Im Gespräch

Paradigmenwechsel in Unternehmen: Management als Pflegeberuf

Experten heben immer häufiger hervor, dass Mitarbeiter in Unternehmen mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten. Doch ist diese Verantwortung reduziert auf gedankliche Spielereien? Frank E. P. Dievernich, Professor am Kompetenzzentrum Unternehmensführung der Berner Fachhochschule, und Connie Voigt, Chefredaktorin von HR Today, philosophieren über die «Wirksamkeit des Tuns» und die noch ausbleibende Realisierung einer «Corporate Organizational Responsibility».

Connie Voigt (CV): In der Angewandten Ethik wird von allen Trägern der Gesellschaft, also auch und gerade von Unternehmern und Managern, erwartet, dass sie ihr Verantwortungsbewusstsein nicht auf die Verantwortung des eigenen Tuns beschränken, sondern ihre Rolle in Zusammenhängen ihres Unternehmens und ihrer Gesellschaft gesamtheitlich sehen. Es geht also sozusagen darum, eine Art «Corporate Organizational Responsibility» zu leben, wie Sie ja in Ihrem letzten Buch angedacht haben.(1)

Frank E. P. Dievernich (FD): Genau! Wir sollten mit unseren Organisationen und Unternehmen anfangen, wenn wir von Verantwortung sprechen. Stattdessen befassen wir uns schon mit Gesellschaft, ohne Ersteres ernsthaft sichergestellt zu haben. Folglich kann ich dieses Gerede über die «Corporate Social Responsibility» nicht mehr hören. Bei genauerer Betrachtung fördern diese Programme höchstens das «Gutmensch-Denken» auf einer Projektbasis, nicht aber wirkliches, tiefer gehendes langfristiges Verantwortungsbewusstsein zum Wohle des gesamten Unternehmens. Konterkariert werden diese Ansätze zudem durch die immer kurzfristiger greifenden Zielvereinbarungssystematiken. So kenne ich Unternehmen, die mittlerweile quartalsweise neue Zielvereinbarungen treffen.

Dieses Vorgehen kann nur zu stückweisen, kurzfristig angelegten Erfolgen führen. Dabei stellt sich die Frage, wie Manager Unternehmen verantwortungsbewusst steuern sollen, wenn sie ihre kurzfristig angelegten Ziele nicht mit dem gesamten Unternehmen und eben in einem zweiten, noch weiter entfernten Schritt mit der Gesellschaft verflechten oder auf sie beziehen können. Zeit haben sie jedenfalls dafür nicht. Diese sich zu nehmen und wieder einzuführen, wäre im Übrigen ein erster Schritt, Verantwortung für das eigene Unternehmen zu übernehmen. Zeit bietet nämlich die Möglichkeit, endlich zu sehen, was man da eigentlich macht und für wen das gut oder schlecht ist.

CV: Aber die Realität ist doch, dass Geschäftsleitungen keine Zeit finden, um gesamtheitlich zu denken und zu handeln. Besonders wenn sie die Chefs von börsennotierten Unternehmen sind, spüren sie wöchentlich – wenn nicht täglich – den Druck ihrer Investoren, sobald ihre Kurse an der Börse nach unten tendieren. Somit werden sie nicht zuletzt von ihren Verwaltungsräten zu kurzfristigem Handeln angehalten. Wie können sich diese CEO aus diesem Teufelskreis herauseisen?

FD: Es braucht Mut und vor allem auch den Willen zur Erkenntnis, dass diese Tretmühle ein systemimmanentes Problem ist.

CV: Und wie – und vor allen Dingen: wer – ändert dann das System, wenn sich alle in demselben befinden?

FD: Zunächst geht es darum, die Angst vor systemimmanenten Veränderungen abzubauen und eine neue Managementfunktion zu kreieren, die mit einem Pflegeberuf verwandt ist. Dabei können Manager beispielsweise über die Grundeinstellung des Pflegens den Ideenreichtum und die Umsetzung von Ideen bei ihren Mitarbeitenden nähren. Hätten Unternehmen Pfleger im Haus, würden diese sich um bestimmte Prozesse sorgen, sich kümmern – eben in einer Pflegefunktion die Strategie unterstützen, die langfristig zu einem bestimmten Ziel führen soll. Aber die Umsetzung einer solchen Funktion setzt voraus, dass erst mal eine gewisse Irritation im System eine neue Energie entfaltet.

CV: Ich denke, das System des kurzfristigen Handelns hat diese Irritation bereits durch die Finanzkrise bekommen, nur entfaltet sich noch keine neue Energie. Die Situation ist zu vergleichen mit dem Steuerrad eines Schiffs, das nicht mehr funktioniert. Das Schiff fährt richtungslos durch die Meere, ohne anders handelnde Kapitäne, die das Steuer reparieren und in eine neue Richtung lenken. Die grosse Herausforderung besteht darin, eine Offenheit für Experimente und eine Freude an Überraschungseffekten zu entwickeln; vielleicht sogar die Kompetenz zu entwickeln, das steuerlose Treiben des Schiffes mal geniessen zu können. Nehmen wir das Beispiel der Feedbackbögen auf Fachveranstaltungen. Da wird immer gefragt, ob das Event die Erwartungen der Teilnehmer erfüllt habe.

Ich frage mich jedes Mal: welche Erwartungen? Weshalb gehen diese Veranstalter davon aus, dass Leute mit Erwartungen durch die Welt gehen. Es könnte doch auch möglich sein, dass ich mich als Teilnehmer einfach insofern überraschen lassen möchte, dass ich mit Offenheit durch den Tag gehe und den Referenten mit dieser Einstellung die Option einräume, auch mal vollkommen unkonventionell und schräg Themen anzugehen, genauer gesagt, dies «zu wagen», denn es trauen sich viele Vortragende kaum, mal Ideenexperimente auf das Podium zu bringen. Mich beschleicht manchmal der Eindruck, dass alles, was wir tun, schon vorher gesteuert ist und kein Raum gewährt wird für neue Kurse. Wir leben sozusagen übersteuert, ohne Lust auf Wagnis.

FD: Das sehe ich auch so. Das genau ist der teuflische Mechanismus einer Pfadabhängigkeit. Es ist manchen Managern der Mut vergangen, Dinge auch einfach mal «organisch» entstehen zu lassen. Delegieren ohne Kontrolle ist für viele unmöglich durchzuführen, ja, auch unmöglich zu denken, da nach wie vor Führung verstanden wird als Steuerungsrichtung. Wir haben insofern ein zusätzliches Steuerungsproblem, denn wenn wir Mitarbeitenden kein Vertrauen schenken, welches eigentlich dahin führen sollte, nicht mehr den Kontrollwahn zu vollziehen, dann fühlen sich diese Mitarbeitenden auch nicht befähigt, von sich aus experimentell zu denken und neue Gedanken auszutauschen. Menschen sind letztlich gegen diese «Freiheit» immunisiert worden.

Management als Pflege würde diese Kompetenz explizit wieder anregen wollen. Führung präsentiert sich dann als zielorientierte Pflege, nicht aber als Vorgabe eines einzuhaltenden, bereits definierten Weges. Führung so verstanden ist dann bloss die vertrauensvolle Kultivierung einer Struktur, die das Auftauchen von Entscheidungs- und Handlungsoptionen quasi wieder natürlich möglich macht. Pflege richtet sich also auf Personen und auf organisationale Strukturen.

CV: Die gegen die Freiheit immunisierten Mitarbeiter erinnern mich an Zirkus- oder Zootiere, die in Gefangenschaft aufgewachsen sind. Wenn man sie freilässt, wissen sie gar nichts mit ihrer neuen Freiheit anzufangen. Sie würden in der Wildbahn sogar sterben, haben kein Vertrauen zu sich selber ...

FD: Genau, und das hat mit dem Mut zum eigenen Vertrauen zu tun. Jetzt sprechen immer mehr Manager vom «Vertrauen zurückgewinnen», das aber ist eine abgedroschene Phrase. Sie sollten sich lieber ihr eigenes Selbstvertrauen für neue Pfade hervorholen, anstelle diese von den Mitarbeitern einzufordern, ohne zu zeigen, wie sie selbst einen 
neuen Weg der Führung gehen.

CV: Die Frage ist dann, wie und wo sich das Management eigentlich für diese neuen Wege auflädt. Mir erzählte kürzlich der CEO eines KMU in der IT-Branche, dass er als Zulieferer einen seiner Kunden damit überraschte, dass er sein Tool nicht an ihn verkaufen wollte, da dieser es in seiner Essenz nicht verstand. 
Daraufhin begannen Kunde und Zulieferer eine Diskussion über die Entscheidung dieses CEO, die als ungewöhnlich auffiel.

FD: Die Wirksamkeit in diesem Reflexionsgespräch lag sicher in dem Überraschungseffekt, dem der «König Kunde» wohl zuvor nie begegnet ist. Der CEO hat in dieser Situation volle Verantwortung für die Wirkung seines Produkts übernommen. Und das zeigt klar im Umkehrschluss: Wer ohne Verantwortung handelt, kann nicht wirkungsvoll handeln. Das Beispiel zeugt von einem Paradigmenwechsel: Beziehungen werden zu einer Art «neuen» Währung, die den eigentlichen Gewinn darstellt. Wirtschaftliche Erträge entstehen erst aufgrund dieser Beziehungen und sind somit automatisches Nebenprodukt, man könnte sogar von Abfallprodukten sprechen. Wir erleben gerade eine Zeit, wo das ökonomische Primat von Zahlung/Nichtzahlung von Gewinn/Verlust abgelöst wird durch ein neues Paradigma, nämlich In Beziehung sein/Nicht in Beziehung sein. Das Beispiel des CEO zeigt das im Übrigen sehr schön. Sein Nein führte nicht zu einem Kontaktverlust, zu einem Beziehungsabbruch, sondern zu einer Diskussion, deren Basis plötzlich so etwas wie eine Vorstufe von Vertrauen war. Es ging diesem CEO nicht einfach darum, nur ein schnödes und schnelles Geschäft zu machen, sondern tatsächlichen Sinn zu vermitteln. Gewonnen hat er eine Beziehung. Sein Handeln – und eben nicht das Sprechen darüber – hat überzeugt.

CV: Wirtschaftliche Erträge entstehen automatisch als Abfallprodukte? Das erinnert an die Art der Geschäftsbindungen, wie sie in China Standard sind. Chinesen investieren, sehr viel Zeit und Energie in Beziehungen, ohne den Ertrag in Zahlen voraussehen zu können. Besonders in Europa hingegen sind viele Manager süchtig nach Berechenbarkeit, und dieser Kennzahlenwahn wird immer noch an Universitäten wie der HSG gelehrt, während sich die Kaderschmieden an der Ostküste der USA schon länger über Paradigmenwechsel unserer Ökonomie Gedanken machen und ihren Curriculum bereits an neue Werteordnungen anpassen.

FD: Genau diesen Paradigmenwechsel versuchen wir in Bern voranzutreiben. Ähnlich wie den amerikanischen Kollegen geht es uns darum, ein Öffnen des Denkens und des Willens, beides Zeichen für Veränderungs- und Zukunftsfähigkeit, herzustellen.2 Ein wesentlicher Aspekt zur Einführung eines ersten Change-Prozesses ist, mit weniger Berechenbarkeit zu planen, sich den Mut zu nehmen, Konstruktionsprozesse zu beginnen, ohne das genaue Ergebnis zuvor zu kennen. Es geht also um eine Wirksamkeit des ökonomischen Handelns ohne messbare Kausalität, bei dem dennoch ein Mindestmass an Sicherheit und Berechenbarkeit für die Beteiligten geschaffen wird.

Zudem halte ich auch eine Entschleunigung für wichtig. Wer nicht innerhalb von 24 Stunden eine E-Mail beantwortet, gilt als langsam agierender Mensch. Immer weniger Leute nehmen sich direkt Zeit für persönliche Treffen, einfach um sich auszutauschen und ohne zielgerichtete Agenda. Entschleunigung heisst nicht Nichtstun, sondern sehr bewusste und wertschöpfende Reflexion. Das muss man lernen. Und auch das ist Pflege, nämlich seiner selbst.

CV: Stattdessen dopen sich aber viele auf die eine oder andere Weise, um von 7 Uhr morgens bis 22 Uhr durch ihren Arbeitstag zu eilen, der von zielorientierten Erwartungen geprägt ist. Und obwohl diese Arbeitstage bereits zum Teil 15 Stunden lang sind, findet man keine Zeit für Austausch über langfristige neue Ideen oder Gespräche zur Entwicklung von Beziehungen innerhalb oder ausserhalb von Unternehmen, und das in sich natürlich entwickelnden regelmässigen, spontanen Abständen. Da wird der Wahnsinn zum Charakteristikum der Pfadabhängigkeit – oder?

FD: Ja, das ist vergleichbar mit Patienten, denen man immer das gleiche Medikament verabreicht, das sie aber seit Jahren schon bekommen und ohne das sich eine Besserung einstellt. Die Handlungsfreiheit beschränkt sich nur mehr auf die Dosiserhöhung – aber auch diese führt zu nichts. Übertragen auf das Wohlergehen eines Unternehmens ist das fahrlässig und ein Versagen im Sinn einer langfristigen «Corporate Organizational Responsibility».

Frank E. P. Dievernich

Managementforscher, Business Coach, Unternehmensberater und Professor für Unternehmensführung am Kompetenzzentrum für Unternehmensführung der Berner Fachhochschule. Langjährige Management- und Beratungstätigkeit im breiten Themenfeld des Human-Resources- und Change-Managements. Zahlreiche Veröffentlichungen in den Forschungsschwerpunkten Management und Organisation. Kontakt: Frank.Dievernich@bfh.ch sowie www.dievernich.com

  • 1 
Frank E. P. Dievernich (2007): Pfadabhängigkeit im 
Management. Stuttgart: Kohlhammer Verlag
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Connie Voigt ist 
Executive Coach bei der Firma «Inside Out» sowie Gründerin der Netzwerkorganisation «Interculturalcenter.com GmbH». Zudem ist sie Dozentin für Organizational Behavior an der Edinburgh Business School, FHNW Basel und FU Berlin.

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