«Jemand, der sich als Objekt behandelt fühlt, entfaltet seine Potenziale nicht»
Der Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, was es braucht, damit die Mitarbeitenden sich am Sonntagabend freuen, am Montag wieder in die Firma gehen zu können.
Herr Hüther, Sie beraten die deutsche Bundeskanzlerin, sprechen auf Unternehmenskongressen und haben gerade das Buch «Alle Kinder sind hochbegabt» veröffentlicht. Wie kommt es, dass Sie als Hirnforscher zu so vielen gesellschaftlichen Themen angehört werden?
Gerald Hüther: Die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen, dass Beziehungserfahrungen, die man mit anderen Menschen macht, sich in Form neuronaler Netzwerke verankern. Das soziale Umfeld des Menschen formt also sein Hirn. Die wichtigsten Ebenen sozialer Beziehungen sind neben der Familie das Bildungssystem und das Arbeitsleben. Hier findet man leider manches Hirn, das sich nur zu einer Kümmerversion dessen, was es sein könnte, herangebildet hat. Das ist nicht nur schade für den einzelnen Mitarbeiter, sondern auch für das ganze Unternehmen. Denn hier geht sehr viel Potenzial verloren.
Was kann die Hirnforschung den Unternehmen denn Neues vermitteln?
Dass Menschen über grössere Potenziale verfügen, als sie bisher entwickeln, und dass neuronale Verknüpfungen bis ins hohe Alter umgelernt werden können, wenn ein Mensch die Veranlassung dazu hat. Früher wurden Menschen mit Dressurmethoden belohnt oder bestraft, um ein bestimmtes Verhalten zu erreichen. Heute wissen wir, dass dadurch Verhaltensweisen entstehen, die nicht in der Persönlichkeit des Menschen verankert sind. Darum müssen wir ihnen Gelegenheit geben, zu erfahren, dass viel mehr in ihnen steckt, als das, was sie tagtäglich machen.
Wie kann das gelingen?
Führungskräfte müssten Menschen einladen, ermutigen und inspirieren. Es ist eine hohe Kunst, andere so zu führen, dass sie bereit sind, noch mal eine neue Erfahrung mit sich, der Firma oder der Welt zu machen.
Worauf kommt es heute bei einer Führungskraft an und warum ist aus Ihrer Sicht überhaupt ein Wandel notwendig?
In der Vergangenheit sind Mitarbeiter von den Führungskräften – das hat niemand so offen zugegeben – als Objekte und als Ressource benutzt worden. Bis heute haben wir noch den unangenehmen Begriff «Human Resources» im Management. Jemand, der sich als Objekt behandelt fühlt, entfaltet aber seine Potenziale nicht. Deshalb wird ein erfolgreiches Unternehmen insbesondere eines freilegen müssen: die verborgenen Potenziale seiner Mitarbeitenden. Erst wenn sie eine neue Einstellung und Haltung entwickeln, können Teams entstehen, die etwas ermöglichen, was durch Einzelkämpfer nicht mehr geleistet werden kann.
Wie sieht denn aus Ihrer Sicht ein optimales Unternehmen aus und gibt es dafür schon Beispiele?
Wir versuchen mit der Initiative «Kulturwandel in Unternehmen und Organisationen» zu zeigen, dass es sehr viele unterschiedliche Wege hin zu einer günstigeren Beziehungs- und Lernkultur in einem Unternehmen gibt. Manche Unternehmen sind da schon relativ weit gekommen – andere stecken noch in den Anfängen. Manche haben damit begonnen, ohne es selbst zuzugeben und haben es noch gar nicht bemerkt. Am Ende muss eine Situation in einem Unternehmen erreicht werden, dass sich Mitarbeiter am Sonntagabend schon freuen, dass sie am Montag wieder in ihre Firma können. Das ist eine ganz andere innere Haltung eines Mitarbeiters als die, die wir im Augenblick haben.
Gerald Hüther
gilt als beliebtester deutschsprachiger Hirnforscher. Mit seiner provokativen Aussage «Wir sind alle nur eine Kümmerversion dessen, was wir sein könnten» versucht er in Vorträgen, Interviews und politischen Beratungsfunktionen, ein gesellschaftliches Umdenken anzustossen. In seinem aktuellen Buch «Was wir sind und was wir sein könnten – ein neurobiologischer Mutmacher» beschreibt der Professor die Notwendigkeit eines Wandels von einer Gesellschaft der Ressourcen-Nutzung hin zu einer Potenzialentfaltung.