Porträt

Ob Mensch oder Tier: Jedes Wesen 
hat das Recht auf ein gutes Leben

Die HR-Leiterin Esther Geisser ist ehrenamtlich – und leidenschaftlich – Tierschützerin. Sie sieht viele Parallelen in ihren zwei Tätigkeiten: HR wie Tierschutz kämpfen mit knappen Ressourcen. Beide haben den Ruf, nur zu kosten. Und beide konfrontieren mit Leid, schenken aber auch Glücksgefühle, wenn einem Mitarbeiter oder einem Tier geholfen werden kann.

Sie holt den Kaffee für den Besuch schnell selbst und zwinkert: «Auch die Kollegen sind sehr ausgelastet.» Esther Geisser ist HR-Leiterin der Finanzdirektion des Kantons Zürich. Derzeit steckt ihr Team mitten in diversen Projekten zu Themen wie Anwesenheitsmanagement, neue Arbeitszeitmodelle oder Kadernachwuchsförderung.

Esther Geisser, das sind 1,59 Meter geballte Frauenpower, die man auf den ersten Blick nicht vermutet. Sie trägt einen kurzen, feschen Rock und eine Bluse, die ihre zierliche Figur betont, dazu Riemchensandalen mit hohen Absätzen. Doch schon nach wenigen Minuten im Gespräch mit ihr wird klar: Man hat es hier nicht mit einem zartbesaiteten Persönchen zu tun. Neben ihrem Einsatz für den Menschen, der ihren Job bestimmt, ist Geisser leidenschaftliche Tierschützerin, die sich selbst für nichts zu schade ist. Damit kokettiert sie nicht. Es ist ihre grundlegende Überzeugung, dass jedes Leben schützenswert ist und dass jedes Lebewesen ein Recht auf ein gutes Leben hat. Ihre ganze Freizeit widmet sie dem ehrenamtlichen Engagement.

Bewusste Distanzierung vom 
«Teppichetagen-Tierschutz»

Nach 20 Jahren Freiwilligenarbeit für verschiedene Tierschutzorganisationen gründet Geisser mit zwei Partnern im Jahr 2008 die Organisation NetAP (Network for Animal Protection). Denn zwei Dinge haben sie immer gestört: dass viele Organisationen sich im Alleingang profilieren wollen und die Verschwendung von Spendengeldern. Von «Teppichetagen-Tierschutz mit tollem Konzept, aber ohne Einbezug der lokalen Besonderheiten» hält Geisser gar nichts. «Wenn mir jemand 100 Franken für die Tiere anvertraut, sollen diese auch beim Tier ankommen.» Die Büro- und Lagerräume und vieles mehr zahlt der Vorstand aus eigener Tasche. Vorstand, Tierärzte und Helfer investieren ehrenamtlich ihre Zeit.

Ihre Tierschutzeinsätze führen Geisser, neben der Schweiz, nach Thailand, Indien, Tansania, Italien und Osteuropa. Schwerpunkte setzt die Organisation bei Nutztieren und Streunern, hierzu gehören etwa Kastrationseinsätze im In- und Ausland. «Aus einem Katzenpaar können in zehn Jahren theoretisch etwa 80 Millionen Katzen hervorgehen, wenn man sie nicht kastriert», weiss Geisser. «Jede Kastration verhindert unendlich viel Leid.» Am liebsten würde sie die ganze Welt retten. «Es ist zwar nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Doch für jedes einzelne Tier, dem wir helfen können, sind es 100 Prozent Leben.»

Das könnte auch das Stichwort für Geissers Leitgedanken sein. Sie gibt stets 100 Prozent. Der Kanton Zürich ist einer der grössten Arbeitgeber und bietet der energiegeladenen Frau die Möglichkeit, einerseits als Generalistin den Gesamtüberblick zu behalten und sich andererseits in verschiedene Projekte einzuklinken. «Eine öffentliche Verwaltung ist spannender, als man denkt. Nichts mit verstaubter Bürokratie», winkt Geisser ab. Schon gar nicht sei es hier immer angenehm ruhig, mit vielen Pausen. «Es herrschen hohes Tempo und grosse Arbeitsbelastung. Als Geschäftsleitungsmitglied des kantonalen Personalamtes ist Geisser zudem an Entscheidungen beteiligt, die letztlich 33 000 Mitarbeiter betreffen. Der politische Kontext mache es manchmal nicht einfacher, zum Beispiel wenn es um Stellenplanänderungen geht, aber es sei auch positiv herausfordernd, mit der Politik eine Anspruchsgruppe mehr als in anderen Unternehmen abholen zu müssen.

In Indien 5000 Hunde geimpft und 
mit Farbe besprüht

Nach Büroschluss ruht sie sich nicht etwa aus. Vielleicht wird manchem Leser Geissers Name bekannt vorkommen. Seit 2006 schreibt die Juristin in ihrer Freizeit ab und zu für die Rubrik «Arbeit und Recht» im HR Today. Am liebsten hat sie, wie kann es anders sein, den Artikel zum Thema Arbeitsrecht und Tierschutz (Ausgabe September 2007) verfasst.

In einer Region in Indien ist Tollwut ausgebrochen und Hunde werden illegal totgeschlagen. Dort finanziert Geisser mit NetAP durch einen lokalen Partner eine Impfkampagne. Eine Impfdosis kostet einen Dollar. Bis jetzt wurden 5000 Hunde geimpft und mit Farbe angesprüht, damit die Menschen wissen, dass von diesen Tieren keine Gefahr ausgeht. «Mit 5000 Dollar 5000 Leben retten, das sind eine Menge von Tropfen», so Geisser. Selbst in ihren Ferien ist sie meist in Sachen Tierschutz unterwegs, vernetzt sich mit lokalen Tierschützern und packt an, wo immer ihre Hilfe gebraucht wird.

Als Kind heimlich Kleidungsstücke an Mitschülerinnen verschenkt

Erst im Alter von 33 Jahren nimmt Geisser nebenberuflich ein Jurastudium auf. Sie entscheidet sich für Fribourg, weil es dort zu dieser Zeit keine Anwesenheitspflicht gibt. Sie kann sich ihr Studium selbst einteilen und marschiert diszipliniert durch. Dass sie zum älteren Semester gehört, stört sie nicht. «Ich war auch nicht alleine. Wir trafen uns immer auf dem Seniorenbänkli und hatten das Privileg, ganz vorne zu sitzen», lacht sie. Alle älteren Studenten ziehen wie sie ihr Studium zügig durch. «Wahrscheinlich weil man in dem Alter weiss, was man will, und keine Zeit zu verlieren hat.»

Nach der Matura in Zürich hat sie zunächst die Nase voll vom Lernen und startet ihre Berufslaufbahn im Tourismus, wo sie auch die ersten Gehversuche in einer Führungsposition unternimmt. Da sind Rekrutierung und Personalbetreuung auch schon ein Thema. So kommt sie aufs HR und denkt sich: Das könnte mir langfristig Freude machen. Sie bildet sich weiter von der Personalassistentin bis zur Personalfachfrau mit eidgenössischem Fachausweis. Im Jahr 2000 wechselt sie als HR-Leiterin zum Personaldienstleister Randstad und ist im Zuge ihres berufsbegleitenden Studiums auch für juristische Fragen zuständig. Dabei wollte Geisser als Kind eigentlich Tierärztin werden. «Das hat man mir von allen Seiten ausgeredet, ich sei zu klein und dann auch noch als Frau, so ein anstrengender Beruf … und so weiter.» Damals fehlt es ihr noch an Selbstbewusstsein, ihren Traum zu verwirklichen, was sie heute bereut. «Aber ich lerne auf unseren Tierschutzeinsätzen immer dazu und kann immerhin schon wie ein Lehrling assistieren; ausserdem sind gute Rechtskenntnisse im Tierschutz auch sehr viel wert.»

Schon als Kind hilft Geisser jenen, denen es nicht so gut geht. Heimlich verschenkt sie Kleidungsstücke an Mitschülerinnen. Ihre Eltern ersetzen ihr die «verlorene» Jacke oder den Pullover. Als sie später die Wahrheit erfahren, können sie ihrer Tochter nicht böse sein und bestärken sie in ihrer Hilfsbereitschaft. Zur Familie gehören neben dem Bruder auch ab und zu ein Pflegekind und immer Katzen. Und die kleine Esther schleppt oft verletzte oder ausgesetzte Tiere an. Im Alter von sechs Jahren beginnt sie sich zu weigern, Fleisch zu essen. «Ich habe nie verstanden, warum man für ein bisschen Essen ein ganzes Leben auslöschen muss.» Zu der Zeit kennt sie das Wort Vegetarier noch nicht. Die Eltern gehen davon aus, das Kind sei «in so einer Phase», die vorübergehe. Doch die Phase hält bis heute an. «Erstaunlich war», so Geisser, «dass ich mit meiner Überzeugung eher bei Erwachsenen als bei Gleichaltrigen angeeckt bin.»

«Früher habe ich gedacht, das Huhn lege ja sowieso jeden Tag ein Ei»

Seit einigen Jahren bezeichnet sich Geisser zudem als «Möchtegern-Veganerin» und versucht auf jegliche Tierprodukte zu verzichten. Keine Eier, keine Milchprodukte, keine Daunen, kein Leder. Manchmal macht sie Ausnahmen, zum Beispiel, wenn die Kollegin einen Geburtstagskuchen mitbringt. Heute hat Geisser natürlich viel mehr Argumente als damals als Kind. «Man braucht zum Beispiel etwa 16 Kilo Getreide, um ein Kilo Rindfleisch herzustellen, das ist doch einfach ein Witz», sagt sie.

Nicht nur aus Tierschutzgründen seien heute viele Vegetarier, sondern auch weil sie ein Signal gegen den Welthunger setzen wollten oder aus ökologischer Sicht. «So viele Lebensmittel werden vernichtet für die Fleischproduktion. Und die Umweltbelastung durch die Fleischproduktion ist höher als die Belastung durch den gesamten Verkehr.» Vielen Menschen, meint sie, fehlten nur die nötigen Informationen. «Früher habe ich auch gedacht, das Huhn lege ja sowieso jeden Tag ein Ei, und weil es nicht alle ausbrüten könne, ässen wir die Eier eben. Aber ein Huhn, das weit über 10 Jahre leben könnte, wird nach etwa einem Jahr getötet, weil es wegen der bevorstehenden Mauser nicht mehr profitabel ist. Es ist doch ein Irrsinn. Weil wir immer neue Hühner brauchen, produzieren wir Nachwuchs, wobei die Hähne ja keine Eier legen und sich die Rasse, die für die Eierproduktion gezüchtet wird, nicht für die Fleischproduktion eignet. Deshalb werden alleine in der Schweiz jährlich etwa zwei Millionen dieser Küken geschreddert oder vergast.» Geisser nennt die Dinge ohne Umschweife beim Namen. Nur Jammern kommt bei ihr nicht gut an.

Sie sucht als HR-Leiterin nach konstruktiven Lösungen und erwartet von den Mitarbeitern ebenfalls Offenheit. Sie ist eine geduldige Zuhörerin, lebt leidenschaftlich für und mit den Menschen in der Finanzdirektion. Wenn sie aber merkt, das System oder ihr Vertrauen wird missbraucht, kann ihr auch mal der Kragen platzen. Zu den Linienvorgesetzten hat sie, wie sie sagt, ein sehr gutes Verhältnis. «Auch die sind es gewohnt, dass ich offen anspreche, was ich denke.»

Von Freud, Leid, Ängsten und Glücksgefühlen

Nach einem Tierschutzeinsatz gibt es oft Bilder, die gehen auch der langjährigen Aktivistin für den Tierschutz nicht so schnell wieder aus dem Kopf. Dann ist sie manchmal etwas ungeduldiger als sonst. «Wenn dann gleich von Mobbing die Rede ist, weil der Chef nicht nett guten Morgen sagt, dann denke ich schon, mein Gott, was für Sorgen.» Es sind zwei Welten, die aufeinanderprallen, die aber doch nicht so weit voneinander entfernt sind. HR und Tierschutz. Geisser sieht hier durchaus Parallelen. «Psychologisches Fingerspitzengefühl braucht man im HR genauso wie im Tierschutz. Auch das HR muss immer um Ressourcen kämpfen und hat den Ruf, es koste nur», schmunzelt sie. In beiden Funktionen sei sie mit Leid, Sorgen und Ängsten konfrontiert und habe doch auch immer wieder Glücksgefühle, wenn sie für einen Mitarbeiter, den Arbeitgeber oder ein Tier etwas Gutes erreichen konnte. Sie muss stets klar priorisieren: «Ein Mitarbeiter hat Sorgen und wünscht ein Gespräch, gleichzeitig werde ich in einem wichtigen Projekt gebraucht. Oder: Es ist ein Tier in Not, und es zu retten kostet mich 1000 Franken. Ich kann aber auch für diese 1000 Franken 1000 Hunde impfen, wie jetzt in Indien.» Meistens läuft es dann darauf hinaus, dass sie aus eigener Tasche dazuzahlt, damit sie beides tun kann. Und für das Mitarbeitergespräch macht sie Überstunden.

Esther Geisser ist Juristin, HR-Leiterin und Tierschützerin. Nach ihren ersten Berufsjahren in der Tourismusbranche wechselte sie in den Personalbereich, wo sie ihr grosses 
Interesse am Arbeitsrecht entdeckte, und absolvierte kurzentschlossen, neben ihrer Tätigkeit als HR-Managerin bei Randstad, ein Jurastudium. Seit 2006 leitet sie den Bereich Human Resources der Finanz-direktion des Kantons Zürich mit rund 1000 Beschäftigten und ist gleichzeitig Mitglied der Geschäftsleitung des kantonalen Personalamtes. Geisser ist Mitbegründerin und Präsidentin der Tierschutzorganisation NetAP – Network for Animal Protection.

20 Sekunden mit Esther Geisser

Ein Buch: «Die Schneegans» von Paul Gallico
Ein Film: «Die Verurteilten»
Ein Essen: Ravioli an Cashew-Cream-Sauce, gefüllt mit geräuchertem Tempeh
Ein Ort: das Pantanal
Ein Lebensmotto: Tierfreund zu sein, gehört zu den grössten seelischen Reichtümern des Lebens
Ein Talisman: ein Silberherz mit dem Namen eines verstorbenen Freundes

NetAP

NetAP (Network for Animal Protection) ist eine im In- und Ausland tätige Tierschutzorganisation, die sich für Tiere in Not, insbesondere Strassen- und Nutztiere, engagiert und sich zum Ziel gesetzt hat, die Lebensqualität der betroffenen Tiere nachhaltig zu verbessern. Jede Spende kommt direkt den Tieren zu Gute. Infos unter www.netap.ch.

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