Psychische Probleme am Arbeitsplatz: Hier finden die Beteiligten Unterstützung
Wer sich ein Bein bricht und ins Krankenhaus muss, erzählt ungeniert davon. Psychische Erkrankungen sind allerdings noch immer ein Tabuthema. Oft holen sich die Betroffenen zu spät Unterstützung. Aber auch der Arbeitgeber sollte nicht zu lange warten: Verschiedene Organisationen, unter anderem die IV, helfen, für alle Beteiligten eine gute Lösung zu finden.
(Fotomontage: Ulrike Kobelius)
Die Zahl der aus psychischen Gründen invalidisierten Personen ist in der Schweiz in den letzten 20 Jahren sieben Mal stärker angestiegen als die Zahl aller anderen Rentenbezüger. Diese psychische Be- und Überlastung der Mitarbeitenden hat natürlich auch Folgen für das Unternehmen. Fehlzeiten, Leistungseinbussen, Fluktuationen – die negativen Auswirkungen gehen ins Geld. Wenn die Arbeitnehmenden allerdings ganz aus dem Arbeitsprozess fallen, wird es erst richtig teuer. Einerseits für die Unternehmen, welche neben dem Aufwand für Personalsuche und Einarbeitung auch mit steigenden Versicherungsprämien rechnen müssen, andererseits für die Gesamtgesellschaft, welche unter den stetig steigenden Sozialversicherungs- und Gesundheitskosten leidet.
In erster Linie ist der Verlust der Arbeitsstelle aber für die betroffene Person ein Tiefpunkt, welcher eine bereits vorher sehr schwierige Situation noch massiv verschlechtern kann.
Case Management (CM)
Methode, die bei der Wiedereingliederung von Mitarbeitenden im Betrieb häufig zur Anwendung kommt. Bei diesem auf Unterstützung, Koordination und Kooperation angelegten
Prozess sind regelmässig mehrere Partner
involviert.
CM strebt die Überwindung von Grenzen von Organisationen und Professionen an. Dazu wird ein zielgerichteter Beratungs- und Unterstützungsprozess eingeleitet, bei dem ein Einzelner (Case Manager) über den gesamten Beratungsverlauf hinweg die Verantwortung für die Koordination der Leistungserbringung übernimmt, um die im Voraus von allen Beteiligten definierten Ziele effizient und effektiv zu erreichen. Case Management zeichnet sich durch eine ressourcenorientierte Haltung gegenüber den betroffenen Personen aus. Deren Autonomie wird respektiert und sie werden in der Entfaltung des eigenen Potenzials unterstützt (Empowerment). Anbieter von Case Management: www.netzwerk-cm.ch
Welche Anzeichen deuten auf eine psychische Erkrankung hin?
Um zu verhindern, dass Mitarbeitende aus psychischen Gründen aus dem Arbeitsprozess fallen, ist es wichtig, Anzeichen früh zu erkennen und rechtzeitig Massnahmen einzuleiten.
Hier liegt jedoch die Schwierigkeit: Häufig werden Anzeichen im betrieblichen Alltag nicht wahrgenommen oder erst dann, wenn bereits körperliche Symptome auftauchen. Denn einerseits können psychische Erkrankungen selten auf ein spezifisches Ereignis zurückgeführt werden, andererseits unterliegen psychische Belastungen subjektiven Bewertungen und sind deshalb schwer einzuschätzen. Dies gilt sowohl für die Vorgesetzten als auch für die Kollegen und nicht zuletzt für die betroffene Person selber. Dazu kommen Vorurteile, Unwissenheit und diffuse Ängste gegenüber psychischen Problemen, was zu einer gewissen Stigmatisierung führt. Jeder Arbeitnehmer, der krankheitsbedingt im Spital war, wird dies seinen Kollegen mitteilen, doch nur wenige würden ihren Kollegen von einem Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik erzählen.
Was also müssen Personalverantwortliche oder Vorgesetzte beachten? Wie kann man mögliche Anzeichen drohender psychischer Beeinträchtigung erkennen? Führungskräfte sind keine Therapeuten, sie können und sollen deshalb keine Diagnosen stellen. Vielmehr geht es darum, ein gewisses Sensorium zu entwickeln, um potenzielle Merkmale psychischer Erkrankungen zu erkennen. So kann es ein Alarmzeichen sein, wenn jemand seine Gewohnheiten oder Verhaltensweisen in einer für Aussenstehende unerklärbaren Form verändert. Unter anderem können folgende Merkmale auf psychische Probleme hindeuten:
- Sozialer Rückzug und Scheu vor Kontakt
- Übersteigertes Redebedürfnis bis hin zu Selbstgesprächen
- Übersteigertes Bedürfnis, alltägliche Verrichtungen immer wieder zu wiederholen
- Gefühlsausbrüche, unkontrolliertes disziplinloses Verhalten
- Aussergewöhnliche Unruhe, Ruhelosigkeit, Angespanntheit (zum Beispiel Händezittern, Schweissausbrüche)
- Äusserungen von Angstgefühlen oder von Lebensüberdruss
- Vernachlässigung oder übertriebene Pflege der äusseren Erscheinung (Sauberkeit/Kleidung)
- Stark veränderte Essgewohnheiten
- Abnehmende Arbeitsleistung, zunehmende Fehlerhäufigkeit
- Viele Aufgaben werden begonnen, aber nicht zu Ende gebracht
- Häufung von Kurzerkrankungen/Fehltagen
Vorgesetzte sollten solche Anzeichen ernst nehmen und das Gespräch mit dem betroffenen Mitarbeitenden suchen. Wichtig ist auch, die eigenen Führungsmöglichkeiten realistisch einzuschätzen und rechtzeitig Hilfe anzufordern, wenn man ein ungutes Gefühl hat.
Informationsportal für Arbeitgeber
Das Internetportal www.compasso.ch ist eine schweizweite Informationsplattform für Arbeitgeber. Sie stellt die relevanten Informationen zum Thema «Berufliche Eingliederung» von Arbeitnehmenden mit gesundheitlicher Beeinträchtigung gebündelt zur Verfügung. Zu den beiden Bereichen «Bestehende Arbeitsverhältnisse» und «Neueinstellungen» gibt das Informationsportal den Arbeitgebern Handlungsanleitungen für unterschiedliche betriebliche Situationen, stellt ihnen Hilfsmittel zur Verfügung, liefert einen Überblick über die wichtigsten Unterstützungsangebote und vermittelt Kontaktadressen. Die Website bietet auch Hintergrundinformationen zu den möglichen Ursachen von Behinderungen und beschreibt die wichtigsten Behinderungsformen und Krankheitsbilder. Fallbeispiele aus der ganzen Schweiz zeigen ganz konkret, wie berufliche Eingliederung gelingen kann. Compasso.ch wird von einemn Verein getragen, in welchem die relevanten Akteure der Schweiz Einsitz nehmen: Der Schweizerische Arbeitgeberverband, private Versicherungsgesellschaften, Behindertendachorganisationen, die IV sowie Arbeitgeber aus verschiedenen Branchen.
IV: Der Fokus liegt auf der Früherfassung und Frühintervention
Vor allem grössere Unternehmen verfügen in der Regel über eine interne Sozialberatungsstelle oder haben in der eigenen Personalabteilung ein professionelles Case Management (siehe Kasten) institutionalisiert. Diese internen Fachleute unterstützen sowohl die Vorgesetzten wie auch die Mitarbeitenden in heiklen Situationen und organisieren die nötigen Kontakte zu Ärzten, Versicherungen, Beratungsstellen oder weiteren Involvierten. Wenn diese interne Unterstützung fehlt, können und sollen Vorgesetzte externe Hilfe in Anspruch nehmen.
So bietet beispielsweise die Invalidenversicherung (IV) spezifische Unterstützung für Arbeitgeber an, einige IV-Stellen verfügen über eine telefonische Arbeitgeber-Hotline. Mit der 5. IV-Revision wurden zudem neue Instrumente eingeführt: Durch Früherfassung und Frühintervention soll verhindert werden, dass erkrankte oder verunfallte Mitarbeitende ihre Stelle verlieren. Sobald im Wissen des Mitarbeitenden eine Meldung bei der IV-Stelle seines Wohnkantons erfolgt ist, kann die IV nach einer Frühabklärung helfen und in Beratungsgesprächen mit der betroffenen Person und ihrem Umfeld einen nachhaltigen und verbindlichen Eingliederungsplan aufstellen. Vorgesetzte erhalten bei der IV-Stelle eine direkte Ansprechperson und werden laufend informiert und aktiv in den Eingliederungsprozess einbezogen. Die Meldung zur Früherfassung durch den Arbeitgeber und die Zusammenarbeit mit der IV-Stelle haben keinen Einfluss auf das bestehende Arbeitsverhältnis (beispielsweise bezüglich Kündigungsrecht des Arbeitgebers).
Eine Lösung soll für den Arbeitgeber und den Mitarbeitenden stimmen
Nach einer Analyse der Situation werden verschiedene Massnahmen geprüft, welche ermöglichen sollen, dass die betroffene Person weiterhin im Unternehmen arbeiten kann. In Frage kommen zum Beispiel eine Umplatzierung im Unternehmen, eine Umschulung oder die Anpassung des Arbeitspensums. Um das Unternehmen finanziell zu entlasten, kann die IV-Stelle dem Arbeitgeber finanzielle Beiträge für die Massnahmen in seinem Betrieb bezahlen und während maximal eines halben Jahres einen Einarbeitungszuschuss ausrichten, wenn der Mitarbeitende vorübergehend nicht voll leistungsfähig ist.
Aus- und Weiterbildungen
Für Betriebe, die mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert werden oder sich vertiefter mit diesem Thema auseinandersetzen möchten, gibt es an den meisten Schweizer Fachhochschulen ein- bis mehrtägige Kurse oder auch ganze Studiengänge, welche sich mit dem Thema der beruflichen (Wieder-)Eingliederung auseinandersetzen. Die Studierenden können Zertifikate oder Diplome in Case Management, Care Management, Supported Employment, Disability Management oder Job Coaching erwerben. Übersicht unter: www.compasso.ch/de/p90000127.html
Zudem erhält der Arbeitgeber Entschädigungen für allfällige Prämien- und Beitragserhöhungen, wenn der Mitarbeitende in den ersten zwei Jahren wegen der bereits bestehenden Krankheit erneut ausfällt. Bei Bedarf können die betroffene Person sowie die Vorgesetzten durch einen Coach betreut werden. Dieser erarbeitet zum Beispiel mit den Beteiligten ein spezifisches Fähigkeitsprofil, prüft die Anforderungen des Arbeitsplatzes, steht Vorgesetzten und Kollegen durch fachliche Beratung zur Seite und interveniert bei allfälligen Krisen rasch und professionell. Oft arbeitet die IV-Stelle dafür auch mit spezialisierten privaten Organisationen zusammen, welche sich seit 2008 im nationalen Dachverband Supported Employment Schweiz organisieren (www.supportedemployment-schweiz.ch).
Auch Case Management wird häufig durch private Organisationen angeboten (vgl. www.netzwerk-cm.ch). Die privaten Anbieter, welche Vorgesetzte und Betroffene im (Wieder-)Eingliederungsprozess professionell unterstützen, können auch durch den Arbeitgeber direkt beauftragt werden. Dabei empfiehlt es sich jedoch, die Kostenübernahme zu Beginn des Prozesses zu klären. Betriebe, welche eine Krankentaggeld-Versicherung abgeschlossen haben, können sich bei ihrem Versicherer nach einem allfälligen Unterstützungsangebot erkundigen.
Ansonsten sollten sich die Arbeitgeber mit Fragen betreffend Kostenübernahmen an die IV-Stelle ihres Kantons wenden. Das Ziel ist eine Lösung, die sowohl für den Arbeitgeber als auch den betroffenen Mitarbeitenden stimmt. Kann ein Arbeitnehmender im Betrieb bleiben, bleibt in erster Linie sein Know-how für die Firma erhalten. Aber auch die anderen Mitarbeitenden fühlen sich sicherer, was die Arbeitsmotivation und die Verbundenheit mit der Firma erhöht. Denn niemand kann ausschliessen, selbst einmal von Krankheit, Unfall oder persönlichen Schicksalsschlägen betroffen zu sein.
«Eine Krankheit oder ein Unfall ist für uns kein Grund, ein Arbeitsverhältnis aufzulösen»
Seit 2006 schreinert Herr R. bei der Wenger Fenster AG in Wimmis BE. Ein eher ruhiger Mann, der besonders zuverlässig arbeitet. Im Winter 2008 fällt Herrn Linder, dem Produktionsleiter, bei der Kontrolle der Zeitabrechnung auf, dass Herr R. ein paarmal zu spät oder gar nicht zur Arbeit gekommen ist – ohne dass er sich bei ihm, seinem Vorgesetzten, gemeldet hätte. Darauf angesprochen, hat Herr R. gesagt, er habe verschlafen. «Zwei Tage später hat Herr R. mir in meinem Büro präzisiert, er habe nicht verschlafen, sondern einfach nicht aufstehen können. Ein starker innerer Widerstand habe ihn daran gehindert.» Daraufhin setzt sich Herr Linder gemeinsam mit Herrn R. und Frau Wenger, der Personalverantwortlichen, zusammen und analysiert die Situation. «Dort hat sich herausgestellt, dass es Herrn R. über Weihnachten und Neujahr nicht gut gegangen ist und er danach immer schwerere psychische Probleme bekommen hat. Dazu hat Herr R. uns informiert, dass er gerade seine Medikamente umstelle, die er regelmässig einnehmen müsse.» Letztlich hat sich gezeigt, dass ihm das Arbeitspensum von 90 Prozent zu viel war. Im Herbst herrscht Hochbetrieb, da sind Zehn-Stunden-Tage keine Seltenheit. Da Herr R. aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung bereits früher eine IV-Rente bezogen hatte, beschloss er, sich dort wieder zu melden, um ein verkürztes IV-Verfahren zu beantragen. «Wir haben uns im Vorfeld auf das Ziel geeinigt, dass er nur noch 50 Prozent arbeitet und die IV ihm eine 50-prozentige Rente zusprechen soll. Richtig vorwärts ging es aber erst, als Frau Wenger nochmals mit einer IV-Stelle Kontakt aufnahm. Dann bekamen wir umgehend die nötige Unterstützung, damit das Ziel des 50-Prozent-Arbeitspensum umgesetzt werden konnte.» «Eine Krankheit oder ein Unfall ist für uns kein Grund, ein Arbeitsverhältnis aufzulösen», so Linder. «Wenn man von den Versicherern einen persönlichen Ansprechpartner und unkomplizierte Unterstützung erhält, gelingt es, einen Arbeitsplatz zu erhalten, auch wenn es, zugegeben, administrativ etwas mehr zu tun gibt. Wir sind froh, dass wir Herrn R. bei uns behalten konnten. Er kommt heute jeden Morgen zwischen sieben und halb acht Uhr ins Geschäft und arbeitet bis am Mittag in verschiedenen Abteilungen. Er arbeitet speditiv. Unsere Abmachung ist, dass er sich per SMS oder telefonisch bei mir meldet, wenn etwas ist. Mehr als zweimal pro Monat kommt das aber nicht vor, meistens überhaupt nicht.»