Porträt

«Man darf sich erst beklagen, wenn man zuvor versucht hat, etwas zu verändern»

Wie ein roter Faden ziehen sich die Themen Kinder, Frauen und Gleichberechtigung durch ihren Lebenslauf. Nachdem sich Elsbeth Müller während Jahren als Lokalpolitikerin und Heilpädagogin engagiert hat, setzt sie sich seit 1996 als 
Geschäftsstellenleiterin von UNICEF Schweiz weltweit für Kinder ein, die auf der Schattenseite des Lebens stehen.

«UNICEF? Sind das nicht die mit den schönen Weihnachtskärtchen?» Diese Frage hörte 
Elsbeth Müller oft, als sie 1996 die Leitung des Schweizerischen Komitees für UNICEF übernahm. Mit dem Auftrag, den Verein aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken, seine Effizienz zu steigern und die Spendengelder wieder zum Fliessen zu bringen. Heute, vierzehn Jahre später, präsentiert sich UNICEF Schweiz als schlanke, moderne NGO, einer der «Big Players» im Schweizer Spendenmarkt. «Wir sind eine Mischung aus Rechenzentrum, Redaktion, politischer Lobbygruppe, wissenschaftlicher Institution und Verkaufsgeschäft», umschreibt Müller die Organisation, die mit ihren rund 30 Mitarbeitenden mehr als 40 Millionen an Spendengeldern aufbringt, Projekte in 17 Ländern finanziert und begleitet und – ja, es gibt sie noch immer! – Weihnachtskärtchen verkauft.

Effizienz ist bei diesem komplexen Geschäftsmodell dringend nötig, finanzieren sich doch die Länderkomitees der UNO-Tochter selber. Was vor allem bedeutet, ihren Spendern überzeugend zu vermitteln, dass mit deren Geldern verantwortungsvoll umgegangen wird. Das Schweizerische Komitee setzt seine Schwerpunkte bei der Bildung, beim Schutz der Integrität und bei der präventiven Gesundheitsversorgung von Kindern.

Im Rampenlicht stehen andere

Wo früher eher karitativ begründete (Einzel-)Hilfe geleistet wurde, geht man heute davon aus, dass den Kindern am besten gedient ist, wenn ihnen zu ihren in der Kinderrechtskonvention von 1989 festgehaltenen Rechten verholfen wird. «Etwas sehr salopp gesagt: Es geht nicht darum, kleine Kinder zu retten», erklärt Müller. Einzelhilfe nehme ein Kind immer aus seinem Kontext heraus, was letztlich die Migration fördere – also kontraproduktiv sei. Die UNICEF sehe ihre Aufgabe vielmehr in der Strukturhilfe, beispielsweise beim Auf- und Ausbau von Schulen oder im Kampf gegen die Beschneidung von Mädchen. Und sie legt Wert darauf, alle eigenen Schritte eng mit Partnerorganisationen und Regierungen abzustimmen.

Dass bei vielen der Projekte ein besonderer Fokus auf den Mädchen liege, ergebe durchaus Sinn, insistiert Müller: «Wenn das letzte Mädchen eingeschult ist, sind es die Buben längst alle.» Ganz grundsätzlich gilt das Bildungsinvestment in Frauen und Mädchen als Schlüsselfaktor, um ganze Familien aus der Armutsspirale herauszulösen. Frauen entwickeln häufig unternehmerische Fähigkeiten, die ihre Familien voranbringen, und sie schicken ihrerseits ihre Töchter häufiger in die Schule, als Väter es tun. Frauen sind seltener krank und sorgen als Mütter besser für ihre Kinder, weil sie über die wichtigsten Hygiene- und Gesundheitsmassnahmen informiert sind.

Im Gespräch stürzt sich die resolute Geschäftsleiterin mit den gletscherblauen Augen sofort mitten ins Thema und umschifft so elegant allzu Persönliches. «Die Sache muss im Zentrum stehen», erklärt sie kategorisch, und sie wird diesen Satz mehrmals wiederholen. Offenbar wirkt sie lieber im Hintergrund, während Persönlichkeiten wie der Moderator Kurt Aeschbacher als Botschafter und der Schauspieler Anatole Taubmann als Spokesperson für UNICEF im Rampenlicht stehen.

Doch es wäre falsch, ihren Pragmatismus mit Kühlheit zu verwechseln, ihr Engagement mit Ehrgeiz. Die zwölfjährige Erfahrung als Lokalpolitikerin im Gemeinderat der Stadt Zug und als SP-Fraktionschefin prägt ihren Auftritt: Sie spricht klar, macht Komplexes verständlich und kommt schnell zum Punkt. Man traut ihr zu, anderen wenn nötig auf die Füsse zu treten – mit höflicher Bestimmtheit. Am meisten nimmt jedoch Müllers ansteckende Leidenschaft für ihr «Kerngeschäft» ein: Ob sie etwa im Radio in der Sendung «Persönlich» über die Situation von Moskauer Strassenkindern spricht oder ihrem Gegenüber die Lebenswelt ruandischer Teenager näherbringt – immer schwingt die Energie eines 150-prozentigen Engagements mit.

«Kompromissloses Engagement im gesellschaftlichen Umfeld führt zur Veränderung.» Elsbeth Müller trägt diese Überzeugung seit ihrer Kindheit mit. Sie wuchs im zugerischen Ägeri in einer Familie mit fünf Geschwistern und zwei berufstätigen Eltern auf, in der klare Strukturen herrschten und die stillschweigende Übereinkunft, dass frei ist, wer seine Pflichten erfüllt hat. Sie sei ein sehr freiheitsliebendes Kind gewesen, das nach getaner Arbeit gerne in den Wald entfloh, an den See oder ins nahe gelegene Dorf, wo jeder jeden kannte.

Die Lehrerlaufbahn schlug sie zwar nicht unwillig, aber eher mangels Alternativen ein, da in den frühen Siebzigerjahren im katholischen Kleinkanton für schulisch begabte Mädchen kaum anderes vorgesehen war als das von Nonnen geführte Lehrerseminar.  Verantwortung habe sie bereits als Jugendliche übernommen, als Pfadfinderleiterin, die als Siebzehnjährige ganz selbstverständlich mit dreissig oder sogar vierzig jüngeren Mädchen ins Lager zog. «Das wäre heute undenkbar», lacht sie.

Grosse Visionen fordern langen Atem

Kinder haben sie schliesslich auch – nach einer Zusatzausbildung zur Heilpädagogin und einigen Jahren als Dozentin an der Universität Zürich – zur UNICEF geführt, genauer gesagt zu ihrem ersten Auftrag: Sie sollte die Öffentlichkeit auf das Schicksal versteckter Saisonnierkinder aufmerksam machen, die ohne Aufenthaltserlaubnis in beengten Unterkünften lebten und denen ein Schulbesuch verwehrt war. Seither setzt sie sich vollumfänglich für Kinder ein – «für Kinder mit bestimmten Schwierigkeiten», präzisiert Müller, die keine eigenen Kinder hat, sich jedoch gerne mit ihren Nichten und Neffen umgibt. «Vielleicht ist es einfacher», sagt sie nachdenklich, «für die Kinder der Welt zu sorgen, als ein eigenes Kind jeden Abend ins Bett zu bringen.»

Eine Karriere als Politikerin habe sie nur sehr kurz ins Auge gefasst, da ihr das dort übliche Denken in Vierjahresperioden widerstrebe. Zu sehr hat sie offenbar den, wie sie es nennt, «sehr wahren und fast weisen» Rat eines Studienkollegen verinnerlicht, der  sagte: «Du willst Reformen? Dann musst du bereit sein, zehn Jahre lang dafür zu kämpfen.» Für neue Ideen müsse man erst den Boden bereiten, man müsse Menschen finden, die bereit seien, auf das gleiche Ziel hinzuarbeiten. «Und dafür braucht es Zeit.»

Gerade aus dem intensiven Austausch mit anderen Delegierten der Organisation und mit Projektleitern in den verschiedenen Ländern ziehe sie aber auch eine grosse Befriedigung und letztlich auch die Überzeugung, dass das Leben, die Zukunft und selbst Staaten gestaltbar seien – sofern das Engagement stimme: «Man darf sich erst über Zustände beklagen, wenn man zuvor versucht hat, sie zu verändern oder mitzugestalten.»

Im Gegensatz zu anderen Hilfsorganisationen schickt UNICEF keine Schweizer Entwicklungshelfer in andere Länder, sondern unterstützt qualifizierte Fachkräfte vor Ort: «Sie verstehen die Strukturen, sie kennen die Situation besser, überblicken die Verhältnisse und wissen so am besten, wie man eine Veränderung am wirksamsten erreicht.»

Kein Tummelplatz für Gutmeinende

Empathie und die Fähigkeit, Entwicklungen zu antizipieren, sind nach Ansicht Müllers essenziell wichtig in der Entwicklungshilfe. Es gelte, genau hinzuschauen und sich sorgfältig mit Grundfragen wie: «Was ist hier wirklich nötig?» und «Was braucht es an dieser Stelle – wirklich?» auseinanderzusetzen. Als Beispiel führt sie eine zwölfjährige Ruanderin an, die einem Haushalt mit fünf jüngeren Geschwistern vorstehe: Für diese habe der Schulbesuch nicht unbedingt dieselbe Priorität wie für ein Kind in einer anderen Situation. Vielmehr müsse man die Zwölfjährige in ihrer Aufgabe stützen: «Die Last der Verantwortung kann man ihr nicht abnehmen – und Mitleid hilft ihr auch nicht weiter.»

Eine der grössten Herausforderungen der Organisation sei es, die richtigen Mitarbeitenden zu finden. Denn bei der UNICEF gehe es nicht, wie viele fälschlich glaubten, um «Glitter und Glamour», selbst wenn, wie beispielsweise bei der Award Ceremony der Sammelaktion «Sternenwoche» im Opernhaus Zürich, gelegentlich Kontakt zu «Promis» bestehe. Auch liege falsch, wer denke, in einer karitativen Organisation werde «noch sozialer gearbeitet als anderswo».

Um das breite Themenspektrum und das Tagesgeschäft des multilateralen, global tätigen Hilfswerks zu bewältigen, seien Leistungsbereitschaft und ein hocheffizientes Arbeiten unabdingbar. Mit der Informationsflut, die mit dem technologischen Fortschritt der elektronischen Medien gewachsen ist, sind längst auch Hilfsorganisationen konfrontiert. Täglich müssten Mitteilungen und Botschaften von  Mutter- und von Schwestergesellschaften, Berichte und Anfragen einzelner Projektleiter empfangen, ausgewertet und auf ihre Relevanz für die eigene Arbeit überprüft werden. Wer sich lediglich vom Gedanken leiten lasse, «etwas Gutes zu tun», sei hier rasch überfordert. Als Ausgleich für die erhöhten Anforderungen geniessen die UNICEF-Mitarbeitenden jedoch die Gewissheit, an einem grösseren Ziel, an der stetigen Veränderung der Welt, mitzuarbeiten: «Unsere ‹Stakeholder› sind die Kinder – also die Zukunft der Welt.»

Elsbeth Müller

Nach einer Ausbildung zur Primarlehrerin und der Weiterbildung zur Heilpädagogin arbeitete Elsbeth Müller vier Jahre lang als Dozentin am Heilpädagogischen Seminar der Universität Zürich. In dieser Zeit engagierte sie sich als Gemeinderätin und SP-Fraktionschefin in Zug, wo sie unter anderem am Aufbau der ersten städtischen Tagesschule im Kanton mitwirkte. 1996 übernahm sie die Leitung der Geschäftsstelle UNICEF Schweiz. Von ihrer intensiven Reisetätigkeit, die rund ein Drittel ihrer Arbeitszeit ausmacht, erholt sich 
Elsbeth Müller mit Vorliebe beim Segeln oder mit einem spannenden Buch.

Das macht UNICEF

UNICEF (United Nations Children’s Fund) ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, das sich weltweit für das Wohl von Kindern und Frauen einsetzt. UNICEF ist politisch und konfessionell unabhängig und arbeitet vorrangig an der Verbesserung der Lebensbedingungen für Kinder in den Entwicklungsländern. Dabei bilden folgende fünf Bereiche den Schwerpunkt der Arbeit von UNICEF:

  1.  
Überleben und Entwicklung von Kleinkindern
  2.  
Schule und gleiche Rechte für Mädchen und Knaben
  3.  
Kinder und HIV / Aids
  4.  
Schutz vor Gewalt, Ausbeutung und 
Missbrauch
  5.  
Lobbying für Standards zugunsten von Kindern und Partnerschaften im Bereich Kinderrechte

Das Schweizerische Komitee für UNICEF trägt wie alle 36 nationalen Komitees zur Finanzierung der Programme in den Entwicklungsländern bei und erwirtschaftete im vergangenen Jahr 30,3 Millionen Franken. Das Komitee finanziert sich ausschliesslich aus privaten Spenden. www.unicef.ch

 

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