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Obdachlose und Zeitarbeiter

Hysterie braucht ein Publikum. Journalisten wie Robert Hetkämper von der ARD nutzen dies. Als er am 18. März schilderte, wie Japaner die Fukushima-Katastrophe bewältigen, sprach er davon, dass die Betreibergesellschaft jetzt Obdachlose und Zeitarbeiter nach Fukushima sendet, Entscheidungen, die er mit der Wehrmachtsführung der letzten Apriltage 1945 verglich.

Offenbar ist in einer solchen Situation einem verängstigten Besserwisserwutbürgertum jede Rhetorik willkommen und Journaille die Forderung der quotenhungrigen Redaktionen. Die Frage nach dem Fakt tritt in den Hintergrund, das journalistische Einschlagen auf einen angezählten Gegner wird zum Journalismus. Originalkommentar der von mir kritisierten ARD-Redaktion: «... in der Tat geht er in seiner Rhetorik unkonventionell vor. Doch gerade das wird von sehr vielen Zuschauerinnen und Zuschauern als sehr erfrischend positiv empfunden … Auch wir, die Redaktion, finden Hetkämpers abgeklärte Art der Einschätzung der Lage in Japan gerade wegen der extrem besonderen Umstände sehr gut.»

Zeitarbeit braucht keine Dramatik, um sich zu beweisen

Ein wenig kleinlaut und in einem Nebensatz wird dann zwei Tage später erklärt, dass sich die Obdachlosengeschichte «nicht bestätigt» habe. Robert Hetkämper hat Obdachlose und Zeitarbeiter als Kategorie von Mitmenschen identifiziert, die sich als Einwegarbeiter ohne Rückkehr anbieten. Das ist arrogant. Das mit den Obdachlosen war eine Falschmeldung. Mit Falschmeldungen diskreditiert sich ein Journalist selbst. Das mit den Zeitarbeitern war eine verpasste journalistische Gelegenheit, spannende Zusammenhänge anzusprechen.

Als am 30. März die Chefin des französischen Atomriesen AREVA, Anne Lauvergeon (Atomic Anne), an der Spitze eines Spezialistenteams nach Japan reiste, erklärte sie den japanischen Behörden gegenüber: «Considérez nous comme vos employées …» Dieser kurze Satz sagt viel aus. Erstens, wir akzeptieren Ihr Management. Zweitens, wir erwarten Ihre Weisungen. Drittens, wir sind Ihre Zeitarbeiter. So spricht, wer Kultur hat und Kultur versteht, vive la France!

Herr Hetkämper, Atomkraftwerke haben zyklische Arbeitsabläufe und kein Atomkraftwerk könnte ohne Zeitarbeiter funktionieren. Spezialisierte und hochspezialisierte Mitarbeiter, die im Rhythmus der aperiodisch anfallenden Arbeiten eingesetzt werden. Darunter sind Hochschulabsolventen so gut vertreten wie Mechaniker, Monteure und Hilfspersonal. Damit ist der Einsatz von Zeitarbeitern in Fukushima Gebot der Stunde und nicht Ohnmacht des Augenblicks. Diese Professionals wissen genau, was sie tun. Das sind keine Hasardeure. Einige von ihnen tun ihre Arbeit trotz Gefahr und Folgen bis zur Selbstaufgabe – John Maynards unserer Zeit – ihrer wird sicher einmal ein Deutscher gedenken, wahrscheinlich kein Journalist, eher ein Dichter.

Zeitarbeit braucht keine Dramatik, um sich zu beweisen. Sie ist längst unverzichtbares Element von funktionierenden Arbeitsmärkten und als solches anerkannt. Der Paradigmenwechsel von der Lebensarbeitsstelle zur flexiblen, mobilen Arbeitsstelle hat stattgefunden. Die Strukturen des Arbeitsmarkts und die gesetzlichen Rahmenbedingungen haben mit der Entwicklung nicht Schritt 
gehalten. Eine Mehrheit von Politikern und Gewerkschaften versucht immer noch, die Dynamik durch Einbettung in alte Strukturen kontrollierbar zu machen. Arbeitsformen, die nicht in das Gefüge der bestehenden Arbeitsmarktstrukturen passen, werden bevorzugt für prekär erklärt und zum politischen 
Abschuss freigegeben. Solches Verhalten ist töricht und volkswirtschaftlich schädlich, weil es dazu führt, dass überholte Strukturen zementiert und Wettbewerbsnachteile in Kauf genommen werden.

Das Prinzip des «Equal Pay und Equal Treatment»

Zielführend wäre es, wenn einer ökonomischen Wertanalyse der Zeitarbeit ein angepasster HRM-Rahmen und ein entsprechendes internationales Framework folgten. Ansätze dafür bestehen. So sieht die europäische Richtlinie zur Zeitarbeit das Prinzip des «Equal Pay und Equal Treatment» für Zeitarbeitnehmer vor, von dem bei entsprechender gesetzlicher oder tarifvertraglicher Regel 
abgewichen werden kann:

  1. 
wenn Abweichungen vom Equal Treatment nur im Rahmen des Arbeitsentgelts erfolgen,
  2. 
wenn Equal-Treatment-Abweichungen nur für unbefristete Arbeitsverhältnisse gelten und
  3. 
wenn Zeitarbeitnehmer auch zwischen zwei Einsätzen bezahlt werden.

Die Richtlinie wurde am 22.10.2008 beschlossen und muss nach einer dreijährigen Übergangsfrist in den Ländern der EU – also im Oktober 2011 – umgesetzt sein.

Interessanterweise ist in der Diskussion kaum laut geworden, dass bei Vorliegen vergleichbarer Verhältnisse der Zeitarbeitnehmer besser entlohnt werden sollte als der 
Festangestellte. Das geböte das ökonomische Prinzip als Entgelt für das zusätzliche Zurverfügungstellen von Flexibilität.

In Mangelberufen ist Flexibilität 
salärmässig umsetzbar

Der Ansatz des Equal Pay und Equal Treatment ruft nach einer individuellen Betrachtung und einer überprüfbaren Arbeitsmarktwert-Beurteilung des Zeitarbeitnehmers. Es wird zu prüfen sein, ob hohe gleichmacherische Tariflöhne oder die Praxis von Grossbetrieben, Zeitarbeitnehmer über Einkaufsabteilungen zu Pauschallohnbedingungen zu beschäftigen, Bestand haben können.

Die Realität ist hier oft weiter als die Sozialpartner und namentlich auch der Gesetzgeber. In den klassischen Mangelberufen im Ingenieur- und Technik-, aber auch im Handwerks- und Pflegebereich ist Flexibilität werthaltig und salärmässig umsetzbar.

Die sich gegenwärtig im Entstehen befindende Studie des europäischen Dachverbandes der Zeitarbeit CIETT wird über einige Aspekte der zukünftigen Ausgestaltung der Zeitarbeit interessante Aufschlüsse geben.

Es bleibt zu wünschen, dass die individuelle Leistungsbetrachtung auch im sozialpartnerschaftlichen Dialog ihren Widerhall findet. Hier herrscht weiterhin das Bemühen vor, Zeitarbeit über Tarife zu nivellieren und über künstliche Verteuerung und Lohnumlagen zugunsten der Stammbelegschaften unattraktiv zu machen. Dieser Ansatz ist unsozial und rechtlich und politisch nicht zu halten. Wirtschaftsbranchen und Gewerkschaften sind eingeladen, die notwendigen branchenübergreifenden horizontalen Strukturen für die Regelung der Zeitarbeit mit zu gestalten. Das erfordert Mut und ein beträchtliches Mass an lateraler Denkfähigkeit. Der sich seit drei Jahren in Diskussion befindende Vorschlag für einen Gesamtarbeitsvertrag ist Ausdruck des beschwerlichen Wegs zu einer tragfähigen Sozialpartnerschaft. Ausdruck von Mut wäre der Entschluss, mit dem Machbaren zu starten und das Wünschbare anzustreben. Dafür gibt es Denkräume.

Es ist vertretbar und macht ökonomisch Sinn, dass ein Zeitarbeitnehmer bei Vorliegen gleicher übriger Voraussetzung mehr verdient als ein Stammbelegschaftsmitarbeiter. Wenn der Gesetzgeber Zeitmitarbeiter verpflichtet, Abgaben für Weiterbildung und Sozialversicherungen zu leisten, und davon aber nur Stammbelegschaften profitieren lässt, handelt er im Acquis-communautaire-Bereich des Personenfreizügigkeitsabkommens europarechts- und bundesverfassungswidrig. In der Schweiz ist diese Diskriminierung der Zeitarbeiter Realität. Entsprechende Korrekturen sind dringlich. Es ist anzustreben, dass ein Zeitarbeitnehmer eine Hypothek für eigenbewohntes Eigentum zu gleichen Konditionen erhalten kann wie ein Mitarbeiter mit einer festen Anstellung. Die soziale Abfederung der Lebensrisiken muss für Zeitarbeitnehmer sichergestellt werden. Innovative 
Lösungen wie die AHV-Ausgleichskasse swisstempcomp, die Familienausgleichskasse swisstempfamily und die BVG-Stiftung swiss-temptrust sind wegweisend und könnten auch für Teilzeit-Arbeitende und Versicherte in der Auffangeinrichtung wegweisend sein.

Zeit für sozialpartnerschaftliche 
Lösung ist limitiert

Sollte dem sozialpartnerschaftlichen Dialog der Erfolg versagt bleiben, müssen die im Zuge der flankierenden Massnahmen erfolgten Regeländerungen für die Zeitarbeit durch den Gesetzgeber angepasst werden. Die verfügten Strukturen zur Sicherstellung gleich langer Spiesse zwischen Anbietern mit vorwiegend fest Angestellten und Anbietern mit vorwiegend temporär Beschäftigten führen zu Opportunitätskosten von 15 Millionen Franken jährlich. Die Unterstellung jedes Personalverleihers unter die Kontrolle der paritätischen Organe von allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen schafft eine durch niemanden koordinierte Kontrollfestlegung von rund 100 Rechtsträgern (inklusive tripartiter und kantonaler Institutionen) und konkret von bis zu 200 Kontrolltagen bei Personalverleihern.

Die fehlende Bereitschaft der paritätischen Kommissionen, über die Verwendung der eingezogenen Gelder Rechenschaft abzulegen, und die Unfähigkeit des Seco, das geltende Gesetz gegenüber den paritätischen Kommissionen durchzusetzen, bedingen vernünftige Lösungen, die für die paritätischen Kommissionen umsetzbar sind und die die Ansprüche der Zeitarbeiter auf adäquate Gegenleistungen berücksichtigen.

Die reglementarische Ausgestaltung des flexiblen Altersrücktritts in Branchen mit entsprechenden allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen macht den finanziellen Beitrag eines Zeitarbeitnehmers faktisch zur Lohnsteuer. Ohne Gesamtarbeitsvertrag für Zeitarbeitnehmer ist eine befriedigende Regelung dieser Punkte dringlich zu erarbeiten. Die Agenda wird durch das Wahljahr 2011 diktiert. Die Zeit für eine sozialpartnerschaftliche Lösung ist limitiert.

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Georg Staub ist Präsident von swissstaffing.

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