«Management ist ein grosser Irrtum, der verarbeitet werden muss»
Monetäre Anreizsysteme sind unwissenschaftliche und menschenverachtende Quacksalberei, sagt der Berater und Buchautor Niels Pfläging. Unternehmen, die im Kampf um Marktanteile und die besten Mitarbeitenden die Nase ganz vorn haben wollen, müssten aufhören zu managen.
Nils Pfläging ist leidenschaftlicher Fürsprecher einer neuen Führung. (Foto: zVg)
Die Weltwirtschaft ist in eine der grössten Krisen geschlittert. In gewissen Branchen aber geht die Party schon wieder weiter wie zuvor. Warum?
Niels Pfläging: Die Krise hätte nie stattgefunden, wenn in den letzten Jahrzehnten die Praxis monetärer Anreize nicht zum Dogma erklärt worden wäre. Anreizsysteme machen Menschen zu Eseln. Wenn die Karotte vor der Nase nicht genügt, um den Esel anzutreiben, gibt es immer eine zweite Karotte – und die wirkt dann von hinten. Jeder Bonus ist eine Drohung. Jeder Anreiz mündet in Zwang.
Eine Abkehr von der leistungsorientierten Vergütung scheint aber in weiter Ferne. Warum wird schon wieder nach denselben Mustern weitergemacht?
Wenn Sie einmal mit Anreizen angefangen haben, ist das wie beim Zauberlehrling und bei den Geistern, die er rief. Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Mitarbeitenden bei den Banken massenweise kündigen würden, wenn man ihnen den Bonus wegnähme. Aber die scheinheilig so genannte leistungsorientierte Entlöhnung hat schon dazu führt, dass in manchem Unternehmen jeder für seinen Bonus arbeitet, nicht aber für das Unternehmen. Das ist Söldnertum in Reinkultur. Söldner sind egoistisch, rücksichtslos, profitorientiert und denken sehr kurzfristig. Und Söldner arbeiten eben für den Sold. Nicht für den Zweck. Das liegt aber nicht an der Natur des Menschen, sondern am System. Wir nennen das Management.
Viele Unternehmen argumentieren, gerade in Krisenzeiten seien hohe Vergütungen wichtig, um die Mitarbeitende zu motivieren und zu halten …
Das ist Quatsch. Unwissenschaftliche und menschenverachtende Quacksalberei. Mitarbeitende muss man nicht zwingen. Sie identifizieren sich von Natur aus freiwillig mit ihrer Organisation. Man kann Menschen daher auch nicht motivieren. Sie sind motiviert. Man kann sie höchstens demotivieren. Das wiederum geht ganz einfach, es gibt tausend Wege dazu. Dazu zählen auch monetäre Anreizformen. Diese dienen weder dem Wohl des Systems noch des Einzelnen. Gute Unternehmen bezahlen fair, tun aber sonst nichts, was den Gedanken der Mitarbeitenden ständig ums Geld kreisen liesse. In einem traditionell gemanagten Unternehmen wird dagegen permanent Druck ausgeübt und Macht ausgespielt – unter anderem mit Geld.
Das heisst, wenn Boni und andere monetäre Anreize verboten würden, dann wären alle Probleme gelöst?
Nein. Aber es wäre ein wichtiger Schritt. Ein zweiter wichtiger Schritt wäre, die Organisationsstrukturen zu verändern. Wir müssen endlich wegkommen vom Pyramidendenken «Oben die Macht und unten die Ohnmacht». Und auch die Divisionen und Funktionen gehören abgeschafft, sie dienen lediglich der Hierarchie, nicht aber der Arbeitsorganisation. Deshalb macht auch den meisten von uns die Arbeit keinen Spass. Denn wer in bürokratischen Hierarchien arbeitet, muss Funktionen erfüllen, anstatt das zu tun, was anliegt und Wert schafft. Das Ziel der Arbeit, der Zweck, der Sinn wird durch die funktionale Organisation und Zerteilung verstellt. Dadurch werden Unternehmen nicht nur ineffizient, sondern die Mitarbeitenden werden auch angereizt, Denken und Verantwortungsübernahme zu unterlassen.
Keine Funktionen, keine Hierarchie, das tönt nach unstrukturiertem Chaos …
Genau. Auf den ersten Blick natürlich schon. Die Konsequenz ist aber genau das Gegenteil. Hierarchie und Bürokratie münden in Verantwortungslosigkeit – das wissen wir eigentlich alle. Wir wollen nur nicht wahrhaben, dass das in Unternehmen auch so ist. Wenn die Unternehmensform von morgen heute für sich werben würde, dann so: Organisieren Sie sich in dezentralen Netzwerken und lernen Sie Zellen zu definieren, in denen sich die Teams am «Marktzug» ausrichten und in denen Befehle und umfassende Kontrolle überflüssig werden.
Können Sie das bitte genauer erklären?
In dezentralen Netzwerken wird die Arbeit in Zellen gemacht und nicht in Bereichen, Abteilungen und Divisionen. Die Verantwortung wird in solchen Zellen getragen und nicht in den Chefetagen, die heute letztlich ja nur in einer Kontrollillusions-Blase leben. In den Zellen arbeiten Teams von, sagen wir, 3 bis 20 Leuten, denn es braucht für Höchstleistung und Verantwortung eine gewisse Intimität wie in einer Familie, in einem Clan oder Stamm. In dieser Form des Arbeitens hat die Kultur egoistischer Einzelkämpferei keine Chance und das Innovationspotenzial ist riesig.
In einer Netzwerkorganisation wird die Verantwortung breit auf viele Schultern verteilt und die Struktur ist keinesfalls chaotisch oder beliebig, sondern hoch diszipliniert. Auch in Netzwerken gibt es Ordnung und Richtung, Disziplin und Macht. Nur ist deren Richtung nicht vertikal von oben nach unten, sondern von aussen nach innen.
Und was ist aussen und was innen?
Aussen ist der Markt. Vielfältige Mitspieler wie Eigentümer, Kapitalgeber, Kunden, Zulieferer, Gesetzgeber oder Gewerkschaften. Das Zentrum des Unternehmens ist weit weg vom Markt. Hier sollten besser keine oder nur wenige Entscheidungen getroffen werden. Ein mächtiges Zentrum ist schädlich. Denn je weiter aussen in der Peripherie entschieden wird, desto besser, weil dort Marktintelligenz entsteht. Und in der Peripherie, da sind die Zellen als Mini-Unternehmen unterwegs. Hier findet das Business statt und hier werden Entscheidungen gefällt. Die Zentrale hat also in einem Zellnetzwerk lediglich eine unterstützende Funktion. Durch diese Organisationsform entsteht auch ein interner Markt für Innovationen. Beispielsweise hat sich keinesfalls irgendein Chef in der Zentrale von Ikea das Konzept der Spielecken ausgedacht. Solche Ideen entstehen auch bei dm-drogerie markt typischerweise in einer Filiale, also der Peripherie, und werden dann von anderen Filialen übernommen.
Der Markt wird’s also regeln?
Absolut. Der Markt ist letztlich in einer Marktwirtschaft immer mächtiger als interne Macht, als Management. Wenn sich ein Unternehmen nicht vom Markt ziehen lässt, sondern den Markt managen will, wird es vom Markt unter Zug gesetzt. Beispiele dazu gibt es viele. So beharrte Loewe auf Röhrenfernsehern, obwohl der Markt Flachbildschirme wollte, SAP verschlief beinahe das Internet und Olivetti hatte als Schreibmaschinenhersteller plötzlich ein obsoletes Produkt. Xerox, Kodak, General Motors – es gibt eine endlose Liste von Unternehmen, die Marktveränderungen verschliefen, weil das Management steuern wollte und die Peripherie keine Macht hatte.
Apropos Management. Welche Aufgabe kommt in der von Ihnen beschriebenen Netzwerkstruktur den Führungskräften zu? Oder anders gefragt: Was für Führungskräfte braucht es?
Im Wissens- und Informationszeitalter brauchen wir etwas ganz anderes als die alte Managementhaltung, die ich Alpha nenne. Wir brauchen Organisationstechnologie, die mit Komplexität und intelligenten und an Demokratie und Leistung gewöhnten Menschen umgeht. Management ist dafür vollkommen ungeeignet. Es ist sogar schädlich und steht Organisationen und Leistungen im Wege. Wir brauchen einen neuen Kodex. Nicht mehr Alpha, sondern Beta.
Wie sieht denn diese Beta-Führung aus?
Sie beginnt im Grunde mit einer Ent-Täuschung. Damit meine ich, dass es um das Ende einer Täuschung oder Selbst-Täuschung geht. Management ist ein grosser Irrtum, den man erst einmal verarbeiten muss. Peter Drucker schrieb schon vor vielen Jahren, dass 90 Prozent dessen, was wir Management nennen, nichts weiter sei als ein Geflecht von Praktiken, die Menschen daran hindern, ihre Arbeit zu machen.
Beta-Führungskräfte suchen sich eine neue Rolle im Unternehmen. Diese entlastet auch sie selbst gewaltig. Der Beta-Kodex nimmt den Führungskräften die Last der Entscheidungen und gibt allen in einer Organisation die Möglichkeit, zu Entscheidern, Verantwortungsträgern und Führungsarbeitern zu werden.
Führende im Beta-Kodex sind keine Diktatoren und Kontrollfreaks, sondern Integratoren und sorgen dafür, dass die ganze Organisation den Markt sieht. Dass intern Transparenz herrscht und Machtstau unterbleibt. Sie sorgen für Konsequenz, nicht für Entscheidung. Insofern heisst Führung, das System geschmeidig halten und garantieren, dass sich das Hirn der Mitarbeitenden nicht vom Markt abkoppelt und dass die Prinzipien und Werte des Unternehmens heilig bleiben.
Heisst das also, dass für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in den meisten Unternehmen das Management ausgewechselt werden sollte?
Nein, wir brauchen Manager nicht vom Hof zu jagen. Aber ich treffe in meiner Arbeit viele Manager, die sich auf dem Weg von Alpha nach Beta erheblich umgewöhnen werden müssen. Die es sich in einer scheinbar einfachen, autokratischen Denkhaltung bequem gemacht haben und das ausleben – auch wenn sie das letztlich selbst überlastet und ihnen schadet. In der Beta-Denkhaltung steckt auch die Chance, das eigene Potenzial und das der Menschen im Unternehmen heben zu können – statt immer nur Brände zu löschen, zu kontrollieren, zu regulieren und zu strafen. Nicht die Manager sind am Ende, sondern der Heroismus, der rund um das Management kreiert wurde. Unternehmen brauchen keine Übermenschen, die alles verkraften, alles können und alles entscheiden. Sie brauchen lediglich ein Verständnis dafür, dass alle im Unternehmen leistungsfähige Menschen sind, inklusive der vormaligen Manager.
Das tönt ja schön und gut, aber auch ziemlich idealistisch. Gibt es Beispiele von Firmen, die den Wandel vom Alpha- zum Beta-Unternehmen bereits vollzogen oder schon immer zu Letzteren gehört haben?
Ich betone: Das ist nicht idealistisch. Sondern realistisch. Wir haben in den letzten zehn, elf Jahren verschiedenste Beta-Organisationen gefunden. Grosse und kleine, aus unterschiedlichsten Märkten und Ländern. In der Schweiz gibt es Egon Zehnder oder Trisa. Des Weiteren auch Aldi, dm-drogerie markt, Ikea, Google, W. L. Gore, Guardian Industries oder Southwest Airlines.
Was macht Sie eigentlich so sicher, dass der Beta-Kodex das Erfolgsrezept für die Wirtschaft der Zukunft ist?
Der Grund dafür ist: Die Welt hat sich bereits verändert. Punkt. Die Märkte, in denen sich Unternehmen heute bewegen müssen, sind bereits Beta – und das schon seit Jahrzehnten. Menschen sind schon immer Beta gewesen, auch wenn das Management des Industriezeitalters versucht hat, sie sich zu willfährigen Rädchen in der Maschine zu machen – weitgehend erfolglos, aber mit der Energie der Verzweiflung.
Wenn Unternehmen nach dem Beta-Kodex handeln, gewinnen sie im Wesentlichen genau das, was die sowjetischen Volkswirtschaften bei ihrer Hinwendung zu Marktwirtschaft und Demokratie gewonnen haben. Weitaus höhere Wirtschaftlichkeit sowie ein höheres Mass an individueller und kollektiver Freiheit.
Niels Pfläging
ist leidenschaftlicher Fürsprecher einer neuen, zeitgemässen Führung. Er schrieb das erste deutsche Buch zu Beyond Budgeting, sein zweites «Führen mit flexiblen Zielen» (Campus 2006) wurde mit dem Wirtschaftsbuchpreis von «Financial Times Deutschland» und getAbstract ausgezeichnet. Pfläging studierte Betriebswirtschaft in Hannover und Sevilla, danach führte ihn seine Karriere als Business Controller nach Argentinien und Brasilien. Fünf Jahre lang war er Direktor des renommierten Beyond Budgeting Round Table BBRT. Heute ist er ein international gefragter Business-Speaker und Topmanagement-Advisor.