Salärsysteme

Ist die Erfahrung älterer Mitarbeitender wirklich höhere Löhne wert?

Ältere Arbeitnehmer verdienen mehr als ihre jungen Kollegen. Diese Regel wurde in der Wirtschaft bisher kaum in Frage gestellt. Doch der demografische Wandel schafft andere Realitäten. Müssen sich die Unternehmen aufgrund der anteilsmässig immer älter werdenden Belegschaften vom Senioritätsprinzip ihres Salärsystems verabschieden?

Ein 31-jähriger Deutscher klagte vor dem Arbeitsgericht Marburg. Er war in seinem Unternehmen aus Versehen in die Gehaltsklasse der 45-Jährigen gerutscht und verdiente entsprechend mehr. Der Arbeitgeber bemerkte die falsche Einstufung und verlangte den zu viel gezahlten Lohn zurück.

Der Arbeitnehmer klagte auf Gleichbehandlung. Das deutsche Gericht gab dem Arbeitgeber Recht; das Urteil war eindeutig: Ältere Arbeitnehmer dürfen mehr verdienen als ihre jüngeren Kollegen. Wie das Internetportal «Daily Paragraph»(1) berichtet, liege in diesem Fall kein Verstoss gegen die Gleichbehandlung vor. Hierfür gebe es zwei Gründe: Erstens haben ältere Arbeitnehmer mehr Erfahrung. Diese dürfen Arbeitgeber mit einem Lohnzuschuss belohnen. Als zweites Argument für den Lohnunterschied spricht laut Arbeitsgericht Marburg ein sozialer Rechtfertigungsgrund: Ältere Arbeitnehmer haben meist Familie und müssen entsprechend höhere Kosten stemmen als ihre jüngeren Kollegen.

«Dies ist grundsätzlich richtig», meint Ruth Derrer vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. Doch nicht in jedem Fall sei es gerechtfertigt, bis zum Ende des Berufslebens nur aufgrund des Alters eine Lohnerhöhung zu erhalten. Dass Erfahrung bezahlt werden muss, sei auch eine gesellschaftspolitische Frage. «Das Bild des 50-jährigen Mitarbeiters, der jedes Jahr mehr Lohn bekommt, ist stärker in unseren Köpfen verankert, als wir vielleicht wahrhaben wollen.» Da dies gemeinhin auch anerkannt werde, handelten Unternehmen dementsprechend, auch wenn sie dies zunehmend hinterfragen möchten.

Verantwortung gegenüber älteren Mitarbeitern ist wahrnehmbar

Die Babyboomergeneration kommt in die Jahre. Die «Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2005–2050» des Bundesamtes für Statistik prognostizieren die Alterung der Erwerbsbevölkerung in der Schweiz. Der Anteil der über 50-jährigen Erwerbspersonen von heute einem Viertel wird bis Mitte des Jahrhunderts auf ein Drittel ansteigen. Der demografische Wandel kann Auswirkungen auf verschiedene Bereiche im Unternehmen haben, so auch auf die Vergütungspolitik. Sie zielt auf die Umsetzung der Unternehmensstrategie und dient der Erfolgs- und Leistungsorientierung der Mitarbeiter.

Doch wie lässt sich die Leistung Älterer einordnen? Die Entwicklung könnte in der Zukunft zu immer weniger geistig und körperlich aktiven Mitarbeitern führen. Durch die steigende Lebenserwartung wird auch das Sozialsystem enorm gefordert sein. Je nach Pensionskassensystem zahlt die Firma auch mehr Beiträge für die älteren Mitarbeiter. Ein Bruttolohn von CHF 100 000 eines 50-Jährigen kommt in diesem Fall die Firma teurer zu stehen als der gleiche Lohn für einen 30-Jährigen. Eine Angleichung sei möglich, so Derrer, indem die Nebenkosten des Unternehmens berücksichtigt würden, was einen höheren Bruttolohn für den Jüngeren zur Folge hätte. «Unterm Strich haben beide den gleichen Lohn, nur bei dem Älteren geht davon mehr in die Pensionskasse.»

Diese Diskussionen seien bisher nicht wirklich bei den Unternehmen angekommen, müssten aber im Hinblick auf den demografischen Wandel früher oder später geführt werden. Grundsätzlich beobachtet Derrer, dass die Arbeitgeber in der Schweiz sich ihrer Verantwortung den älteren Mitarbeitern gegenüber wohl bewusst sind und diese nicht ohne Not auf die Strasse setzen. Das könne man schon daran sehen, dass die Arbeitslosenquote bei den Jüngeren wesentlich höher sei als bei Älteren. Die älteren Mitarbeiter in den Betrieben zu halten, geschieht jedoch nicht ganz uneigennützig. Seit der grossen Frühpensionierungswelle in den Neunzigerjahren ist man sich bewusst, dass man mit den älteren Mitarbeitern auch das Know-how vor die Tür stellt. «Einige Mitarbeiter wurden sogar zurückgeholt», weiss Derrer.

Es gibt bestimmte Tätigkeiten, die Kraft und Ausdauer erfordern, in denen jüngere Mitarbeiter eingesetzt werden, und Tätigkeiten, für deren erfolgreiche Ausübung Erfahrung eine entscheidende Rolle spielt. Wenn in Zukunft wegen der demografischen Veränderung vermehrt ältere Mitarbeiter in den «jüngeren» Stellen eingesetzt werden müssten, müssten die Unternehmen umdenken. Jährliche Lohnerhöhungen bis zum Rentenalter seien dann nicht mehr finanzierbar. Es könnten stattdessen Einmalzulagen gewährt werden, die nicht in den Lohn eingebaut, sondern situationsbedingt gezahlt würden. Derrer ist der Meinung, dass Wissen und Erfahrung in Zukunft neu bewertet werden müssten. «Aber nicht morgen; man wird sich langsam und von Branche zu Branche unterschiedlich mit dieser Frage auseinandersetzen.»

Keine Rechtfertigung für höheren Lohn für mehr Erfahrung

Für die Lohnbemessung ist zunächst ausschlaggebend, um welche Art der Tätigkeit es sich handelt, welche Anforderungen und Belastungen sie beinhaltet, und nicht die Person, die sie ausübt. Daher gilt der Grundsatz «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit». Auf diesen Grundlohn werden dann in der Regel personenbezogene Lohnanteile gepackt. «Leistung, Alter und Erfahrung sind hier die häufigsten Aspekte», sagt Arbeitspsychologe Dr. Christian P. Katz. Die Frage sei, worauf sich die Leistung gründe, die ein Arbeitgeber erwartet. Könne man sagen, je älter eine Person ist, desto mehr leiste sie? Oder eben gerade nicht? Könne man sagen, eine Person leiste mehr nur aufgrund von Erfahrung? In der Regel wird die Verknüpfung gemacht: mehr Erfahrung gleich höheres Gehalt. Wenn zwei Personen die gleiche Tätigkeit ausüben, wird vermutlich die ältere mehr verdienen. Diese Tendenz kann Katz aus arbeitswissenschaftlicher Sicht nicht rechtfertigen. Es gibt zwar Tätigkeiten, die mit mehr Erfahrung besser auszuüben sind. «Ab einem gewissen Alter, so ab Mitte 50, müsse der Lohn eigentlich nicht mehr steigen, weil die Leistung vielleicht auch nicht mehr steigt», meint Katz.

Viele Firmen seien durchaus auch dieser Meinung, in der Praxis gebe es dennoch eine Korrelation zwischen Alter und Lohn. Hinzu komme, dass es in den wenigsten Firmen eine öffentliche Lohndiskussion gebe und die Gehaltsstrukturen nicht immer logisch seien. Katz berät Unternehmen beim Einsatz von Leistungsbewertungs- und Salärsystemen. Er propagiert eine grössere Transparenz des Lohnsystems, zumindest bezogen auf die Grundlöhne. «Das ist aber auch immer eine Frage der Unternehmenskultur.» Die Firmen, die mit Lohntransparenz arbeiteten, hätten gute Erfahrungen damit gemacht. Unter Umständen mache es Sinn, die Ressource älterer Mitarbeiter ganz neu zu bewerten und grundsätzlich die Proportionen zwischen den tätigkeitsbezogenen Grundlöhnen und den maximalen individuellen Anteilen festzulegen.

Für Professor Wolfgang Habelt von der Hochschule München geht es gar nicht so sehr um die Frage jung oder alt. «Es geht um die besten Talente.» Der Wirtschaftswissenschafter forscht unter anderem auf dem Gebiet der fairen Leistungsbewertung. Weil die besten Qualifikationen und Kompetenzen im Vordergrund stünden, gebe es unter dieser Ausrichtung natürlich auch Wettbewerbe zwischen den Beteiligten im Unternehmen. Hier stelle sich die Frage, wer diesen Druck überlebt, den die Unternehmen ausüben. Sie sind bestrebt, immer mehr Mitarbeiter mit höherwertigen Bildungstiteln und einem grösseren Umfang an Kompetenzen und Qualifikationen, aber auch persönliche Merkmale wie Flexibilität und Eigeninitiative herbeizubringen. Die Qualifikationen der Mitarbeiter werden wie eine «Kompetenzaktie» (steigend oder fallend) bewertet. In dem Wettbewerbsfeld zeigt sich, dass Mitarbeiter, die hohe Leistung bringen, auch Zugang zu den zusätzlichen Anreizen im Lohnsystem haben.

Im Rahmen seiner Forschungsarbeit beobachtet Habelt, dass Unternehmen dazu neigen, die teuren älteren Mitarbeiter abzubauen. Grund: Jüngere Mitarbeiter haben in der Regel einen höheren Leistungs- und Karrierewillen. «Wenn Mitarbeiter bis 63 bleiben können, spielt nicht nur die Erfahrung eine Rolle, sondern auch die Karriere, die sie hinter sich gebracht haben», erklärt Habelt. Damit hätten sie in aller Regel auch ein Netzwerk, das sie (ab 50) stabilisiere. Wenn die älteren Mitarbeiter auf der politischen Schiene jedoch in der Karriere nicht weiterkommen, werden sie ab Mitte 50 schnell von den jüngeren eingeholt. «Wer in der Firma keine Karriere nach oben durchlaufen hat, steht ab Mitte 40 in der Konkurrenz mit den jüngeren Kollegen.» Wie hart der Wettbewerb ist, hänge auch von der Hierarchiestufe ab. Um in einem gewissen Alter für das Unternehmen unabkömmlich zu sein, müssen Mitarbeiter eine bestimmte Management- oder Führungsebene erreicht haben. «Sind sie in einem ‹normalen Job› tätig, wird man sich eher von ihnen trennen, weil sie zu teuer sind», so Habelt.

Ältere gelten als teuer, weniger mobil und weniger innovativ

Die kleinen und mittelständischen Firmen seien den älteren Mitarbeitern gegenüber noch loyaler. Dass Mitarbeiter 10 oder 20 Jahre in einem Unternehmen arbeiten, sieht Habelt in Grossstädten oder bei grossen Unternehmen nur noch vereinzelt. «Unternehmen tauschen schneller und ohne konjunkturelle Notwendigkeit ältere Mitarbeiter gegen jüngere aus.» Laut Habelt wird die Formel «Je älter, desto mehr Lohn» bereits ein Stück weit aufgelöst. Auch jüngere Mitarbeiter würden heute relativ schnell gut entlöhnt. Um den demografischen Wandel zu umgehen, deckten die Unternehmen ihren Bedarf an jungen Leistungsträgern vermehrt aus anderen europäischen Ländern. «Wir stellen fest, dass die Unternehmen ihre Personalpolitik insoweit verändern, dass sie eine schnelle Bereitschaft haben, auch Personal aus anderen Ländern aufzunehmen.» Im Moment werden ältere Mitarbeiter als teuer, als weniger mobil und weniger innovativ eingestuft. Es geht daher auch um eine faire Leistungsbewertung der älteren Mitarbeiter im Hinblick auf die Jungen, die neu hinzukommen. Ziel der Unternehmen ist die Effizienzideologie der Neunzigerjahre. «Wenn die Unternehmen sich fit machen, dann geschieht das immer auf Kosten der Arbeitnehmerschaft.»

Im Schnitt, so Habelt, bauten die Unternehmen in Deutschland pro Jahr 1,1 Prozent Mitarbeiter ab, gleichzeitig verzeichneten sie ein Umsatzwachstum von 5,4 Prozent. Auf 10 Jahre gerechnet macht dies 10 Prozent weniger Personal mit über 50 Prozent mehr Umsatz. Um Leistungsträger fair zu entlöhnen, wird das «Kompetenzmodell» eingesetzt, anhand dessen das Unternehmen, aber auch jeder Mitarbeiter selbst das Leistungsvermögen einschätzen kann. Dadurch ist es möglich, dass jüngere Mitarbeiter nach der Einstiegsphase von rund zwei Jahren relativ schnell nach vorne kommen. Dennoch: Heutige Salärsysteme funktionieren vielfach nach dem Senioritätsprinzip. Dieses ermöglicht zwar jedem Mitarbeiter im Laufe der Jahre einen Aufstieg, aber: «Fachliche Erfahrungen werden vielfach nicht bemessen», erklärt Habelt.

Was bewertet wird, sind politische Loyalität sowie «Ungefährlichkeit und Berechenbarkeit» für die Führungskraft. Dies zähle besonders in den oberen Instanzen. Haben ältere Mitarbeiter diese Positionen erklommen, schützen sie sich gegenseitig. «Im Grunde entscheiden diese Personen wieder über das Gehalt der Mitarbeiter. Das sehe ich nicht als ein faires Salärsystem», mein Habelt. Zunehmend erfolge die Karriereentwicklung nicht mehr über das Dienstalter und klassische Hierarchieebenen. Vielmehr seien monetäre Entgeltkarrieren über Leistungsbewertungssysteme entscheidend. Eine Entgeltkarriere können nur diejenigen durchlaufen, die sich den Zielvereinbarungen und den jährlichen Bewertungsgesprächen stellen, egal ob jung oder alt.

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