Strategie

«Jeder Mitarbeiter hat Talente»

Für Rolf Wunderer, Buchautor, Berater und bis 2001 ordentlicher Professor für Führung und Personalmanagement an der Universität St.Gallen, ist klar: Effektives Talent Management muss alle Mitarbeitenden umfassen.

Talent Management ist bei vielen Unternehmen hoch im Kurs. Doch was heisst eigentlich Talent? Und wer hat Talent?

Rolf Wunderer: Das Wort «Talent» kommt von einem alten Gewichtsmass, dem Talent, das später auch zur Geldeinheit wurde. Insofern ist das Talent eine gewichtige und wertvolle Begabung. Dabei kann es sich um psychische und physische Dispositionen handeln. Talent hat nicht primär mit Fachwissen zu tun; das wäre lediglich ein Skill. Individuelles Talent beruht sehr stark auf meist früh geprägter und erkennbarer Begabung, auf Erfahrung und implizitem Wissen. Und ganz wichtig: Jeder Mitarbeiter hat Talente. Diese müssen richtig eingesetzt und gefördert werden.

Dann sollte Talent Management nicht nur für eine kleine Elite betrieben werden, sondern für alle Mitarbeitenden im Betrieb?

Ja, man muss bei möglichst vielen Mitarbeitern damit ansetzen – das beginnt bei Pförtnern und Telefonistinnen als oft erste Kontaktpersonen und Kulturvermittler. Daher bin ich ein Anhänger der individualisierten Talentförderung und -führung. Leider hapert es in diesem Bereich bei vielen Vorgesetzten, dies zeigen zahlreiche Mitarbeiterbefragungen. Dort lautet das Ergebnis oft: «Mein Chef kümmert sich kaum um meine Entwicklung oder meine Motivation.»

Talent Management ist auch keine Neuerfindung: Es heisst ganz einfach, sich um die humanen Ressourcen im Unternehmen zu kümmern. Und zwar ganzheitlich.

Was meinen Sie mit ganzheitlich?

Es handelt sich eben nicht nur um 
Personalentwicklung oder die Kaderförderung. Effektives Talent Management 
beginnt damit, dass sich die Unternehmensleitung Gedanken darüber macht, welche Anforderungen das Unternehmen an einen Mitarbeiter stellt, wie man diese Leute dann für sich gewinnen und im richtigen Job einsetzen kann. Zentral ist das Halten der guten Leute. Und einer der wichtigsten Aspekte ist heute, die Demotivation von Talenten zu vermeiden, dies durch Erkennen und Vermeiden von Motivationsbarrieren und individualisierte Führung.

Wie führt man die Mitarbeitenden denn individuell?

Führen muss man immer unter zwei Aspekten. Der eine ist die strukturelle Führung; dazu zählt insbesondere die Talentkultur und -strategie. Sie wird in Werten, Zielen und Leitlinien definiert. Der andere Aspekt ist die direkte oder die interaktive Führung, wie also zum Beispiel die Vorgesetzten ihre Mitarbeitenden coachen, Mentoring betreiben und sich auch führen lassen. Dies on the job, near the job, off the job oder into the job.

Die Führung ist beim internen Talent Management so wichtig, weil da auch die Vorbildfunktion spielt. Nicht nur junge Leute berichten, dass sie durch Vorbilder gelernt haben, vor allem im Bereich des impliziten Wissens und Verhaltens.

Talent Management hat also viel mit menschlicher Interaktion zu tun?

Ja. Aber die strukturelle Seite gehört genauso dazu. Sie fördert firmentypische Werthaltungen, akzeptiert auch die persönlichen und vermittelt sowohl Unternehmens- wie auch Teamstrategie für die verschiedenen Talente verständlich und motivierend.

Können grosse Firmen überhaupt ein individualisiertes Talent Management leben?

Ja, aber nur wenn die strukturelle und die individualisierte Führung in einem für die Firma idealen Verhältnis zueinander stehen. Gerade bei Grosskonzernen besteht die Gefahr, dass sie sich zu stark auf die strukturellen Aspekte konzentrieren. Dagegen neigen die kleinen Firmen dazu, sich zu ihrer Talentstrategie oder -kultur zu wenige strukturelle Gedanken zu machen. In diesen gibt es zum Beispiel oft keine Mitarbeitergespräche, weil der Chef denkt, er sehe die Leute doch sowieso jeden Tag.
Genau wie bei den Produkten lassen sich in grösseren Firmen auch beim Talent Management Portfolios bilden, solche für die gesamte Firma und darauf abgestimmt für die Individuen über Qualifikation und Motivation. Talent Management verbindet immer verschiedene Aspekte, beispielsweise individuelle Anforderungen mit kollektiven, Motivation mit Qualifikation oder kurzfristig mit langfristig. Es gibt hier kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Jede Firma muss ihren Mix selber finden. Für die generalisierten Prozesse ist die HR-Abteilung zuständig. Diese dann auf individualisierte Massnahmen zu übertragen, ist die Aufgabe der Linie.

Talent Management ist also eine Führungsaufgabe – warum kümmert das so wenige Chefs?

Das ist eine gute Frage. Mein Kollege Professor Dubs hat in einem kürzlich publizierten Beitrag ermittelt, dass sich Verwaltungsräte lediglich in 2 bis 7 Prozent ihrer Diskussionen mit Personalpolitik befassen (in: Wunderer, Hrsg., «Corporate Governance», 2008, S. 11). Das ist wenig in der Dienstleistungsgesellschaft! In grösseren Unternehmen will man immer noch primär über Systeme, Strukturen und Prozesse führen. Doch gerade, wenn es um Menschen geht, schätzen diese besonders die individuelle Führung.

Talent Management scheint eine nachhaltige Sache zu sein. Ist erfolgreiches Talent Management in der vom Quartalsdenken geprägten Zeit noch möglich?

Nur begrenzt. In den Firmen, in denen die oberen Führungskräfte dauernd wechseln, ist konstantes Talent Management erschwert und sehr volatil. Ausser man hat einen Mittelbau, der sich talentiert an neue Begebenheiten anpasst und trotzdem Kurs hält.

Gibt es eine goldene Regel, wie viele Mitarbeitende intern gefördert und wie viele von aussen geholt werden sollen?

Eine Zahl zu nennen, ist unmöglich. Das hängt schon von der Situation ab, in der eine Firma steckt. In Hightechunternehmen, die von ständigen Neuentwicklungen leben, braucht es andere Mitarbeiterkompetenzen als in statischeren Branchen. Gute Unterstützung gibt ihnen dabei die erwähnte Portfoliostrategie. Dazu braucht ein Unternehmen zuerst ein Unternehmensportfolio. Darin muss dann auf die Schlüsselkompetenzen geachtet und gefragt werden: Welche brauche ich, welche Mitarbeiter habe ich? Kann ich daraus die benötigten Talente einsetzen und fördern oder muss ich auch extern suchen? Zudem braucht es eine Talent-Management-Kultur mit nachhaltigen Konzepten, wie Mentoring, Coaching, Mitarbeitergesprächen und implizitem Vorleben.

Dann braucht es für ein effektives Talent Management also Vorbilder?

Ja, aber die muss man nicht gänzlich imitieren. Wilhelm Busch reimte dazu: «Wie er sich räuspert, wie er spuckt, das hat er ihm trefflich abgeguckt.» Es geht vielmehr um spezielle Kompetenzen, wie die pädagogische Begabung oder der soziale Umgang.

Ein guter Vorgesetzter ist Mentor, Coach und Talentförderer. Steht das nicht im 
Gegensatz zu heutigen Managern, die nur ihren eigenen Gewinn, sprich ihre eigene Karriere maximieren wollen?

Das ist ein echtes Problem. Die Chefs sind daran nicht alleine schuld. Denn ihre Managementpositionen werden fortlaufend verdichtet. Wie wollen sie 70 seriöse Mitarbeitergespräche führen – wie ich das kürzlich in einem Grossbetrieb erfuhr – und daneben noch das Kerngeschäft optimal erfüllen?

Dann steht es also in Zukunft um das Talent Management nicht gut bestellt?

Im Gegenteil: Es wird sich verbessern. Denn der stärkste Impuls geht immer von Angebot und Nachfrage aus. Da beispielsweise im Arbeitsmarkt die Nachfrage nach unternehmerisch denkenden und handelnden Mitarbeitern ständig steigt, muss man dem Talent Management künftig mehr Rechnung tragen. Denn in einer Dienstleistungsgesellschaft können Unternehmen nur mehr Wertschöpfung erzielen, wenn es ihnen gelingt, genügend talentierte Mitarbeiter zu gewinnen, sie adäquat einzusetzen und sie dann noch halten zu können. Sonst droht der Firma eine Übernahme oder sogar das Aus.

Im Teamsport beschäftigt beispielsweise jeder grössere Fussballclub einen Scout, der sich um die Talentsuche kümmert – gerade auch um den Nachwuchs. Das ist dann eine langfristige Aufgabe. Und je nach Situation und wechselnder Strategie justiert der Talent Scout die Mannschaft von Saison zu Saison.

Das heisst, Firmen sollten Talent Scouts einsetzen?

Ja, entweder fest angestellt oder zusätzlich als externe Talentsucher. Scouts sollten aber unbedingt Pfadfinder sein, die sich auch im Unternehmen auskennen, Führungserfahrung haben und nicht nur hündisch apportieren – zum Beispiel durch Abwerbung. Und sie müssen sowohl die Werte der Firma als auch die Strategie verkörpern und über ein empathisches Talent für Menschen verfügen. Daneben sollten sie die Anforderungen an die zu besetzenden Jobs auch mit implizitem Wissen kennen. Das ist im Fussball mit relativ wenigen Positionen noch einfacher, aber auch dort schon schwer genug.

Der Interviewpartner

Professor Rolf Wunderer studierte in 
München Psychologie und Betriebswirtschaft. 1983 übernahm er das Ordinariat für BWL, insbesondere Führung und Personalmanagement, an der Universität 
St. Gallen. Bis zu seiner Emeritierung im 2001 gründete und leitete er das Institut für Führung und Personalmanagement. Noch heute forscht, berät und lehrt er in den Bereichen Führung, Personal- und Organisationsentwicklung, Personalmanagement sowie neuerdings zu «Management und Märchen». Wunderer ist Autor und Herausgeber bekannter Fachbücher, zum Beispiel «Führung und Zusammenarbeit», 7. Aufl., Köln 2007, «Der gestiefelte Kater als Unternehmer – Lehren aus 
Management und Märchen», Wiesbaden 2008; «Corporate Governance – personale und soziale Aspekte», Köln 2008.

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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