Neue Arbeitsformen: Zwischen gewollter und erzwungener Flexibilität
Das klassische Arbeitsverhältnis mit der 42-Stunden-Woche gehört für immer mehr Leute der Vergangenheit an. Vielen Menschen verschafft die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsmarkts Freiheiten und mehr Souveränität über ihre Zeit. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite werden immer mehr Menschen aus Mangel an Alternativen in ein Arbeitsverhältnis gedrängt, das ihren Sicherheitsansprüchen nicht genügt.
Scheinselbständige, Arbeiter auf Abruf, Projektarbeiter, Job Sharer, Top Sharer, Teilzeitarbeitende, Telearbeitende, Job Hopper, Jobnomaden, Multijobber und Interim Manager. Der Umbruch in der Arbeitswelt bringt neue Arten von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen hervor. Kennzeichnend für die meisten der so genannten atypischen Formen ist vor allem ihre Flexibilität. Eine stetig wachsende Zahl von Arbeitnehmern verabschiedet sich vom klassischen Modell der 42-Stunden-Woche mit fixer Arbeitszeit, arbeitet befristet oder für mehrere Arbeitgeber. Neue elektronische Kommunikationsmittel machen uns überall und zu jeder Zeit erreichbar. Die Arbeit wird mehr und mehr von festen Orten und Zeiten entkoppelt. Die Grenzen zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen verschwimmen. Die Wissenschaft geht bereits der Frage nach, ob der Künstlertyp der ideale Arbeitnehmer sei: Künstler sind flexibel, kreativ und engagiert, identifizieren sich mit ihrer Tätigkeit, sodass Arbeit und Freizeit bei ihnen ganz selbstverständlich ineinander übergehen. Die idealen Mitarbeiter also?
Fakt ist: Die als neu oder atypisch bezeichneten Arbeitsformen werden immer typischer. Alte Muster in der Erwerbstätigkeit brechen auf. Die Zeiten, in denen die Fabrikglocke den Lebensrhythmus bestimmte, sind (jedenfalls für eine steigende Zahl von Beschäftigten) vorüber. Ein Stück weit wird das als Befreiung von altbekannten Modellen gesehen, als Zugewinn an Zeitsouveränität und Selbständigkeit. Eine steigende Zahl Beschäftigter ist nicht mehr gezwungen, der Arbeit alles unterzuordnen, und kann sich vermehrt Freiräume schaffen.
Doch der Zugewinn an Zeitsouveränität ist nur die eine Seite der Medaille – und lediglich für einen Teil der atypisch Beschäftigten realistisch. «Man muss zwischen Flexibilität und Autonomie unterscheiden», warnt Jürg Baillod, Arbeitsforscher vom Büro für Arbeitspsychologie und Organisationsberatung (a&o) in Bern. «Die Beschäftigten wollen Autonomie, um über ihre Zeit selbst zu bestimmen.» Die Unternehmen wollten hingegen flexible Arbeitnehmer, und zwar zu ihren eigenen Bedingungen. Es gebe deshalb auch eine ganze Reihe Arbeitnehmer, die aus Mangel an Alternativen in einer atypischen Beschäftigung ihr Geld verdienten. Sie sind unfreiwillig flexibel.
Teilzeit – noch immer vor allem ein weibliches Phänomen
Am häufigsten und am längsten verbreitet und deshalb kaum noch atypisch zu nennen ist die Teilzeitarbeit. Bei der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) des Statistischen Bundesamtes zählt dazu jede Beschäftigung unter 90 Prozent. Teilzeit zu arbeiten ist offenbar im Trend, ihre Bedeutung nimmt seit Jahren zu: Heute arbeiten in der Schweiz rund 31 Prozent der Erwerbstätigen in Teilzeit – 1970 waren es erst 12 Prozent, hat die Erhebung herausgefunden. In Europa gehört die Schweiz damit zu den absoluten Vorreitern, nur die Niederlande haben mit 46 Prozent einen noch höheren Anteil an Teilzeitarbeitenden. Das EU-Mittel liegt lediglich bei rund 18 Prozent, Deutschland kommt auf gut 24 Prozent.
Die Zahl der Teilzeitarbeitenden in der Schweiz steigt stetig: allein zwischen 1991 und 2005 um 30 Prozent – die Zahl der Vollzeiterwerbstätigen ging in der gleichen Zeit um 3,4 Prozent zurück. Etwa eine halbe Million Schweizer, 288000 Männer und 175000 Frauen, würden lieber verkürzt arbeiten. Doch das Phänomen ist noch immer vor allem weiblich: Die Mehrheit der Teilzeitarbeitenden sind Frauen, nur jeder neunte ist ein Mann.
Ein Grund ist wohl, dass Männer deutlich häufiger Führungsaufgaben wahrnehmen: Denn in den Chefetagen ist die Teilzeitarbeit deutlich weniger verbreitet – nur 16 Prozent der Personen mit Führungsaufgaben arbeiten in Teilzeit, von den Männern gar nur 5 Prozent. So erklärt sich auch, warum das verwandte Phänomen des Topsharing – zwei Führungskräfte teilen sich den gleichen Job – nur in wenigen Einzelfällen anzutreffen ist. Hans Geser, Professor für Arbeits- und Organisationssoziologie an der Universität Zürich, schiebt das vor allem auf die beschränkten Aufstiegschancen, auf traditionelle Trägheiten und die Unteilbarkeit der Verantwortung. «Allein der extreme Aufwand, der betrieben werden muss, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, verschlingt enorm viel Arbeitszeit.»
Der Hauptgrund für eine Teilzeitstelle ist und bleibt die Familie. Mehr als eine halbe Million Schweizerinnen und Schweizer arbeiten aus diesem Grund verkürzt. Davon 26 000 Männer –1991 waren es nur 7000. Weitere Gründe sind Aus- oder Weiterbildung, eine Behinderung oder der Übergang in die Pension. Nicht wenige, nämlich 177000 Schweizer, haben schlicht und einfach keine Lust, sich zu 100 Prozent einem Arbeitgeber zu verschreiben.
Unternehmensrisiko wird auf den Arbeitnehmer überwälzt
«Teilzeitarbeit in der Schweiz ist zu einem guten Teil ein Wohlstandsphänomen», sagt Michael Marti vom Forschungsinstitut Ecoplan in Bern. Die Mehrheit der Teilzeitarbeitenden entscheidet sich bewusst für diese Form. Doch die Zahl derer, die unfreiwillig reduziert arbeiten, wächst stetig: Zwischen 1991 und 2005 stieg sie von 11000 auf 78000. Gleichzeitig ging auch die Zahl der Menschen, die mehr als einen Job haben von 20000 auf 72000 hoch.
«Vielen Menschen kommen flexibilisierte Arbeitsformen entgegen, einigen werden sie jedoch aufoktroyiert», so Baillod. Atypische Arbeitsformen werden dann für Arbeitnehmer problematisch, wenn sie aus Mangel an Alternativen gezwungen sind, ein Arbeitsverhältnis einzugehen, das sie nur ungenügend absichert. Das ist bei den meisten befristeten Beschäftigungen, bei Arbeit auf Abruf, bei der neuen Selbständigkeit und zum Teil auch bei Temporärarbeit der Fall. «Die Bewegung in Richtung atypische Arbeitsformen geht nicht primär von den Arbeitnehmern aus, sondern von den Arbeitgebern», erklärt Marti. «Je weniger soziale Absicherung eine Arbeitsform bietet, desto weniger entspringt sie dem Wunsch der Arbeitnehmer.»
Als besonders problematisch gilt hier die Arbeit auf Abruf. Arbeiter auf Abruf sind kurzfristig verfügbar und jederzeit einsatzbereit. Mit ihnen überbrücken Unternehmen Spitzenzeiten und Flauten in der Auftragslage, indem sie kurzfristig mal mehr, mal weniger Arbeitskräfte anheuern. Das spart Sozialabgaben – und nicht nur das: «Das unternehmerische Risiko, das bei Festangestellten meist auf den Schultern des Arbeitgebers lastet, wird auf den Arbeitnehmer ausgelagert. Bei schlechtem Wetter wird dieser dann eben nicht beschäftigt», sagt Baillod. Der Arbeiter trägt das Risiko seines Verdienstausfalls. Gut 200 000 Arbeitnehmer waren 2006 auf Abruf tätig, mehr als die Hälfte von ihnen ohne garantierte Stundenzahl. «Das Schutzbedürfnis der Arbeitsbevölkerung wird dadurch extrem in Mitleidenschaft gezogen», kritisiert Baillod. «Die Planung des Lebens wird unsicherer, wenn man nicht mehr weiss, ob, wann und wie lange man arbeiten muss.»
Ebenfalls als heikel bezeichnen sowohl Baillod als auch Marti die so genannte neue Selbständigkeit und die Selbständigkeit mit einem Auftraggeber. Zusammen mit der Arbeit auf Abruf bergen sie das höchste Armutsrisiko. Vor allem ältere Arbeitnehmer würden von ihren Arbeitgebern dorthin gedrängt: «Da heisst es dann, ‹Du kannst weiterarbeiten, aber auf eigene Rechnung›. Hier besteht die Gefahr der Abhängigkeit von einem einzigen Arbeitgeber mit weniger sozialer Absicherung», so Marti. Aber auch viele junge Leute, die nach Abschluss ihres Studiums keine Anstellung finden, lebten mehr schlecht als recht als Ein-Mann-Betriebe mit geringem oder keinem Auftragsbestand, so Baillod. Unter den Selbständigen lag die Zahl derer, die 2005 eine Krankenkassenprämienverbilligung beanspruchten, bei einem Viertel. Ebenso viele zahlen weder in eine zweite noch eine dritte Säule ein, einer von fünf hat keine Krankentaggeldversicherung.
Doch nicht alle Arbeitnehmer leiden unter der Unsicherheit atypischer Arbeit. Bei den insgesamt 245000 befristeten Arbeitsverhältnissen stieg beispielsweise der Anteil jener mit längeren Befristungen. Diese Stellen werden vor allem auch von höher qualifizierten Arbeitnehmern wie beispielsweise Projektmanagern nachgefragt. Sie lassen sich gezielt nur für eine begrenzte Zeit einstellen, um eine einmalige Aufgabe zu erledigen. «Eine mögliche Erklärung für den Anstieg dieser Beschäftigungen liegt darin, dass Unternehmen durchaus gewillt sind, hoch qualifizierte Arbeitnehmer länger zu beschäftigen, sich aber durch die Befristung ihre Handlungsoptionen offen halten», weiss Marti.
Temporärarbeit oft Sprungbrett in ein Normalarbeitsverhältnis
Das gilt gleichermassen für den Bereich der Temporärarbeit: 2006 fanden mehr als 200000 Arbeitnehmer eine Stelle bei einer Zeitarbeitsfirma, 177000 wurden jedoch dann von den Unternehmen eingestellt. Nur noch 27000 erhielten weiter ihre Lohnzahlung vom Stellenvermittlungsbüro, ergab die Studie «Flexicurity: Bedeutung für die Schweiz». Die Temporärarbeit ist also in vielen Fällen ein Sprungbrett in ein Normalarbeitsverhältnis und bietet noch ein Mindestmass an sozialer Absicherung: Wenn ein Arbeitnehmer nicht vermittelt werden kann, zahlt die Zeitarbeitsfirma seinen Lohn – zumindest für eine gewisse Zeit.
Marti geht aufgrund der erhobenen Daten zudem davon aus, dass diese Arbeitsform vor allem bei jungen Menschen nicht selten sogar erwünscht ist: «Die Gruppe der 15- bis 24-Jährigen ist bei der Temporärarbeit massiv übervertreten. Das ist ein Hinweis darauf, dass es hier auch viele Leute gibt, die sich bewusst für diese Arbeitsform entscheiden, weil sie sich zum Beispiel noch nicht festlegen möchten oder neben einer laufenden Ausbildung Geld verdienen wollen.»
Grenzen zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen lösen sich auf
Trotz der Umbrüche in der Arbeitswelt dominiert noch immer die 42-Stunden-Woche in unbefristeter Anstellung. Nach Ansicht von Experten wird sich das weder erdrutschartig verändern, noch wird das traditionelle Arbeitsverhältnis aussterben. Für die Zukunft ergibt sich deshalb ein geteiltes Bild. «Ein Trend der Zukunft ist ganz sicher das mobile, virtuelle Arbeiten», prophezeit Josephine Hofmann vom Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Dabei sind die Grenzen fliessend: «Es gibt Modelle mit drei Tagen zu Hause und zwei Tagen im Büro. Und wenn jemand zu Hause am Abend oder Wochenende noch E-Mails liest, geht das auch schon in Richtung virtuelles Arbeiten», so Hofmann.
Das heisst, moderne Kommunikationstechnologien wie Mobiltelefone und Notebooks führen zwar dazu, dass Arbeitnehmer von zu Hause aus arbeiten könnten. Doch wird diese Möglichkeit eher punktuell eingesetzt, zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit oder eben abends und am Wochenende. Die reine Telearbeit von zu Hause aus ist in der Schweiz hingegen eher rückläufig: 2006 arbeiteten rund 190000 Menschen dauerhaft von zu Hause aus, fünf Jahre zuvor waren es noch 206000. «Die Prophezeiung, dass wir irgendwann alle daheim sitzen, hat sich nicht bewahrheitet», erklärt Hofmann. Das liege zum einen an den Unternehmen, die aus Sicherheits- und Datenschutzgründen Bedenken haben und auch auf eine restriktive Infrastruktur wie Grossrechner angewiesen seien. Zum anderen werde diese Arbeitsform aber auch nicht von allen Mitarbeitern nachgefragt: «Viele Arbeitnehmer wollen lieber ihre Kollegen sehen.»
Dennoch: Die technologische Entwicklung lässt die Grenzen zwischen Arbeit und anderen Lebensbereichen mehr und mehr verwischen – auf Kosten der Work-Life Balance. «Allein das Handy ist eine extreme Erweiterung der persönlichen Erreichbarkeit. Der Chef erwartet damit vielleicht, dass man auch am Wochenende greifbar ist. Das ist problematisch für Leute, die sich zu wenig abgrenzen können», erläutert Hofmann die Konsequenzen.
Für Oliver Strohm vom Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung (iafob) ist die zeitliche und örtliche Flexibilisierung nur eine der möglichen «Zukünfte»: «In Betrieben, in denen die Produktinnovation im Vordergrund steht, bestehen sicher viele Möglichkeiten für moderne Arbeitsformen. Innovation und Kreativität entstehen erst, wenn man Handlungsspielräume eröffnet.» Dem gegenüber stünden aber auch Branchen, deren Wettbewerbssituation vorwiegend durch Preise und Kosten bestimmt wird und weniger durch Innovation. «Besonders grosse Unternehmen mit klassischen Managementphilosophien werden wohl auch künftig auf traditionelle Arbeitsformen setzen.»