Arbeitsformen

Präsenz rund um die Uhr: 
Saisonarbeiter brauchen viel Führung

Ein Zirkus wie der Schweizer Nationalzirkus Knie ist auf ausländische Fachkräfte angewiesen. Auch wenn die meisten Saisonarbeiter aus Marokko und Polen jährlich wiederholt zusammen arbeiten, das Konfliktpotenzial bleibt. Wie VR-Präsident Franco Knie sein mobiles technisches Fachpersonal führt, erläuterte er HR Today.

Wenn auf relativ engem Raum miteinander gearbeitet wird, können sich Missverständnisse besonders ungünstig auf die Stimmung auswirken. Inwiefern sind diese interkulturell bedingt?

Franco Knie: Wir arbeiteten in der Saison 2008 mit 17 Nationalitäten, wovon einige Techniker sind. Die Hauptgruppe im technischen Bereich bilden Marokkaner und Polen. Zwischen ihnen entstehen aufgrund religiöser Unterschiede häufiger Konfliktsituationen. Die Gewohnheiten dieser Nationalitäten kann man beinahe als bipolar bezeichnen. Ein Beispiel: Wir haben Gemeinschaftsduschen. Die einen waschen sich im Rahmen ihrer Gebetsrituale über Stunden die Füsse. Sie besetzen ab und zu diese Duscheinrichtungen stundenlang, was zu Konflikten führen kann.

Wie lösen Sie diese Situation?

Wir führen im Vergleich zu anderen Dienstleistungsunternehmen überdurchschnittlich viele Personalgespräche. Der Vorteil beim Zirkus ist, dass wir auf allen Stufen immer vor Ort sind, wir sind Tag und Nacht für unsere Mitarbeitenden präsent. Das ist ein echter Vorteil in unserem Metier.

Es gibt wenige Verwaltungs- bzw. Aufsichtsräte, die in Person vor Ort operativ tätig sind …

Richtig, deshalb schaffen wir es auch, die Probleme immer in einem sehr frühen Stadium zu lösen. Wir schärfen unseren Mitarbeitern grundsätzlich den hohen Stellenwert von Toleranz im Miteinander ein. Ohne Toleranz für die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Religionen funktioniert die Zusammenarbeit nicht. Wir leben 24 Stunden am Tag auf engstem Raum zusammen.

Worum geht es bei den Konfliktlösungsgesprächen?

Bei den Gesprächen mit den Polen geht es tendenziell um Details, die mich zu Beginn der Zusammenarbeit teilweise an Gespräche mit Kindern erinnerten. Polnische Mitarbeiter können sich manchmal über Dinge aufregen, die ich persönlich als Halbschweizer, Halbitaliener nicht nachvollziehen kann, und gerade deshalb ist es umso wichtiger, dass ich trotzdem wie ein Mediator einschreite und schlichte. Wir können nicht von den Marokkanern erwarten, dass sie hier in Europa ihre Rituale ablegen, nur weil sie in unserer Spielsaison von März bis November in einem nicht islamisch geprägten Land arbeiten. Es ist meine Aufgabe, dies den Polen zu erklären.

Welche Gewohnheiten der Polen stossen bei den Marokkanern auf Unverständnis?

Es mag wie ein Klischee klingen, aber Polen trinken nun mal viel Wodka. Das tolerieren die Marokkaner nicht so leicht.

Kommen die Marokkaner mit diesen inneren Konflikten, die sie bekommen, wenn sie für ihre Begriffe Grenzüberschreitungen beobachten, explizit auf Sie zu?

Sie thematisieren nicht ihren inneren Konflikt. Sie beschweren sich über den nächtlichen Krach in den Wohnwagen. Wir leben wie in einem engen Wohnquartier, wo Rücksicht aufeinander genommen werden muss; nach Mitternacht muss Ruhe herrschen. Die Toleranz ist auch für mich in diesem Bereich manchmal gefordert. Andererseits sehe ich aber auch, wie hart alle arbeiten müssen und dass sie sich hin und wieder belohnen wollen, indem sie Feste feiern und im Hochsommer bis nach Mitternacht tanzen möchten. Dieses Bedürfnis, den Emotionen auch mal freien Lauf zu lassen, muss bei allen – trotz unterschiedlichen Religionen – respektiert werden.

Wer kocht bei Ihnen in der Kantine?

Wenn der marokkanische Koch im Dienst ist, hat niemand ein Problem und niemand fragt nach. Wenn der aber mal frei hat und der polnische Koch in der Küche steht,  fehlt das Vertrauen bei den Marokkanern, die auf die Fette und andere Zutaten achten, die eventuell vom Schwein stammen.

Wie gehen Sie mit diesem Misstrauen um?

Wir erinnern den polnischen Koch immer wieder daran, keinerlei Substanzen von  Schweinefleisch oder Alkohol zu nutzen. Er hält sich auch daran und wir als Management garantieren und bürgen für die Einhaltung dieser internen Gesetze. Und trotzdem bleibt bei manchen sehr streng gläubigen marokkanischen Mitarbeitenden immer wieder ein Hauch von Misstrauen, sie schauen dem Koch über die Schulter. Damit muss aber jeder Koch leben.

Das klingt wie eine notwendige dauerhafte Präsenz Ihrerseits …

Ja, man muss bei diesen kleinen Konflikten immer wieder da sein, damit sie sich nicht zu einem echten Problem entwickeln können. Ich bin in einer Regulationsfunktion, bei der ich aber auch schon hart durchgreifen musste. Wer klaut oder während des Dienstes Alkohol konsumiert, muss gehen. Auch Diebstahl ausserhalb des Betriebs in den Gaststädten oder in Einkaufszentren dulden wir nicht. Wir entlassen fristlos nach einmaligen Wiederholungen. Zu viel Toleranz des Managements würde kriminelle Aktivitäten belohnen.

Sind Ihnen auch schon Fälle entgangen?

Nein, bisher nicht, weil andere Kollegen das bei mir melden würden. Das Prinzip des Whistleblowing funktioniert in einem familiengeführten Betrieb sehr gut.

Was war die bisher grösste Herausforderung in Ihrer Führungsposition?

Es ist in unserem Geschäft immer hart, wenn ein neues Zelt in Betrieb genommen wird. Denn das bedeutet zusätzlich das Arrangement einer komplett neuen Bestuhlung und anderer neuer Materialien, die wir aber vor Saisonbeginn nicht probeweise aufbauen können. Damit dauert der jeweilige Auf- und Abbau länger, was bereits einmal eine fatale Kettenreaktion auslöste: Da der Zeitdruck aufgrund des festgelegten Spielplans nicht aufhört, sind die Nerven stark gefordert. Mein Job ist es dann vor allem, mit Geduld und Ruhe mit den Leuten zu reden, um ihre Moral aufrechtzuerhalten. Beim Abbau am späten Abend und beim sofortigen Neuaufbau am Vorabend in einer anderen Stadt wollten manche einmal kurz vor Vorstellungsbeginn aufgeben. Sie waren schlicht übermüdet. In dieser Gratwanderung, die eigene Geduld zu behalten und weiterhin den notwendigen Druck in akzeptablem Mass auszuüben, liegt die grosse Herausforderung. Essenziell dabei ist, selber mitzumachen und unterstützend sichtbar vor Ort zu sein.

Sie selber treten zweimal täglich in der Manege mit Elefanten auf. Fühlen sich die Mitarbeitenden unter Druck, wenn der oberste Chef immer präsent ist?

Nein, im Gegenteil. Die Mitarbeiter schätzen das. Wir sehen dann auch die positiven Leistungen und können sie loben. Ausserdem gehört es zur Geschichte und Tradition unseres Betriebs, dass die Familie in der Manege auftritt, auch wenn das viel Zeit von den Führungsaufgaben nimmt.

Wie viel Zeit wenden Sie für die Führung auf?

Man hat nie genug Zeit für die Führung. Jetzt verbringe ich schätzungsweise 70 Prozent meines Tages damit. Das finde ich zu wenig. Ideal wären 90 Prozent meiner Zeit.

Wie wollen Sie das ändern?

Mein Sohn Franco junior hat die Arbeit mit den Elefanten inzwischen sehr gut im Griff, sodass ich mit der Arbeit in der Manege kürzer treten kann.

Wie aufwendig ist die Führung international bzw. multikulturell geprägter Teams?

Jede Nationalität braucht einen anderen Führungsstil. So führen Schweizer beispielsweise Aufgaben am besten und liebsten in 
Eigenregie aus. Sie müssen deshalb nicht gross kontrolliert werden. Marokkaner hingegen benötigen exakte Anweisungen und Kontrolle. Polen lässt man mehr oder weniger selbständig arbeiten, weil sie sehr geschickt sind.

Wie viel mehr Zeit brauchen Sie, weil Sie multikulturelle Teams führen?

Ich vermute, ich bräuchte die Hälfte der Zeit, wenn ich nur Schweizer führen müsste, denn Mitdenken und Planen ist Teil ihrer Mentalität. Mit meinen gemischten Teams investiere ich viel Zeit in Sitzungen mit den Vorarbeitern, den Meistern, den Werkstattchefs, den Transportchefs, den Elektrikern und vielen anderen mehr. Die Logistik beansprucht zudem genaueste Abklärungen.

Welcher Führungsstil entspricht am ehesten Ihrer Persönlichkeit?

Am liebsten möchte ich Mitarbeitenden eine gewisse Verantwortung übergeben können, sodass sie mit mehr Gewissenhaftigkeit im eigenen Interesse arbeiten. Mit dem Anspruch dieser Eigenverantwortung würde sich auch jeder automatisch gleich behandelt fühlen, und das streben wir im Zirkus an. Jeder Techniker ist genauso wichtig wie jeder Künstler. Künstler leben per se in Eigenverantwortung, können aber nicht ohne Techniker auftreten. Die Tatsache machen wir dem technischen Personal auch immer wieder bewusst. Mit diesem Denken bringe ich alle im Zirkus dazu, selbstverantwortlich zu handeln.

Wie testen Sie bei Rekrutierungsgesprächen die Eigenverantwortung?

Das mache ich aus dem Bauchgefühl heraus. Ich rekrutiere Techniker in Polen und dort ist es dann kulturell bedingt eher schwierig, mit Intuition in die Leute hineinzusehen. Deshalb arbeiten wir in Warschau mit einer lokalen Rekrutierungsfirma.

Weshalb rekrutieren Sie dann in Polen?

Es ist sehr schwierig, hier im europäischen Raum Zeltbauer zu finden. Polen hatte jahrzehntelang einen Staatszirkus mit seinen spezialisierten Crews. Wir brauchen diese Facharbeiter. Das gilt übrigens auch für die Zirkusmusiker. Es hat deswegen bei uns Tradition, seit den sechziger Jahren Polen einzustellen.

Gilt das gleiche Prinzip für die Marokkaner?

Nein, die Marokkaner sind schon seit den fünfziger Jahren bei uns, da wir früher so genannte Völkershows aufführten. Die fanden nicht im Hauptzelt statt, sondern im kleinen Nebenzelt, in dem sie vorführten, wie sie nach marokkanischer Tradition Lederarbeiten fabrizieren. Schlangenbeschwörer waren auch dabei. Nachdem wir diese Sondershow einstellt hatten, blieben zunächst gerade mal zwei Handwerker bei uns. Die wiederum holten über die Jahre nach und nach Leute aus ihrem Dorf dazu, und seitdem kommt jeden März zu Saisonbeginn die zweite bis dritte Generation zu uns.

Passen sich diese neuen Generationen der Schweizer Mentalität an?

Da sie jeden November wieder nach Marokko zu ihren Familien zurückkehren und vier Monate später wiederkommen, bleiben sie einhundertprozentig Marokkaner, sie assimilieren sich nicht, weil ihr Hauptdomizil Marokko ist und bleibt. Sie werden auch weiterhin immer wieder den direktiven Führungsstil brauchen – eigenverantwortliches Arbeiten werden sie als Saisonarbeiter nicht lernen.

Werden Sie in Zukunft auch in anderen europäischen Ländern technisches Fachpersonal rekrutieren, wo es einen Staatszirkus gab?

Ja, in Rumänien würden wir uns gerne umschauen, aber dafür müssen wir in der Schweiz die Volksabstimmung zur EU-Erweiterung noch abwarten, die erst Saisonarbeitsaufenthalte in der Schweiz ermöglichen wird. Gleichzeitig wird die polnische Währung immer stärker, sodass es zusehends schwieriger wird, weiterhin gute Facharbeiter aus Polen in die Schweiz zu holen.

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Connie Voigt ist 
Executive Coach bei der Firma «Inside Out» sowie Gründerin der Netzwerkorganisation «Interculturalcenter.com GmbH». Zudem ist sie Dozentin für Organizational Behavior an der Edinburgh Business School, FHNW Basel und FU Berlin.

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