Vertrauen

«Null-Fehler-Systeme sind schwachsinnig»

Die thurgauische RWD Schlatter AG stellt die ersten völlig kompostierbaren Türen her – die Firma ist nicht nur innovativ und äusserst erfolgreich, sie steht auch unter wissenschaftlicher Beobachtung: Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften will der aussergewöhnlichen Unternehmenskultur der RWD auf den Grund gehen.

Rekrutieren ist für Roger Herzig kein Problem. Selbst gute Aussendienstmitarbeiter, die andernorts als Mangelware bezeichnet werden, braucht er nicht lange zu suchen. 
Erstens, weil der Geschäftsführer der RWD Schlatter AG über 80 Prozent der Stellen intern besetzt. Zweitens, weil immer wieder Menschen auf ihn zukommen, die gerne bei der RWD arbeiten möchten. Selbst jahrelange Konkurrenten. So etwas gibt es nicht nur bei angesehenen Weltriesen mit grossen Namen, sondern auch beim Türenhersteller im thurgauischen Roggwil.

Worin liegt das Geheimnis? Der Standort des Hauptsitzes kann es nicht sein. Roggwil, eingebettet in die schöne Landschaft zwischen Romanshorn und St. Gallen, ist ein hübsches Dorf, aber nicht gerade zentral. Beim Warten am lichtgefluteten Empfang der RWD Schlatter fällt jedoch etwas anderes auf: Der Pokal für den ersten Platz am cash Arbeitgeber Award 2009 steht hier. An der Wand hängt eine Urkunde der Regionalplanungsgruppe Oberthurgau, die die RWD Schlatter als «Oberthurgauer Unternehmen des Jahres» auszeichnet. Und auch für den Gewa-Award Powerful 50 plus, der besonders guten Umgang mit älteren Mitarbeitern würdigt, wurde das Unternehmen bereits nominiert.
«Die Geschäftsleitung hat sich vor rund 14 Jahren überlegt, was uns wirklich wichtig ist», erzählt Roger Herzig, der damals die Geschäftsleitung der RWD Schlatter AG übernahm, in seinem Büro. «Das Resultat war klar: Wirklich wichtig sind uns die Mitarbeiter. Das sagen alle, ich weiss. Aber die Realität sieht anders aus.»

Schritt für Schritt Kontrollen 
abgebaut

Die Wirklichkeit in der Unternehmenslandschaft – Roger Herzig beobachtet vor allem traditionelle Führungsmuster, starre Regeln und Hierarchien. Das entspricht ihm nicht. Er plädiert für einen Führungsstil, der auf Vertrauen beruht, Mitarbeiter fördert und Raum für Persönlichkeit und Kreativität lässt. Eine Unternehmenskultur, bei der Werte wie Respekt, Fairness und Anstand gelebt werden. Schritt für Schritt wurde bei der RWD eine solche Kultur aufgebaut. Stein um Stein kam dazu – oder besser: wurde entfernt. «Arbeitsrapporte, die Arbeitszeiterfassung und Kontrollen haben wir weitgehend abgeschafft», sagt Herzig. Sie würden nur von Misstrauen zeugen, was wiederum ein schlechtes Gefühl bei den Mitarbeitern hinterlasse. «Unseren sechs Aussendienstmitarbeitern beispielsweise gebe ich nur noch einmal im Jahr das Budget und die Rabatte bekannt. Den ganzen Rest machen sie alleine. Das funktioniert ausgezeichnet.»

Den Einwand, vielleicht habe er ganz besonderes Glück gehabt mit seinen Aussendienstmitarbeitern, lässt er nicht gelten. «Wir sind sehr engagiert in der Personalentwicklung und wir beobachten die Kompetenzen unserer Mitarbeiter genau – so konnten wir schon oft Mitarbeiter fördern. Ein Mitarbeiter in der Buchhaltung zum Beispiel hat ursprünglich bei uns in der Montage angefangen.»  

Auch die sieben Lehrlinge werden immer wieder mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Kürzlich haben sie ein eigenes Erfolgsbeteiligungssystem entwickelt, das dann eins zu eins übernommen wurde. «So haben sie auch selbstkritisch hinterfragt, was eine überdurchschnittliche Leistung überhaupt ausmacht», sagt Herzig.

Als Chef überlässt er seinen 170 Mitarbeitern Kompetenzen, traut ihnen etwas zu, lässt sie probieren. Vertrauen und Verantwortung seien aneinander gekoppelt, sagt Herzig. «Wenn die Führung ihren Mitarbeitern einen Vertrauensvorschuss gibt, erhöht sich automatisch deren Eigenverantwortung. So werden sie unabhängiger in der Denkweise und das nützt dem Unternehmen.» Passiert ein Fehler, wird er entpersonalisiert und gemeinsam eine Lösung gesucht. «Null-Fehler-Systeme sind schwachsinnig. Fehler sind Bestandteil eines harmonischen Systems», findet Herzig. Neben dem Vertrauen wird bei der RWD auch der Fairness ein hoher Stellenwert eingeräumt. Der Chef fährt das gleiche Auto wie die Aussendienstmitarbeiter, Parkplätze sind nicht reserviert. Alles andere wären «verdeckte Hierarchien», wie Herzig es nennt.

Vertrauensmissbrauch ist nicht ganz auszuschliessen

Eindeutig Chefsache ist für Herzig jedoch die Etablierung einer Vertrauenskultur. «Vertrauen lässt sich nicht diktieren, nur vorleben. Die ganze Geschäftsleitung muss den Mitarbeitern zeigen, dass ihnen vertraut wird. In der Konsequenz muss man auch einmal mit einem Vertrauensmissbrauch leben können. Aber das passiert auch misstrauischen Chefs.» Herzig umschreibt Vertrauen mit der Übergabe von Verantwortung, Vertrauensvorschüssen und vor allem: Ehrlichkeit. «Die ehrliche Kommunikation und Transparenz spielen eine enorm wichtige Rolle für das Vertrauen der Mitarbeiter.»

Gerade Letzteres ist für Herzig in der vergangenen Zeit schwieriger geworden: Seit die RWD Schlatter AG vom AFG-Konzern aufgekauft wurde, ist sie ein börsenkotiertes Unternehmen. Damit kann den Mitarbeitern weniger Information geliefert werden als bisher. «Nun braucht es die Zeit, um dem Team den Grund für die abnehmenden Infos und die neuen Strukturen genau zu erklären», sagt Herzig. Es ist bereits das vierte Mal in 20 Jahren, dass der Eigentümer der RWD wechselt. Alle Wechsel sind relativ reibungslos verlaufen. «Gerade wegen unseres guten Zusammenhalts», ist Herzig überzeugt.

Von der RWD Schlatter zum 
wissenschaftlichen Modell

Auf diesen Zusammenhalt, die gemeinsamen Werte und die starke Vertrauenskultur ist auch das Departement Angewandte Psychologie der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften aufmerksam geworden. Zwischen der RWD Schlatter AG und der ZHAW besteht schon länger eine Zusammenarbeit. Regelmässig besuchen Masterstudenten des Instituts für Angewandte Psychologie das Unternehmen. Bei Gesprächen mit Mitarbeitenden und dem Geschäftsführer staunen die Studierenden immer wieder über die Umsetzung und die Machbarkeit des Führungsmodelles und der Unternehmenskultur.

Um diesen Beobachtungen genauer auf den Grund zu gehen, wird das Führungssystem nun im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie erforscht. «Die RWD Schlatter AG stellt im Thurgau Türen her, die irgendwo auf der Welt viel günstiger produziert werden könnten. Und sie hat grossen wirtschaftlichen Erfolg damit, das hat uns fasziniert», sagt Hella Kotrubczik, Co-Autorin der Studie mit dem Titel «Werteorientierte Führung». Die eigentliche Forschungsfrage war sehr offen formuliert: Wie funktioniert das Führungssystem der RWD Schlatter AG? Lässt sich mit Hilfe von qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden ein Modell bilden, welches das System ausreichend beschreibt? Zudem versucht die Studie einen Praxisnutzen zu stiften, indem sie die Frage nach der Lernbarkeit eines solchen Führungssystems stellt (auf individueller wie auf kollektiver Ebene).

Noch ist die Studie nicht abgeschlossen, doch zeigt sich laut Kotrubczik: «Das Führungsmodell der RWD Schlatter beruht auf Werten wie Vertrauen und Identifikation, denen sich die Mitarbeiter stark verpflichten.» Weitere Arbeiten mit anderen werteorientierten Führungssystemen sollen folgen, damit man besser versteht, welche zentralen Prinzipien eine Rolle spielen. Diese Erkenntnisse würden die Entwicklung von Reflexions- und Lernformaten erheblich erleichtern, sodass weitere Personen vom praktischen Wissen profitieren können und nicht den ganzen Weg von vorne gehen müssen.

Was Karate mit der RWD-
Firmenphilosophie zu tun hat

Roger Herzig ist überzeugt, dass sich eine Vertrauenskultur für jedes Unternehmen lohnt. Der wirtschaftliche Erfolg gibt ihm Recht: In Benchmarks innerhalb der Holding und im Vergleich mit Konkurrenten schneidet die RWD Schlatter sehr gut ab. Das Geschäft ist äusserst erfolgreich. «Unser Team zeigt ein überdurchschnittliches Engagement, ist hoch motiviert und kreativ.» Die zahlreichen Labels für Nachhaltigkeit und die Vorreiterrolle, die die RWD in der Branche oft einnimmt – beispielsweise kommen die ersten voll kompostierbaren Türen der Welt aus Roggwil –  seien nicht von ihm angestossen worden. «Das waren Ideen unserer Entwickler, die Freude an ihrer Arbeit haben und viel Einsatz zeigen.» Auch das hohe Commitment der Mitarbeiter und die sehr tiefe Fluktuation sieht Herzig als Lohn für die gute Unternehmenskultur.

Er versteht darum nicht ganz, warum in der Ausbildung von zukünftigen Führungskräften nicht stärker auf solche Themen aufmerksam gemacht wird. «Junge Wirtschafter müssten in ihrer Ausbildung auch über ethische Grundwerte diskutieren. Darüber, was Geld, Karriere und Gier bedeuten. Vielen jungen Menschen könnten Werte plausibel erklärt werden.»

Herzig selbst ist in seiner Wertehaltung von der asiatischen Kultur geprägt. Im Büchergestell in seinem Büro steht neben Wirtschaftsschunken Literatur über fernöstliche Meditationen, und er hat auch selber Bücher zur fernöstlichen Lebensphilosophie geschrieben. Noch prägender aber ist sein Sport: Herzig betreibt seit vielen Jahren Karate und hat die Haltung eines guten Karatekas verinnerlicht. «Karate beginnt und endet mit Respekt. Menschen nehmen extrem gut wahr, wenn sie als Person respektiert werden. Diese Einstellung versuche ich zu leben, auch in unserem Betrieb.»

Buchtipp

Im Oktober ist das zweite Buch von Roger Herzig 
erschienen. In «Worte an die Menschenkinder» macht sich der Unternehmer 
William zum Einsiedler und Weisen Kato auf, um mit ihm über die zentralen Fragen des Lebens zu sprechen. Beeinflusst vom Gedankengut bedeutender Philosophen und spiritueller 
Denker gibt Herzig mit der Figur von Kato Antworten und Einblicke in das Geheimnis eines erfüllten und erfolgreichen Lebens.

  • Roger Herzig: Worte an die Menschenkinder. Spiegelberg Verlag, 2012, 171 Seiten, Hardcover, CHF 19.90

 

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos
Weitere Artikel von Stefanie Schnelli