Im Gespräch

Nur Narren verzichten auf Experimente

Mit gezielten Führungsexperimenten bringt Professor Hans A. Wüthrich Führungskräfte in seinem Forschungsprojekt «Musterbrecher» dazu, alternative Lösungen zu testen und neue Sichtweisen zuzulassen. Er kritisiert, dass sich
 Unternehmen zu einseitig an der Effizienz orientieren, erklärt warum das so ist und was dagegen getan werden kann.

Herr Wüthrich, Sie sind Mitinitiator des Forschungsprojekts «Musterbrecher». Worum geht es?

Hans A. Wüthrich: Vorurteile, Dogmen und Muster prägen die Art, wie wir Organisationen führen. Das Forschungsprojekt wirft den Blick hinter die Kulissen, hinterfragt Nichthinterfragtes und orientiert sich an der Leitfrage «Muss das so sein?». Wir haben die heute dominanten Führungsmuster und deren Konsequenzen auf die Art der Unternehmensführung analysiert. Anschliessend konnten wir über 60 Persönlichkeiten, sogenannte Musterbrecher ( siehe Kasten), lokalisieren, die kontra-intuitiv führen, also Dinge tun, die man an keiner Business School lernt. Heute begleiten wir Organisationen bei gezielten Führungsexperimenten.

Warum ist dieser Blick hinter die Kulissen nötig?

Tagtäglich erleben wir Unsinniges. Die Unsinnunterbrechung aber fällt schwer. Das  Primat der einseitigen Effizienzorientierung beispielsweise dominiert unsere Organisationen. Dies führt zu kulturellen Kollateralschäden und dazu, dass Unternehmen immer seelenloser und verletzlicher werden.

Was für Folgen hat die Seelenlosigkeit für die Unternehmen?

Um möglichst effizient zu sein, muss man die Komplexität reduzieren, was mit Hilfe von Regeln geschieht. Die Nebenkosten dieser Verregelung sind hoch: Leidenschaft und Begeisterung gehen verloren, Mitarbeitende leisten Dienst nach Vorschrift, Vielfalt muss dem Standard weichen und das vorhandene Potenzial ist nur begrenzt nutzbar. Dadurch werden Firmen immer selbstähnlicher; sie haben gleiche Strukturen und nutzen dieselben Systeme. Diese Seelenlosigkeit steht aber im Widerspruch zu der Einzigartigkeit, die es braucht, damit Unternehmen sich strategisch profilieren und abgrenzen können. Eine einseitig auf Effizienz fokussierte Organisation ist auch kein Talentmagnet, denn Talente wollen Sinn und Autonomie.

Was sind Musterbrecher?

Als Musterbrecher erleben wir Persönlichkeiten, die den vordergründigen Antworten misstrauen, die Fragezeichen tiefer setzen, das Undenkbare denken und experimentieren. Sie verwenden das Anderssein nicht als Etikett und führen mit einer anderen Haltung.

Und inwiefern kommt es zu Verletzlichkeit?

In einem unsicheren Umfeld müssen Organisationen sinnvoll mit Unerwartetem umgehen können, sie müssen widerstandsfähig sein und Störungen absorbieren können. Für die Belastbarkeit ist die Potenzialentfaltung der Mitarbeiter entscheidend. Doch Effizienz steht im Widerspruch zu Belastbarkeit.

Warum orientieren sich die Unternehmen und Führungskräfte so einseitig an der 
Effizienz?

An Führungskräfte werden unerfüllbare Rollenerwartungen gestellt: Vom Kapitän auf der Brücke erwartet man, dass er alles im Griff hat und die Organisation erfolgreich durch die raue See führt. Doch die Realität sieht anders aus, denn in komplexen Systemen lässt sich vieles nicht linear-kausal steuern. Zudem stehen die Führungskräfte unter enormem Zeitdruck. Es fehlt ihnen an Denk- und Reflexionszeit, weshalb kurzfristige Lösungen produziert werden. Dabei greifen sie auf bekannte Muster zurück; sie versuchen, Probleme nach dem Prinzip «mehr desselben» zu lösen. Nur funktioniert das oft nicht.

Warum nicht?

Muster stellen erfahrungsgeleitete Haltungs- und Handlungsprinzipien dar. Für bekannte Probleme sind diese sehr wertvoll, doch bei neuartigen Problemen ist ein Rückgriff auf Muster nicht möglich. Die Herausforderung besteht also darin zu erkennen, wann Muster als Navigationshilfe zielführend sind und wann sie zur Lernresistenz und zur Limitierung unserer Denkräume führen. Experimente stellen dabei eine wertvolle Möglichkeit dar, um neue Erfahrungswelten zu schaffen und die Qualität der Muster auf den Prüfstand zu stellen. Nur so wird es gelingen, Lösungen für neuartige Probleme zu finden.

Nicht alle Führungskräfte wollen bei Experimenten mitmachen. Welche Voraussetzungen braucht es überhaupt?

Notwendig ist eine Haltungsänderung, eine andere Art von Bescheidenheit. Diese manifestiert sich in drei Punkten: Annahme des Nichtwissens, Akzeptanz der Nicht-Steuerbarkeit komplexer Systeme und Souveränität des Nicht-Recht-haben-Müssens. Damit verfügen Führungskräfte über die notwendige innere Haltung, um ergebnisoffene Vorhaben zuzulassen. Für den Ausbruch aus dem Gewohnten eignen sich deshalb Führungsexperimente.

Hans A. Wüthrich

(56) ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Management an der Universität der Bundeswehr München sowie Privatdozent an der Universität St. Gallen. 2001 hat er, gemeinsam mit Dirk Osmetz und Stefan Kaduk, das Forschungsprojekt «Musterbrecher» initiiert.
www.musterbrecher.de

Wie gehen Sie bei den Experimenten vor?

Ausgangspunkt gezielter Führungsexperimente bildet eine zu überprüfende kontra-intuitive Idee, zum Beispiel «mehr Führung durch weniger Führung». Mit der Lizenz zum Experimentieren entlässt das Management eine Abteilung in die Freiheit. Für ein Jahr wird auf Zielvorgaben, Budgets und Beurteilungen verzichtet. Prozessbegleitend lässt sich beobachten, welche Effekte resultieren, wenn wir Regeln durch Urteilskraft ersetzen. Können Teammitglieder mit der gewählten Freiheit verantwortungsvoll umgehen oder entsteht Chaos? Welche Ziele werden verfehlt, welche neuen Opportunitäten werden genutzt?

Oder das Experiment «Führungsrotation»: In einem Leitungsgremium einigt man sich darauf, während sechs Monaten die jeweiligen Verantwortungsbereiche zu tauschen. Der Marketingleiter übernimmt die Verantwortung für die Produktion etc. Mit dem Wegfall der Fachkompetenz sind Führungskräfte gezwungen, mit Fragen und durch Sozialkompetenz zu führen. Wie geht die Unit mit dem Fachführungsvakuum um? Wie wird die Qualität der getroffenen Entscheidungen beeinflusst?

Was bringen diese Experimente?

Durch das Testen alternativer Lösungen entstehen wertvolle neue Erfahrungswelten und Sichtweisen. Diese wiederum bilden die Basis, damit man erkennt, welche Führungsmuster es zu überwinden lohnt. Das Experiment ist ein mächtiges Mittel zur gezielten Arbeit an der Führungsexzellenz und zur Entwicklung der Unternehmenskultur. Da Experimente auch scheitern können und somit ein Risiko für die Firmen bergen, gilt es, diese sorgfältig zu planen und in einem überschaubaren Rahmen durchzuführen.

Unter welchen Voraussetzungen können die Experimente funktionieren?

Experimente unterscheiden sich von der Projektlogik. Sie sind ergebnisoffen und erfordern die Bereitschaft der Verantwortungsträger, sich auf einen Prozess mit unbekanntem Ende einzulassen und daraus zu lernen. Neues entsteht, wenn das Management das System «Organisation» als unfertigen Prototyp sieht. Nur wenn Führungskräfte bereit sind, Regeln ausser Kraft zu setzen, können Experimente gelingen. Dies erfordert Mut, die Bereitschaft, Mitarbeitenden zu vertrauen, und eine Haltung, die auch im Scheitern einen Mehrwert sieht. Es gilt, eine produktive Kultur des Scheiterns zu entwickeln.

Und was sind die Folgen?

Nur wer Neues zulässt, kann Neues sehen. Dies gilt für die einzelne Führungskraft, das Team oder die Organisation. Oder wie es Charles Darwin gesagt hat: «Nur ein Narr macht keine Experimente!» Dieser experimentelle Spirit schafft Frei- und Gestaltungsräume für Mitarbeitende und bildet die Basis für die so wichtige Potenzialentfaltung.

Lassen sich die Ergebnisse Ihrer Experimente verallgemeinern?

Experimente zeigen ihre Wirkung in ihrem jeweiligen Umfeld. Deshalb sind sie firmenübergreifend nur begrenzt übertragbar. Innerhalb der Organisation lassen sich aber neue Erfahrungswelten multiplizieren. Unser Anspruch ist nicht missionarisch. Mit Impulsen und Denkangeboten laden wir Führungskräfte ein, das Selbstverständliche zu hinterfragen und mutig zu experimentieren.

Verlosung

Im Januar spricht Hans A. Wüthrich am Berner HR- und Wirtschaftsforum. In seinem Impulsreferat stellt er ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojekts «Musterbrecher »vor. Danach nimmt er an einem Panelgespräch zum Thema teil, gemeinsam mit Hansruedi König (PostFinance), Samy Liechti (Blacksocks SA) und Natalie Rüedi (Emmi Gruppe). HR Today verlost 30 Einladungen. Schreiben Sie eine Mail an: info(at)hrtoday.ch / Betreff: HR-Forum

Mittwoch, 23. Januar 2013, 17 Uhr, Kursaal Bern
18. Berner HR- und Wirtschaftsforum
Die Musterbrecher. Führung neu leben
www.bernerhrforum.ch

 

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