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Kundenfokussierung: Wie Web 2.0 unternehmerische Prozesse demokratisiert

Die Managementberaterin Anne Schüller prägt in ihren Büchern den Begriff «Kundenfokussierung», der eine konkretisierte Form der Kunden­orientierung bedeutet. Sie plädiert für Umstrukturierungen von Unternehmen, durch die Kunden «zum wahren Boss» werden. Ein radikaler Vorschlag, der in angelsächsischen Ländern schon Umsetzung findet.

HR Today: Orientierung nach den Wünschen der Kunden war schon immer ein Thema. Worin unterscheidet sich Ihr Konzept der Kundenfokussierung?

Anne Schüller: Kundenorientierung ist ein Schlagwort, das in Sonntagsreden seit den 90er Jahren in Unternehmen gepredigt wird. Schon allein das Wort Orientierung ist eher abstrakt und hat etwas Vages und so spürt der Kunde oft nicht viel von einer konkret für ihn verbesserten Dienstleistung. Bei der Kundenfokussierung geht es um die Umsetzung von auf den Kunden fokussierten Aktivitäten.

In welchen Bereichen mangelt es an kundenfokussierten Aktivitäten?

Ich denke etwa an Produktentwicklungen, die meist immer noch unternehmensintern ausgebrütet werden. Tim Bosenick, Gründer der Firma Sirvaluse, schätzt, dass nur 30 Prozent aller technischen Produkte vor der Markteinführung auf Benutzerfreundlichkeit getestet werden. So kommt es dann zu Flopraten von über 90 Prozent. Kunden und selbst unbeteiligte Dritte können jedoch mit freiwillig und mehr oder weniger kostenlos zugesteuerten Ideen den Unternehmen zu grösserem Erfolg verhelfen. Auf der Webseite www.brainr.de kann man mit welcher Frage auch immer zum Brainstorming einladen. Konzerne wie Procter & Gamble verlagern bereits ganze Teile ihrer Forschung und Entwicklung ins Netz. 50 Prozent aller Innovationen sollen laut P&G-CEO Alan G. Lafley von ausserhalb des Unternehmens kommen. Das ist «customer-driven innovation».

Und wie manifestiert sich bei der demokratisierten Form der Produktentwicklung der Nutzen für den Kunden?

Jeder Verantwortliche im Unternehmen muss sich künftig die Aufgabe stellen, kollektive Mitarbeiter- und Kundenintelligenz in seinen Bereich einfliessen zu lassen – ob er will oder nicht. Nach diesem Prinzip lässt sich der Kunde entlang der gesamten Wertschöpfungskette mehr oder weniger aktiv in die Arbeits- und Gestaltungsprozesse einbeziehen: Er initiiert, beschleunigt, bereichert, verändert oder stoppt. Über Abstimmungen, Verbesserungsvorschläge und Kritiken liefert er wichtige Indikatoren, wie unternehmerische Leistungen kundenspezifisch weiterentwickelt werden können und sollen.

Wie kann dieser Informationsaustausch praktisch vonstatten gehen?

Jede Abteilung im Unternehmen sollte sich direkt mit den Kunden befassen. Beispielsweise helfen Besuche der Mitarbeitenden bei den Kunden, sich über spezifische Themen austauschen zu können. Bei diesen gemeinsamen Gesprächen in der Cafeteria oder am Arbeitsplatz, beispielsweise direkt an der Werkbank, erfährt der Mitarbeitende von den Wünschen der Kunden, und der Kunde bekommt Verständnis für das Funktionieren des Anbieter-Unternehmens. Dieser Wissensaustausch funktioniert am besten hautnah vor Ort. Vor allem aber brauchen die Führungsspitzen wieder den direkten Kundenkontakt. Viele kennen ihre Kunden ja nur noch aus Berichten. Diese Strategie erfordert auch eine kundenfokussierte Mitarbeiterführung.

Beispiele aus der Produktentwicklung durch Kunden

Ausgewählte Kunden sind exklusiv als Pre-Tester aktiv. Sie weisen die Entwickler auf Fehler hin und optimieren das Produkt gleich weiter. So schickt Microsoft kostenlose Beta-Versionen in den Markt, auch bekannt als «Green-banana Policy»: Das Produkt reift beim Kunden. Der US-Hersteller Kettle Foods liess seine Kunden im Rahmen einer People’s-Choice-Kampagne Geschmacksrichtungen für neue Chips-Sorten vorschlagen und auswählen – mit durchschlagendem Erfolg. «Designed by Lego Fans» steht auf Lego-Packungen, wenn ein neues Produkt aus der Schmiede eines Lego-Enthusiasten kommt. Das Hotel Haus Hirt im österreichischen Bad Gastein beteiligt Gäste an der gestalterischen Weiterentwicklung des Betriebs.

 (Auszug aus: A. Schüller, Kundennähe in der Chefetage)

Was bedeutet der Wandel vom passiven Kunden zum aktiven Marktgestalter für die Führung im Unternehmen? Gibt es auch eine kundenfokussierte Unternehmensführung?

Viele Mitarbeitende müssen erst lernen, sich in die Position der Kunden einzufühlen. So können etwa Mitarbeiterzeitungen in Artikeln den gewünschten Kundenfokus streuen. Und in Meetings und Besprechungen sollte der Kunde Tagesordnungspunkt Nummer eins sein. Jeder einzelne Mitarbeitende könnte beispielsweise zu Beginn eines jeden Meetings eine positive Story von einem Erlebnis mit einem Kunden erzählen.

Es gibt aber Führungskräftemeetings, in denen die Kunden entweder überhaupt kein Thema sind – und stattdessen stundenlang Internes diskutiert wird – oder wo Kunden sehr häufig nur in negativen Kontexten thematisiert werden, in Worten wie «dieser pingelige Kunde» oder dergleichen. Ein Unternehmen ist nicht kundenfokussiert, wenn es den Kunden mit seinen Anliegen nicht ernst nimmt und schlechtmacht oder darin verfällt, selbstverliebt zu agieren.

Wie würden Sie letztlich den von Ihnen geforderten Stellenwert des Kunden beschreiben?

Wir können den Stellenwert mit einer Bühne vergleichen: Es geht darum, die Manager von der Bühne zu holen und die Kunden dafür in das Spotlight zu stellen. Strukturell dargestellt, würde ich vorschlagen, in hierarchisch organisierten Unternehmen den Kunden auf einem Organigramm ganz oben vor den CEO zu stellen. In weniger hierarchisch strukturierten Unternehmen müsste der Kunde im Organigramm auf gleicher Ebene mit Führungskräften und Mitarbeitenden ganz rechts erscheinen.

Personalrekrutierung bei Kunden

Ein KMU schrieb seinen Kunden, dass es Ausbildungsplätze bevorzugt an Personen aus seinem Kundenkreis vergeben wolle – und wurde schnell fündig. Bei der amerikanischen Franchisekette Build-a-Bear, die auch einige Standorte in Europa hat, können Kunden nicht nur knuffige Plüsch-Teddybären nach eigenen Wünschen zusammenbauen, sie werden auch gezielt angesprochen, ob sie nicht im Laden arbeiten wollen. In einem dreiwöchigen Kurs werden sie zum «Master Bear Builder» geschult. Auch bei Globetrotter, einem Outdoor-Ausrüster, arbeiten viele ehemalige Kunden. Wer sich unter www.legofactory.com registrieren lässt, erhält sogar einen virtuellen Mitarbeiterausweis. (Auszug aus: A. Schüller, Kundennähe in der Chefetage)

Mit diesem Modell würden die Grenzen zwischen intern und extern verschwim­men …

Im Verschwimmen von hierarchischen Linien sehe ich auch den Trend in unserer Gesellschaft. Der Auslöser dieser Veränderung ist die Entwicklung des Web 2.0, in dem jede einzelne Stimme zählt. Ich kann mich in einer Web Community mit anderen zusammenschliessen und dort schreiben, was ich will. Und die ganze Welt kann es lesen. Generation Y wächst mit völlig neuen Werten auf, für die das Web 2.0 heute steht, nämlich Dialog und Interaktion, Teilen und Partizipation, Transparenz und Wahrhaftigkeit, Kreativität und Schnelligkeit. Mit diesen Werten wird es für die neue Generation zur Selbstverständlichkeit, dass sie zu Entscheidungen, die ihre Arbeit betreffen, befragt werden. Mitarbeitende sind künftig eher Beteiligte als Betroffene. Sie werden vermehrt auch zu langfristigen Unternehmensentscheidungen befragt.

Was bedeutet dieser Wertewandel für die Kommunikation der Chefs?

Chefs werden «management by walking and talking around» tatsächlich durchführen müssen. Jede Meinung – auch die an der Basis – muss den CEOs wichtiger werden. Diese veränderte Verhaltensweise findet ihre strukturelle Entsprechung in der Verknüpfung der realen mit der virtuellen Welt. Im wahren Leben wird künftig das Teilen von Informationen ebenso erwartet, wie es im Netz längst Norm ist. Diese basisdemokratische Ordnung bringt die Menschen gleichzeitig in eine grössere Verantwortung. Wenig kann noch verschleiert werden, im Netz kommt fast alles raus. Die junge Generation hat in vielen Bereichen bereits einen ethischeren Umgang durch das Web 2.0. Deshalb erwartet sie gleiches Verhalten im realen Leben.

Inwiefern beeinflusst das Web 2.0 das Kundenverhalten?

Da die Grenzen zwischen intern und extern – und ebenso die Hierarchien – aufgeweicht werden, wird es leichter sein, als Kunde das Produkt oder die Dienstleistung mitzugestalten. Der Produktentwicklungsprozess demokratisiert sich somit zugunsten aller Beteiligten. Genauso wie Journalisten heute Blogs lesen, um Skandalen auf die Spur zu kommen, sind den Kunden jede Art von Bewertungsportalen zugänglich. Bewertungsportale und Blogs sind Ausdruck einer Machtumverteilung – hin zum Kunden und hin zum Mitarbeitenden.

Der jüngste Skandal der Videoüberwachung von Lidl-Mitarbeitenden demonstriert sehr gut, wie sich die Grenzen der Informationsverbreitung verwischen: Früher hätten sich Mitarbeitende nie getraut, diese Überwachungsaktionen an die Medien weiterzugeben. Ohne Mitarbeiterblogs würden die Medien über vieles nichts erfahren. Diese Transparenz wirkt sich natürlich auch auf das Kundenverhalten aus. Regeln und Normen weichen den unendlichen Freiräumen nicht nur im Netz. Freiräume werden für die Generation Y neue Norm sein.

Literaturhinweis:

  • Anne Schüller: Kundennähe in der Chefetage. Wie Sie Mitarbeiter kundenfokussiert führen. Orell Füssli, 2008.

Kunden gestalten eine Biermarke

In Australien entstand eine neue Biermarke zu 100 Prozent durch das Zutun von Konsumenten: Blowfly Beer. Die Gründer waren keine Bierbrauer und hatten keinerlei Insiderwissen über den dortigen Biermarkt, den sich zwei nationale Marken teilten. Sie entschieden sich, alles anders zu machen, als es Brauereien klassischerweise tun. So liessen sie alle, die Lust dazu hatten, im Internet über den Namen, die Geschmacksrichtungen, das Logo, den Flaschentyp, den Preis, die Bierkästen, die Verkaufsstellen und die Location für die Eröffnungsparty abstimmen. Wer mitmachte, bekam zum Dank Brewtopia-Aktien und wurde hierdurch zum Miteigentümer. «Das Bier hatte 16000 Markenbotschafter, bevor es überhaupt zu kaufen war», erzählt der Vorstandsvorsitzende Liam Mulhall. Auch nach dem Start passierte das meiste in Zusammenarbeit mit den Fans. So wurde das Bier nicht früh am Morgen durch die Hintertür angeliefert, sondern dann, wenn die Bars voll waren, immer durch den Haupteingang und über den Bar-Tresen hinweg. Das ganze ging mit viel Hallo vonstatten, denn die Lieferwagen sahen aus wie Ambulanzfahrzeuge und waren mit Sirenen ausgestattet. All das, um Aufmerksamkeit und einen hohen Erzählfaktor zu erzielen. (Quelle: Zukunftstrend Empfehlungsmarketing, 
2. Auflage, BusinessVillage Verlag)

 

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Connie Voigt ist 
Executive Coach bei der Firma «Inside Out» sowie Gründerin der Netzwerkorganisation «Interculturalcenter.com GmbH». Zudem ist sie Dozentin für Organizational Behavior an der Edinburgh Business School, FHNW Basel und FU Berlin.

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