzte Nacht des Boris 
Gruschenko»
Ein Ort: Rügen
Ein Essen: Käsefondue
Ein Motto: Alles hat seine Zeit
Ein Talisman: Mein Laptop

 

Elsbeth Stern

studierte nach dem Abitur 1977 Psychologie in Marburg und Hamburg, wo sie 1986 auch promovierte. Von 1987 bis 1993 war Stern als Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München tätig. 1994 habilitierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und nahm eine Professur für pädagogische Psychologie an der Universität Leipzig an.

Stern ist seit 2006 Professorin für empirische Lehr- und 
Lernforschung an der ETH Zürich und verantwortlich für die 
Ausbildung von Gymnasiallehrern. Zuvor war sie zehn Jahre am Max-Planck-Institut in Berlin tätig. Dort leitete sie unter anderem die Forschungsgruppe ENTERPRISE.

 

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