Je garstiger das Umfeld in der Schweiz für Unternehmen jedoch wird, desto weniger werden insbesondere die grösseren und international mobilen Firmen hierzulande investieren. Die Rechnung bezahlen nicht deren CEOs, die sich zusammen mit ihrer Firma woanders niederlassen können, sondern die Schweizer Wohnbevölkerung, deren Jobs verloren gehen.
Bislang erzielte die Schweiz Bestnoten
Das Markttreiben ganz sich selber zu überlassen, hat einen gewissen Preis. Das ist bekannt. Der Kapitalismus hat nicht nur ein Schönwettergesicht. Er hat auch eine hässliche Fratze. Doch die Schweiz ist kein erzliberales Land. Wir kennen zahlreiche Sicherheitsnetze, die die Bürgerinnen und Bürger davor schützen, in die Armut zu fallen:
- Die Arbeitslosenversicherung gewährt 70–80 % des bisherigen Lohnes während eineinhalb Jahren.
- Sollte das nicht reichen, springt die Sozialhilfe ein – allerdings mit einem tieferen Beitrag, um die Erwerbsaufnahme attraktiv zu halten.
- Die Invalidenversicherung gewährt ein Einkommen für Menschen, die aus Krankheitsgründen nicht (voll) am Erwerbsprozess teilnehmen können.
- Die AHV und die Pensionskasse führen das Erwerbseinkommen zu rund 60 % nach der Pensionierung fort.
- Die 3. Säule dient als «Zustupf» zu diesen 60 % und erlaubt es, während der Erwerbstätigkeit steuerfrei zu sparen.
- Zahlreiche Gesamtarbeitsverträge mit branchenspezifischen Mindestlöhnen sichern die tiefsten Löhne gegen wettbewerbliches Dumping ab.
- Die flankierenden Massnahmen schützen die tiefen Löhne vor Dumping aus dem Ausland.
- Mit spezifischen Sozialtransfers unterstützt der Staat Menschen mit tiefen Einkommen – beispielsweise mit Prämienverbilligungen oder vergünstigten Krippenplätzen.
Das Ergebnis des liberalen, aber eben nicht erzkapitalistischen Systems Schweiz ist bestechend:
- Die Erwerbslosigkeit liegt bei 4,3 %. In der EU beträgt sie mit 10,6 % das Zweieinhalbfache.(3)
- Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 8,5 %.(4) In der EU sind 23,5 % Jugendliche arbeitslos.(5)
- Zwei Drittel der Arbeitslosen finden innert sechs Monaten eine neue Arbeitsstelle. Nur 15 % sind länger als ein Jahr arbeitslos.
- Das BIP pro Kopf beträgt Fr. 74 900 pro Jahr. In der EU liegt es mit Fr. 30 900 nicht einmal bei der Hälfte. In Deutschland beträgt das BIP pro Kopf Fr. 39 500 und in den USA Fr. 48 600. (Grafik 3)
- In kaum einem Land der Welt werden höhere Löhne ausbezahlt.
- Die Lohnungleichheit ist in der Schweiz im internationalen Vergleich gering.(6)
Warum sollen wir dieses Erfolgsmodell aufs Spiel setzen? Die nächste Attacke folgt am 18. Mai mit der Mindestlohn-Initiative. Sie fordert einen schweizweiten Mindestlohn von 4000 Franken. Bei 4000 Franken liegt die sogenannte Tieflohnschwelle, das heisst 67 % des Medianlohns. Die Annahme eines schweizweit gültigen Mindestlohnes von 4000 Franken wäre für unser Erfolgsmodell fatal:
Der gesetzliche Mindestlohn: ungehobelt und gefährlich
Der vorgeschlagene Mindestlohn ist höchst undifferenziert, da die 4000 Franken für sämtliche Branchen und Regionen gälte. Die regionalen Lohnniveaus sind in der Schweiz aber zu unterschiedlich. Noch markanter sind die Lohnunterschiede nach Branche. Etliche Branchen – wie der Handel, Verkehr und Lagerei sowie die Forstwirtschaft – müssten bei der Einführung eines Mindestlohnes von 4000 Franken zehn Prozent ihrer Belegschaft auf einen Schlag mehr Lohn zahlen. Andere Branchen – darunter das Gastgewerbe und die persönlichen Dienstleistungen (Coiffeursalons, Wäschereien etc.) – müssten gar über ein Viertel der Arbeitsverhältnisse korrigieren.(7) Das ist betriebswirtschaftlicher Wahnsinn und würde in diesen Branchen viele Jobs kosten.
Darum gibt es in der Schweiz 614 regionale und branchenspezifische oder firmenbezogene Gesamtarbeitsverträge.(8) Sie sind ein viel adäquateres Instrument für den Schutz der Arbeitnehmerschaft als ein nationaler Mindestlohn. Die Gewerkschaften sind Partner dieser Gesamtarbeitsverträge. Und so treiben sie als Initianten der Mindestlohn-Initiative ein heuchlerisches Doppelspiel. In ihrem Wortlaut gibt die Initiative zwar vor, die gesamtarbeitsvertraglichen Mindestlöhne fördern zu wollen. Gleichzeitig hält die Initiative aber auch fest, dass der neue, gesetzliche Mindestlohn für alle Arbeitnehmenden als zwingende Lohnuntergrenze gelten soll. Was also geschähe bei einer Annahme der Initiative mit Gesamtarbeitsverträgen, die heute Mindestlöhne unter den geforderten Fr. 4000 kennen? Dazu gehören die zwei grössten Gesamtarbeitsverträge – jener für das Gastgewerbe mit 220 000 unterstellten Arbeitnehmenden und jener für Temporärarbeitende mit 270 000 Unterstellten.(9)
Die tiefsten Mindestlöhne (für Ungelernte) liegen in diesen Verträgen heute bei Fr. 3407 bzw. Fr. 3000. Diese müssten bei Annahme der Initiative also um bis zu 33 % angehoben werden. Dass dies erfolgen könnte, ohne dass dabei Stellen verloren gehen, ist illusorisch.
In der Temporärbranche gibt es spezifische Gründe für diese tiefen Mindestlöhne. Erstens beschäftigen Temporärfirmen viele Berufseinsteiger und zweitens finden in der Temporärbranche auch etliche Menschen eine Arbeitsstelle, die sich für eine Feststelle (noch) nicht qualifizieren. Der Durchschnittslohn für Temporärarbeitende liegt dagegen bei Fr. 4600 zuzüglich eines dreizehnten Monatslohns. Dies zeigt exemplarisch, dass der Arbeitsmarkt ein Markt ist, der differenziert. Diese Selbstregulierung zu unterbinden, ist ein Spiel mit dem Feuer.
Ein nationaler Mindestlohn hilft nicht gegen Armut
Ein gesetzlicher Mindestlohn träfe die Falschen – nicht bloss, weil er bestehende Arbeitsplätze gefährdet und die Entstehung neuer bremst. Auch gegen Armut könnte der Mindestlohn nur wenig ausrichten.
In der Schweiz sind 120 000 Personen trotz Erwerbstätigkeit arm.(10) Brächte ein Mindestlohn ihnen Besserung? Die Antwort ist eindeutig: nur in Einzelfällen. Gemäss einer Studie des Bundesamts für Statistik(11) beziehen nämlich zwei Drittel der Working Poor einen Lohn über der Tieflohnschwelle. Sie sind dennoch arm, weil sie Lebenshaltungskosten haben, die über ihrem Einkommen liegen, oder weil sie ohne Zweitverdiener im Haushalt auskommen müssen. Ihnen wäre mit dem neuen Mindestlohn nicht geholfen.
Andererseits gelten nur 13 % der rund 400 000 Tieflohnbezüger10 als Working Poor. Die anderen 87 % sind nicht von Armut betroffen.11 Sie erzielen zwar ein bescheidenes Arbeitseinkommen, haben aber Lebenshaltungskosten, die durch diesen Lohn gedeckt werden. Das gilt z. B. für junge Menschen, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben. Oder für Menschen, die mit einer berufstätigen Person zusammenleben, mit deren Zweiteinkommen sie den gemeinsamen Lebensunterhalt bestreiten. Zudem erhalten Personen mit niedrigen Löhnen zusätzlich zum Einkommen Sozialtransfers wie z. B. Prämienverbilligungen für die Krankenkasse.
Dass zwischen dem Lohn einer Person und ihrem Armutsrisiko nur ein loser Zusammenhang besteht, hat mit dem System zu tun, das die Schweiz für die Armutsverhütung gewählt hat. Der Einkommensausgleich erfolgt über die Umverteilungspolitik – namentlich über das progressiv ausgestaltete Steuersystem und fallspezifische Sozialtransfers wie z. B. subventionierte Kinderbetreuung. Der Einkommensausgleich wurde bislang nicht über Eingriffe in den Lohnbildungsprozess gesteuert. Das hat den grossen Vorteil, dass damit keine Jobs aufs Spiel gesetzt werden.
Wer einen tiefen Lohn bezieht und gleichzeitig zu den Working Poor zählt, hat häufig keine nachobligatorische Ausbildung. Die Hauptursache für diese Form der Armut liegt im Strukturwandel, namentlich der Globalisierung der Märkte und dem technologischen Fortschritt. Beides hat dazu geführt, dass die Qualifikationsanforderungen gestiegen sind. Ein gesetzlicher Mindestlohn kann diesen Trend nicht rückgängig machen. Die Lösung dürfte viel eher in der beruflichen (Weiter-) Bildungsförderung liegen.
Nein zur Mindestlohn-Initiative
Die Masseneinwanderungs-Initiative hat unsere Wirtschaft stark getroffen. Wir müssen aufhören, unsere Standortvorteile Schritt für Schritt zu demontieren. Und wir sollten unsere funktionstüchtige Arbeitsmarktpolitik nicht aufs Spiel setzen. Daher ein Nein zur Mindestlohn-Initiative! Sie schwächt die Wirtschaft und gefährdet Arbeitsplätze.