Karriere

Patchwork-Karrieren: Sich selbst immer wieder neu erfinden

Ausbildung, Erwerbsleben, Ruhestand. In dieser Reihenfolge und in ausgewogenem Verhältnis: Das war einmal. Die Normalbiografie hat mehr und mehr ausgedient. Nicht nur die Lust an Neuem, auch veränderte globalisierte Arbeitswelten erfordern von Arbeitskräften zunehmend Flexibilität und Eigenverantwortung. Beispiel einer Karriere im zweiten Anlauf.

Er könnte heute noch Regale im Supermarkt einräumen, wenn ihn nicht die Neugier getrieben hätte und die Gewissheit: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Georges Ulrich hat die obligatorische Sekundarschule besucht, mal mit mehr, meistens aber eher weniger Enthusiasmus. «Leistungssport war meine Welt», erklärt er. Nach der Schule war es zunächst wichtig, überhaupt eine Ausbildung zu beginnen. Was er machen wollte, wusste Ulrich nicht so genau. «Die Berufsberatung meinte, Verkäufer sei etwas für mich», erzählt er. Mit 16 begann er eine Lehre zum Verkäufer bei der Migros. Ein paar Jahre arbeitete er beim Detailhändler, übernahm aus Personalmangel auch Aufgaben eines Filialleiters. Das könnte heute noch so sein, wenn nicht ein Auslandaufenthalt ihn zum Umdenken gebracht hätte.

So mancher Lebenslauf widerspiegelt ganz unterschiedliche Phasen des Arbeitslebens, gespickt mit Branchensprüngen, Funktionswechseln, Aus- oder Weiterbildungszeiten, Arbeitslosigkeit. In Zukunft könnten Erfolgskriterien neu definiert werden, sind doch die geradlinigen und konventionellen Werdegänge kaum noch möglich. «Patchwork-Lebensläufe nehmen in der Tat zu», bestätigt Martina Rojano, HR-Managerin beim Arbeitsvermittler Randstad Schweiz. Sie rekrutiert die Personalberater in der Deutschschweiz. Angesichts der Wirtschaftskrise gebe es allerdings wieder häufiger Bewerber, die 1:1 zu den Anforderungen der Unternehmen passten. «Es kommt aber auch auf die Unternehmenskultur an, ob die Position an jemanden ohne Branchen- oder Berufserfahrung geht.»

Gestern Verkäufer, heute 
Verwaltungsrat

Mit 20 Jahren zog es Georges Ulrich mit ein paar Freunden in die Welt, gemeinsam bereisten sie monatelang mehrere Länder, lernten andere Kulturen kennen, andere Menschen. «Das hat meinen Horizont schlagartig erweitert», erinnert sich Ulrich. Er wollte nicht mehr nur ein kleines Rad sein, sondern selbst verstehen, wie das System funktioniert, und vor allem, warum es so funktioniert.

«Wir sehen, dass gerade junge Menschen nach dem Schulabschluss bis Mitte 20 oft orientierungslos sind, welchen Weg sie gehen sollen. Es komme daher häufig vor, dass der einmal eingeschlagene Weg nicht fortgesetzt wird», bestätigt Martina Rojano.

Ulrich kam 1992 zurück und tauchte zunächst in unterschiedliche Welten ein, führte Umfragen bei Marktforschungsinstituten durch und arbeitete bei der Post als Briefträger, verkaufte Schlüsselanhänger, arbeitete als Nachtwächter im Kino am See. Schlecht gelebt hat er damit nicht. «Mit vier bis fünf Jobs kamen da monatlich schon einige tausend Franken zusammen.» Doch war es klar, dass er immer nur unqualifizierte Jobs würde machen können. Ulrich wollte mehr, dachte sich: Was andere können, kann ich auch. Und er wusste: So komme ich nicht weiter. «Damals war der Stellenanzeiger so dick wie heute die ganze Zeitung», sagt der ehrgeizige Mann, der heute, mit 41 Jahren auf eine Traumkarriere zurückblickt, die von einem ganz frischen Doktortitel gekrönt wird. In einem Vorstellungsgespräch merkt man sehr schnell, ob ein Bewerber aus Lust oder Frust einen abenteuerlichen Lebenslauf hat, sagt HR-Managerin Rojano. Doch die Patchworker aus reiner Lust seien selten.

Der Lebenslauf als Eintrittskarte für das Vorstellungsgespräch

Nach ein paar Monaten ergab sich für Ulrich schliesslich die Möglichkeit, als Interviewer bei einem Forschungsinstitut erste Erfahrungen zu sammeln. Der Zufall wollte es, dass die Universität Bern für eine Nationalfonds-Studie einen Koordinator suchte. An diesem Punkt sattelte Ulrich komplett um, nicht frei von einigen Selbstzweifeln, aber stets von Neugier beflügelt. «Ich hatte das noch nie vorher gemacht, und es war wirklich an der Grenze dessen, was ich gerade noch verantworten konnte.» Vieles bringt Ulrich sich autodidaktisch bei, vor allem das umfangreiche Computerwissen. Für sein Engagement erntete er die Hochachtung des Chefs. Der gab ihm Anfang 1993 die Chance, sich als Leiter Zürich des GfS-Forschungsinstituts zu beweisen.

Im Januar 1994 startete Ulrich als Leiter Field Research durch und ihm wurde klar, dass sein Weg ohne Hochschulbildung bald zu Ende sein würde. Das war zur Zeit, als in der Schweiz die Fachhochschulen gegründet wurden, die Berufsmatura war noch sehr jung und Ulrich interessierte sich für die neuen Ausbildungswege. «Die Hürde zum Vordiplom zu nehmen, war die schwierigste Zeit», sagt Ulrich heute. Berufsbegleitend kämpfte er sich durch das Wirtschaftsstudium an der HWZ, Hochschule für Wirtschaft in Zürich. «Tagsüber habe ich gearbeitet, nachts gelernt.» Danach absolvierte er den MBA der University of Southern Queensland (USQ), Australien. «Eine international anerkannte Ausrichtung war nur die logische Konsequenz.» Von 2005 bis 2009 promovierte er im Bereich Stakeholder Management zum Thema «Repositioning of a Stakeholder Issue Applied at Pfizer Switzerland».

Die Zeit bei Migros möchte Ulrich trotz allem nicht missen. «Dort habe ich gelernt, wirklich zu arbeiten», sagt er. Für 2300 Franken im Monat lud er als 19-Jähriger morgens um 5 Uhr die Lastwagen ab, räumte die Regale ein, abends um 20 Uhr kontrollierte er noch die Kasse. Dass er seinen zweiten Berufsweg realisieren konnte, führt Ulrich auch auf sein stabiles Umfeld zurück. «Mir sind Schicksalsschläge erspart geblieben, die Familie war mir immer eine grosse Stütze.»

Heute ist Georges Ulrich CEO und Verwaltungsrat des Forschungsinstituts GfS-Befragungsdienst. Als Chef von rund 400 Mitarbeitern begutachtet er Bewerbungsunterlagen. «Ich bin kein guter Lebenslaufleser», sagt er hinsichtlich der Art und Weise der standardisierten Durchsicht. «Ich überlege mir immer, was hat ihn oder sie bewogen, das eine oder andere so oder so zu machen?» Doch letztlich sei der Lebenslauf das Eintrittsticket für ein Gespräch. Mit jemandem überhaupt sprechen zu können, sei heute sehr schwer geworden. Dementsprechend wichtig ist die Gestaltung des Lebenslaufes, damit erkennbar ist, ob Erfahrungen und Fähigkeiten systematisch auf- und ausgebaut wurden, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. «Wir mögen solche Lebensläufe», sagt Rojano. Sie zeigten Flexibilität, Engagement und Kampfgeist. Doch letztlich komme es immer darauf an, was der Kunde wolle. «Im Finanzsektor oder im kaufmännischen Bereich ist eher noch der geradlinige Weg gefragt: Einmal dabei, immer dabei.»

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