Interkulturelle Kompetenz: Diese «Ausbildung» ist nie zu Ende
Ratschläge zum korrekten Verhalten in anderen Kulturen gibt es massenweise, und solcherlei Kulturknigge lässt sich auch relativ einfach erlernen. Für eine echte interkulturelle Kompetenz braucht es aber mehr.
Interkulturelle Kompetenz: Wissen allein genügt nicht, es braucht auch Erfahrung. (Foto: iStockphoto)
Neugierig, offen für Neues und Anderes, selbstkritisch: Das sind klassische Eigenschaften, die man besitzen sollte, sofern man sich interkulturelle Kompetenz aneignen will. Doch was braucht es in der Praxis ganz konkret? Welche Fähigkeiten rund um die interkulturelle Kompetenz lassen sich erlernen und welche eben nicht?
Sicher ist, dass sich die Welt nicht in Schwarz und Weiss unterteilen lässt: also hier die einen, die mit anderen Kulturen gut zurechtkommen, und dort die anderen, denen das nicht gelingt und die daher im Ausland auf verlorenem Posten sind. Samuel van den Bergh, Professor für interkulturelles Management und interkulturelle Kompetenz an der ZHAW, beobachtet zum Beispiel immer wieder den Fall, dass Menschen jahre- oder gar jahrzehntelang im Ausland leben und arbeiten, dass sie also vordergründig mit der anderen Kultur gut zurechtkommen und dennoch steckenbleiben: «Statt vom ‹Fremden› zu lernen, verstärken diese Personen ihre Stereotype über die Menschen der anderen Kultur, sind sehr wertend, ziehen sogar über diese her.»
Unsicherheitsresistenz: ruhig bleiben auch in unklaren Situationen
Die Gefahr des Steckenbleibens in Stereotypen ortet Samuel van den Bergh vor allem bei Menschen, die nicht unsicherheitsresis tent sind. Unsicherheitsresistenz ist die Fähigkeit, ruhig und locker zu bleiben, wenn etwas anders als erwartet läuft, wenn eine komplexe Situation eintritt, in der man nicht sofort weiss, wie man reagieren soll. «Unsicherheitsresistente Menschen finden solche Situationen spannend und schauen, welche Möglichkeiten sie haben», so van den Bergh. «Wer diese Fähigkeit hingegen nicht hat, wird sich innerlich versteifen oder verschliessen, wenn er merkt, dass ihm ein Chinese nicht die Wahrheit sagt, anstatt sich zu fragen, ob vielleicht seine eigene Kommunikation für den Chinesen einfach zu direkt war, sodass diesem gar keine andere Reaktionsmöglichkeit blieb.»
Ebenfalls wichtig ist die Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, zuzulassen, dass es in einer Situation mehrere Handlungsmöglichkeiten gibt, dass ein Ziel immer auf mehreren Wegen erreicht werden kann.
Sind diese beiden Kompetenzen nicht vorhanden, so ist es gemäss Samuel van den Bergh schwierig, bei einem Menschen die Lernbereitschaft zu erreichen, die andere Kultur wirklich verstehen zu wollen.
Korruption oder familiäre Verantwortung?
Der Experte zählt fünf Punkte auf, die nötig sind, um zu einer echten interkulturellen Kompetenz zu kommen: 1. die Unterschiede überhaupt erkennen; 2. diese respektieren, also auch Vor- und Nachteile von den unterschiedlichen Handlungsweisen sehen; 3. erkennen, dass sich die Unterschiede ergänzen; 4. Lösungen suchen, die für alle gewinnbringend sind, und diese auch anwenden; 5. diese Kompetenz persönlich und/oder innerhalb der Firma verwurzeln, sie wirklich leben.
Laut Samuel van den Bergh nimmt die Anzahl der Leute mit interkultureller Kompetenz zu: «Viele Firmen senden nicht nur Leute ins Ausland, sondern vereinen auch hier in der Schweiz unter ihren Dächern immer mehr unterschiedliche Kulturen. Auch bewirkt die zunehmende Komplexität unserer Arbeitswelt, dass es immer mehr Leute gibt, die sich in verschiedenen Kontexten bewegen können. Und schliesslich hat gemäss Bundesamt für Statistik inzwischen ein Drittel der jungen Leute einen Migrationshintergrund. Sofern sich diese nicht zerrissen fühlen zwischen zwei oder mehreren Kulturen, nützt ihnen ihr Hintergrund im Sinne der interkulturellen Kompetenz.»
Samuel van den Bergh führt mit seiner eigenen Beratungsfirma van den Bergh Thiagi Associates GmbH Seminare durch, so auch im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Sein viertägiges Seminar «Interkulturelle Kompetenz» besuchen dort Diplomaten und Mitarbeitende des konsularischen Dienstes. Christian Wymann, Chef Aus- und Weiterbildung des EDA: «Für interkulturelle Kompetenz braucht es immer sowohl Wissen als auch Erfahrung.» Wenn also zum Beispiel operatives Personal – ein Hausmeister oder eine konsularische Sachbearbeiterin – schon jahrelang in anderen Ländern lebt und dabei viel Erfahrung im Umgang mit deren Kultur gesammelt hat, aber nicht über Instrumente verfügt, um diese auch zu reflektieren, so kann daraus keine echte interkulturelle Kompetenz entstehen. Genauso wenig kann man erwarten, dass eine junge Akademikerin, die diverse Instrumente und Modelle kennt, aber kaum über Erfahrung verfügt, mit dem Personal und dem Umfeld einer lokalen Vertretung konstruktiv umgehen kann.
Fehlt die Erfahrung oder das Wissen, kann es laut Christian Wymann zu ungünstigen Verhaltensmustern kommen, etwa zum Fatalismus – «Ich lasse das alles einfach über mich ergehen» – oder zur Minimisierung, also zur Haltung: «Ich traue mir zu, an alle Kulturen anzuknüpfen, so gross sind die Unterschiede ja auch wieder nicht.»
Dass solche Unterschätzungen sogar gefährlich sein können, illustriert Wymann mit einem fiktiven Beispiel: «Wenn man in einer kollektivistischen Gesellschaft – etwa in Afrika – eine Person wegen Korruption entlassen muss, kann das zu grossen Spannungen führen. Denn was wir als korrupt ansehen, bedeutet in der Kultur dieser Person vielleicht schlicht, für den familiären Zusammenhalt zu sorgen.» Interkulturelle Kompetenz solle aber nicht nur solche Situationen verhindern, sondern die Leute dazu befähigen, vorhandene Differenzen positiv zu nutzen.
Welche Aspekte der interkulturellen Kompetenz lassen sich einfacher, welche schwieriger vermitteln? Kommunikationsübungen, zum Beispiel zur direkten/indirekten Kommunikation, sind gemäss Christian Wymann relativ einfach. Komplexer wird es beim Thema Werteorientierungen. Auch das Thema Diversität in der Schweiz brauche Zeit, weil die Seminarteilnehmenden meist glauben, dass sie hier bereits das nötige Verständnis hätten.
Sowohl Wymann als auch van den Bergh warnen vor den klassischen Dos and Don’ts, dem üblichen Kulturknigge. «Natürlich ist es sinnvoll, gewisse Verhaltensregeln zu kennen», so van den Bergh. Doch nachhaltig sei dies nicht, denn: «Die klassische Ratgeberliteratur lässt einen glauben, man habe nun alles gelernt. Damit wiegt man sich in falscher Sicherheit.» Wymanns Fazit ist denn auch, dass sich interkulturelle Kompetenz weder leicht noch schnell lernen lässt: «Man kann auch nach 25 Jahren Auslandserfahrung immer wieder neue Dinge lernen.»